Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

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46.

Jeremias Bentham. Benthams individualistischer Utilitarismus. Der Utilitarismus in der deutschen Philosophie. Die englische Gefühlsmoral und die Ethik. Praktische Bedeutung des Benthamismus. Der Utilitarismus als universelle Moral.

Aus der klassischen auf den reinen Egoismus gegründeten Ethik des menschlichen Verkehrs und der Motive des praktischen menschlichen Handelns von Adam Smith und seinen Nachfolgern ist als letztes Erzeugnis dieser Ethik diejenige hervorgegangen, die sich wohl als die den heutigen Standpunkt der individualistischen Ethik am treuesten widerspiegelnde Phase dieser Entwicklung betrachten läßt: die Moralphilosophie Jeremias Benthams. Sie ist von einem Nachfolger Benthams, von John Stuart Mill, zuerst als die Ethik des Utilitarismus oder der Nützlichkeitsmoral bezeichnet worden. Ihr ethisches Grundprinzip lautet: handle so, daß die Maxime deines Handelns darauf gerichtet ist, möglichst viel Glück hervorzubringen. Das ist das berühmte Prinzip der »Maximation der Glückseligkeit«, und es soll in dem Grundsatz aller Gesetzgebung seine Wurzel haben, nach welchem dieses Streben nicht darin bestehe, daß das Glück nicht bloß für ein einzelnes Individuum und nicht einmal für einen beschränkten Teil der Menschheit, sondern in seiner Ausdehnung auf die Gesamtheit der Menschen, gleichgültig welcher Kultur und welcher Nation sie angehören, Geltung besitze. Seine Beleuchtung empfängt dieses Gesetz durch zwei weitere Voraussetzungen, die in den spezifisch ethisch gerichteten Schriften Benthams ausdrücklich betont sind: erstens darin, daß unter der Gesamtheit der Menschen im Anschluß an die englische Glückseligkeitsmoral lediglich die Summe aller einzelnen Menschen zu verstehen ist, und zweitens darin, daß das Einzelglück immer als ein sinnliches, also durch materielle Hilfsmittel zu erreichendes Gut anerkannt wird, weil andere Güter jedenfalls in Leben und Verkehr und so vor allem auch in der für die Menschheit gültigen allgemeinsten Gesetzgebung nicht in Betracht kommen. Bentham hat dieser Voraussetzung einen entscheidenden Ausdruck gegeben, indem er in einer seiner ethischen Hauptschriften ein Hilfsprinzip aufstellte, das insbesondere für alles äußere Handeln maßgebend sein soll. Dieses Hilfsprinzip besteht darin, daß das allgemeinste Maß des Glücks, das wir uns selbst oder einem andern verschaffen können, in dem Geldwert bestehe, durch welchen dasselbe erworben oder ersetzt werden könne. Dies schließe daher als letzte Folgerung insbesondere für den Gesetzgeber die ein, daß diejenige Gesellschaftsordnung die beste sei, welche auf die möglichste Gleichheit des Besitzes aller einzelnen ausgehe. Freilich gilt das immerhin nur als ein ideales, höchstens annähernd zu erreichendes Ziel, weil seine wirkliche Erreichung im buchstäblichen Sinne mit dem allgemeinen Friedenszustand der Gesellschaft, der hierbei wegen der natürlichen Konkurrenz der einzelnen in Gefahr geraten würde, nicht erreichbar sei, wenn auch so weit als immer möglich erstrebt werden müsse.

Für die tatsächliche Bedeutung, welche das Bentham'sche Moralprinzip in der heutigen Gesellschaft behauptet, ist es nun im höchsten Grade bemerkenswert, daß ein deutscher Philosoph im Laufe des letzten Krieges den Mut gefunden hat, nicht nur die Bentham'sche Schrift über die Grundsätze eines künftigen Völkerrechts, die sich auf diese Moral in den übrigen Schriften des hervorragenden englischen Juristen stützt, zu veröffentlichen, sondern auch zu behaupten, daß sie an theoretischem wie praktischem Wert der Moral Kant's eigentlich überlegen sei, weil Bentham alle Menschen, nicht bloß den einzelnen, der in seinem Gewissen und allenfalls noch in der Religion, zu der er sich bekennt, das Regulativ seines Handelns finde, als die Träger einer objektiven Sittlichkeit betrachtet. (Oskar Kraus, Jeremy Benthams Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden, 1915.) Die deutsche Philosophie hat mit dieser Verbeugung vor dem englischen Utilitarismus, mit der sie dessen Superiorität über die deutsche Wissenschaft anerkennt, eigentlich schon vorausgenommen, was die Waffenstillstands- und Friedensverträge unserer Regierungen in die Tat umgesetzt haben, indem sie unbedingt die Maximen, welche die Völker der Entente, bei denen man in der Wirklichkeit die Prinzipien der Bentham'schen Moral und Gesetzgebung als die herrschenden betrachten darf, auch uns Deutschen gegenüber als selbstverständliche, auch für uns gültige anerkennt.

Daß die Moral Benthams in ihren praktischen Folgerungen, vor allem aber in dieser materialistischen Begründung ein krasser Widerspruch gegen jede ernste sittliche Anschauung ist, hat niemand energischer betont als ein Landsmann Benthams: Thomas Carlyle. Seine Stimme ist aber ungehört verhallt, und wenn Carlyle in dem deutschen Geist die Hilfe gesucht hat, die ihm als das geeignete Gegengift gegen die landläufige Herrschaft des Utilitarismus erschien, so hat er sich darin nicht nur im Hinblick auf seine Nation in einem schweren Irrtum befunden. Die Sklaverei, in die sich die deutsche Kultur in der Wertschätzung der wahren Güter des Lebens gegenüber der in ihrer Wurzel egoistischen und im besten Falle unbeschränkt individualistischen Philosophie begeben, hat lange zuvor schon in Deutschland in der weiten Verbreitung des Utilitarismus ihren Ausdruck gefunden. Besonders ist das in der Form geschehen, in welcher dieser bei uns eingeführt wurde und in der er schon in England eine Kompensation seiner materialistischen Folgerungen zu gewinnen versucht hatte. Dies ist vor allem dadurch vermittelt worden, daß der Schriftsteller, der dem Utilitarismus seinen Namen gegeben, John Stuart Mill, ihn ergänzen zu können meinte, indem er neben den nach Geldwerten zu schätzenden Lebensgütern auch solche als zulässig bezeichnete, für die, weil sie rein geistige Güter seien, dies nicht zutreffe. In dieser nachträglichen Kompensation wiederholt sich aber nur dieselbe Erscheinung, die uns schon in der schottischen Philosophie entgegengetreten ist. Wie bei Adam Smith das Sympathiegefühl ein für sich bestehendes Motiv blieb, das auf die praktischen Folgerungen seines Systems des egoistischen Wirtschaftslebens gar keinen Einfluß ausübte, so herrscht überall da, wo im praktischen Leben der Utilitarismus zur Geltung gelangt ist, in Wahrheit dieser in der ursprünglichen Bentham'schen Form. Daß sich darin die deutschen Philosophen, die für die Verbreitung des Utilitarismus eingetreten sind, einer Selbsttäuschung hingaben, wird schwerlich zu bezweifeln sein. Aber ebensowenig wird sich bestreiten lassen, daß in der Wirkung auf die allgemeinverbreiteten sittlichen Anschauungen überall, auch bei uns, schließlich doch nur die materialistischen Grundanschauungen, wie sie in ihren von diesen nachträglichen Zugaben unabhängigen Sätzen Bentham formuliert hat, übrig geblieben sind.

Daß auch Bentham, obgleich er sich ausdrücklich in seinem System der Glücksgüter auf die materiellen Werte beschränkt, nach einer gewissen Kompensation gesucht hat, wird sich übrigens nicht bestreiten lassen. Nur ist diese freilich noch ungenügender als die durch Mill eingeführte der nebenhergehenden geistigen Werte. Sie besteht nämlich darin, daß er nachdrücklich die objektive Allgemeingültigkeit der womöglich durch die Gesetzgebung herzustellenden Gleichheit der Güter oder mindestens des Rechtes auf dieselben betont. Nicht bloß die eigene Nation in allen ihren Mitgliedern, unabhängig von der Stellung der letzteren innerhalb dieser nationalen Kultur, soll an den Gütern derselben teilnehmen, sondern nach dem Prinzip der gerechten Verteilung sollen irgendwelche Grenzen zwischen den verschiedenen Völkern der Erde überhaupt nicht gezogen werden. Wenn sich gegen Mills Kompensation durch die jedem freistehende subjektive Teilnahme an den geistigen Gütern des Lebens einwenden läßt, daß sie auf subjektive Gefühlswerte beschränkt bleibt, die außerhalb der Motive des praktischen Handelns stehen, so ist es nun aber augenscheinlich, daß diese Bentham'sche Kompensation einer etwaigen tatsächlichen Einschränkung auf einzelne Menschen oder Völker durch die prinzipielle Ausdehnung auf die gesamte Menschheit nicht ernsthaft gemeint sein kann, weil eine solche Erweiterung nicht nur praktisch unmöglich ist, sondern auch mit der Wirklichkeit der menschlichen Kultur und ihrer Anforderungen im Widerspruch steht. Zu behaupten, daß der primitive Mensch, der von den Gütern der Kultur überhaupt keine Vorstellung besitzt, oder auch daß ein nur in einzelnen beschränkten Gebieten allenfalls an ihnen teilnehmender barbarischer Volksstamm vor dem Forum der Gerechtigkeit als völlig gleichstehend den Kulturmenschen anzusehen sei, ist offenbar entweder eine absurde Behauptung oder eine inhaltsleere Phrase. So ist es denn auch vollkommen verständlich, daß eine solche universelle Gerechtigkeit, die den Grundsatz der Gleichheit uneingeschränkt auf die ganze Menschheit ausdehnt, mit der in aller Kulturentwicklung zum Ausdruck kommenden Gliederung dieser Menschheit nicht bloß in ihren allgemeinen physischen wie geistigen Eigenschaften, sondern insbesondere auch in den Aufgaben der Kultur und demzufolge an der tatsächlichen Mitarbeit der sittlichen Werte in den äußersten Widerspruch geraten würde. Die Mitglieder der eigenen Nation müssen uns vermöge dieser Zusammenarbeit gerade an den allgemeinen Kulturaufgaben der Menschheit näher stehen als die Mitglieder fremder Völker, und innerhalb der eigenen Nation sind es dann nicht minder wiederum die besonderen Kulturaufgaben der einzelnen Gruppen und ihrer durch die Verhältnisse des äußeren Lebens wie der geistigen Interessen bestimmten Sonderverbände je nach ihren spezifischen Aufgaben, die eine unabänderliche Vorbedingung des allgemeinen Strebens nach der Verwirklichung der geistigen Güter sind. Daß es neben diesen den besonderen Gliederungen der Menschheit zufallenden sittlichen Gütern und Aufgaben weitere gibt, die eine Zusammenarbeit in größeren Verbänden, eine Mehrheit an ihr teilnehmender Völker und schließlich der Gesamtheit der Kulturvölker erfordern, ist selbstverständlich und liegt in dem allgemeinen Charakter menschlicher Kulturgemeinschaft begründet, den man wohl am zutreffendsten als eine geistige Gemeinschaft höchster Ordnung bezeichnen kann, die in dem Organismus des einzelnen Menschen als einer physischen und geistigen Einheit ihr einfachstes Vorbild hat. Daß gerade die wertvollsten Güter dieser Glieder der sittlichen Gemeinschaft der Völker mißachtet werden, wenn solche Begriffe wie die einer allgemeingültigen Gleichheit die tatsächlichen Unterschiede des sittlichen Lebens durch ein Scheinideal verdrängen, das schließlich als praktische Lebensmaxime wiederum nur das egoistische Streben an Stelle der wirklichen Sittlichkeit zurückläßt, ist augenfällig.


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