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Alle Kreatur

.Was macht er nur drinnen?« fragt der Hahn Hackesporn die zahme Dohle Lotte und schaut von dem Mistwagen in die Stube: »Ich glaube, er schreibt Rechnungen oder entwirft einen Riß für neue Fensterbögen!«

»Was du nicht weißt!« kräht belustigt die Dohle.

»Er hat uns doch nie vergessen! Es taut schon, die Erde raucht, es wird eine kühle Nacht! Ich werde krähen!«

»Still noch! Beherrsche deinen Schnabel, edler Heldensohn! Daß du es immer noch nicht begreifst: Er ist über der dritten Heilszeitordnung und dem Tor der zweiten Wiederkunft!«

»Als ob du dies Zeug verstündest, du Wolkenschnüffler und Rußfink!«

»Wenn man den ganzen Tag im Mist scharrt, statt den Menschen auf den Mund zu sehen, so ist einem freilich alles Höhere Mondscheibe und Sternschnuppe! Und doch hörte ich ein Wort, daß mir der Kopf wirbelte vor Brausen: Daß alle Kreatur einst aufgerufen werde, auch die tote, zum neuen Leben und Gericht! Alle Kreatur, das ist Mensch … wie Tier!«

»Mensch wie Tier … du fühlst dich wohl geehrt?«

»Wie?«

»Daß man dich anruft mit den Menschen und keinen Abstand nimmt! Ich für meine Person möchte kein Mensch sein! Was ist ihr Leben?«

Die Dohle Lotte denkt nach: »Du hast bei all deiner Beschränktheit nicht so unrecht. Meine freien Schwestern, die vom Park herkamen, erzählten mir heut von der vornehmen bleichen Frau.«

»Die das Blut unserer Meisterstochter in ihre Adern bekam?«

»Sie ist tot!«

»Still! Still! Das Wort hat nachts zuviel Gewalt!«

Und damit kräht der Hahn Hackesporn mit solcher Stimme, als könne sein Ruf den sinkenden Tag aufhalten.

Meister Ruoff öffnet das Fenster.

Er hat wie eine breite Schlinge, die unter dem Rock verschwindet, ein weißes Tuch um den Hals gebunden. Er läßt die frierenden Tiere hinein. Er schaut an den Himmel. Die Luft über den Bergen ist klar, Bodennebel im Tal, das Wetter dreht sich.

Der Hahn, die Dohle, die Hennen, alle sind auf ihren Plätzen, auf der Stange über dem hölzernen breiten Wandsims, aufgesessen. Nebenan aus der Kammer der Kinder hört man noch leises Fragen und Schnaufen. Dann ist's auch dort still.

Genovef tritt heraus, eine Last zerrissener Höschen und Strümpfe über dem Arm. Sie setzt sich und beginnt all das morsche Gewand zu flicken und zu unterlegen. Oft wenn sie fädelt, schaut sie starr ins Lampenlicht und auf des Vaters alten grauen Kopf.

»Eine grausige Zeit!« stöhnt der vor sich hin und zieht, ganz in seinen Weltalterplan vertieft und immer neu erregt, Bögen auf Bögen, Strich auf Strich. Zahlen schreibt er hinein, vergleicht wieder im Buch Daniel, im Matthäus 24, im Johannes, in Jeremia und Hesekiel, seine knochigen Zimmermannshände blättern schwerfällig die Seiten. Plötzlich hält er inne, legt seine Faust wuchtend auf die Schrift und – den Text des Psalmisten vergleichend mit dem Figurengesetz – knurrt er Asaphs Mahnung: »Bis wann wollt ihr unrecht richten und vorziehen die Person der Gottlosen? Schaffet Recht dem Armen und der Waise, helfet den Elenden und Dürftigen zum Recht, errettet den Geringen aus der Großen Gewalt! Aber sie lassen sich nichts sagen und achten's nicht; sie tappen immer im Finstern, darum müssen wanken alle Grundfesten des Landes! – So … so ist's!«

»So … so … so!« züngelt's vom Gesims wie ein Echo. Die Dohle fliegt herab und setzt sich dem Graubart auf die Schulter.

Genovef ist aufgestanden. Seit den Unglückstagen fallen ihr die Worte des Vaters wie Erdschollen aufs Herz. Nun die Kinder zur Ruhe gebracht sind, beginnt die Einsamkeit der Nacht, das Drücken der Zimmerwände mit ihrem Knacken und Knistern, des Vaters Beschwörung und Litanei.

Hinaus! Draußen ist Luft und Himmel! Wege sind draußen, für die Füße! Sie öffnet die Tür.

»Kind!« schaut der Alte auf: »Wird auch jetzt gerichtet nach Schein, einst wird gerichtet nach Gradheit!«

»Einst?«

»Bald, Kind! Sehr bald! In jedem Herz, in jedem Haus und Dorf frißt schon das Feuer der Geringen Hütten, liegen die Großen tot in seidenen Betten! – Es wird eine Plage kommen von einem Volk zum andern, spricht der Herr, und ein Wetter wird erweckt werden aus einem fernen Lande! Heulet nun, ihr Hirten, wälzet euch in Asche, ihr Gewaltigen über die Herde; denn die Zeit ist da, daß ihr geschlachtet und zerstreuet werdet und zerfallen müßt wie ein kostbar Gefäß!«

»Was nützt dann noch leben … Vater?«

»Kind, das entscheiden nicht wir! Uns ruft, der uns ruft!«

»Ja, uns ruft er zuerst … die Gewaltigen aber leben, richten und haben gute Zeit!«

»Heut noch, Kind, heute! Marie und Tonys sind tot, ja … der Hoppfuß, dem sie im Krieg schon das Leben zerschnitten, hockt hinterm Gitter, ich weiß … und der Herr, der Student, ist frei!«

Genovef schweigt.

Der Alte steht auf. Die nickende Dohle auf der Schulter, die Rechte auf dem weißen Tuch unter seinem Rock, so geht er auf Genovef zu: »Kind, du mußt die Menschen verstehen!« spricht er leis, als habe er zuviel gesagt: »Er kann doch nit kommen!«

Genovefs Kopf sinkt auf die Brust; sie tritt mit hilflosen Schritten zur Wand und lehnt daran, als seien ihr Körper und ihr Leben zwei Dinge.

»Du mußt das verstehen!« bemüht sich der Alte und verstrickt sich immer mehr in das Netz seiner Worte: »Er ist jetzt frei, weißt … sein Studium geht weiter … er hat an der Hochschul sein Lernzeit … hat sich ja recht geplagt mit uns Leut, aber jetzt ist er frei und hat sein Leben.«

Noch immer steht Genovef.

»Ach,« stöhnt der Alte und sucht in dieser furchtbaren Stille nach einem Halt: »was kann man tun?«

Und während er nach allen Seiten greift, ohne es zu wagen, sein Kind zu berühren, tastet er plötzlich an seiner rechten Brust hinab an das Tuch, das – um seinen Hals gebunden – wie eine breite Schleuder niederhängt. Ein paar winzige Klagetönchen hört man. Doch schon streckt ein kleines, noch halb blindes schwarzes Kätzlein seinen Kopf aus der Trage und wimmert kläglich.

»Armer Tropf!« spricht der Alte: »Ja, hast Hunger … weiß … wart nur, wart!« Und während er das kleine Katzenwesen – wie eine Zigeunermutter ihren Säugling – im Tragetuch behutsam anhebt, holt er mit der andern Hand aus seiner Tasche ein daumengroßes Puppenfläschchen, dreht es mit seiner mächtigen rissigen Pratze so lange, bis das winzige Schnäuzchen den Schnuller erfaßt, und nun saugt das Kleine und beginnt dazwischen in kaum hörbaren Tönchen zu schnurren.

»Alle Kreatur soll leben … warum dann du nit!« brummt der Alte.

Auf einmal lauscht er, steckt das Weslein und die Stillung in den Rock. Auch Genovef hebt den Kopf.

Es pocht an der Windtür.

Der Riegel ist vor.

Wieder pocht's.

Meister Ruoff steht auf, blickt auf Genovef, tut ein paar Schritte und geht hinaus. Die Dohle ist zurückgeflogen auf ihr Gestäng'. Die Stubentür steht offen.

Jetzt kommt er zurück, rückwärts schreitend, als wolle er draußen im Dunkel etwas erkennen.

Einer tritt ein.

Genovef schaut auf ihn, ihre Augen sind leer, ihre Hände stemmen sich gegen die Wand. Ist das ein Traumgesicht?

His steht im Zimmer.

Auch er hat noch kein Wort gefunden. Er scheint von einem Lauf erhitzt, sein Kopf ist blutrot, Schweiß steht auf seiner Stirn. Er blickt auf Genovef, will zu ihr reden, doch jetzt wendet er sich zu dem Alten, der hinter ihm hält: »Da bin ich, Vater Ruoff, da bin ich … habt auf mich gewartet? Gewiß! Sprecht doch! Das war ein Tag … Ihr müßt das verstehen … ich bin herumgerannt, könnt Ihr Euch denken … aber sie haben ihn nicht freigelassen … den Hopper!«

»Für den Hopper bist gelaufen?«

»Vom Morgen bis zum späten Nachmittag! Gestern schon wußt ich, daß ich frei würd … 's war höchste Zeit, weißt … höchste Zeit … aber ist's für den Hopper vielleicht nit Zeit? Wie soll ich's Euch sagen … Euch … nit jetzt! Ich bin zum Richter und Staatsanwalt getobt, zum Pfarrer und zur Mission, da ich weiß, wie's um den Hopper steht, und wie's um jeden dadrin stehen muß! Der Richter sagt: Seien Sie froh, daß es für Sie so glimpflich abging, und daß Sie frei sind! – Frei und vorbei?! Was red ich noch? – Vef!«

Sie streicht sich über die Stirn, als hingen ihre Haare darüber, und zwingt ihre Augen wieder ins Dasein.

»Ja, Vef … was tust du?« Er schweigt und denkt an Marie und Dionys.

»Hast Hunger?« fragt sie statt jeder Antwort und geht nach hinten zum Herd.

Sie sitzen am Tisch.

»So, so … der Hopper!« beginnt der Alte und greift besorgt unter seinen Rock: »War ein geschickter Gesell … ein rechter Mensch … was den nur getrieben hat?«

»Der Zorn übers Unrecht! Hat selbst ja kein Nutzen dran!«

»Doch darum rauben und stehlen?«

»So wie er's verstand!«

»Was ward daraus! – Seht, auch mir würgt's oft die Kehle, das Unrecht der Großen, die sich bereichert han vom Zins der Geringen, da uns kein Groschen bleibt, das Dach zu flicken und 'nen Rock zu kaufen! Doch fängt mal das Würgen an, das Rauben und Morden, so hat's kein End! Siehst ja, das Haus liegt verbrannt, Mann und Weib sind tot, der andre hockt im Eisen! Und doch, einer wird kommen und richten, so wie es heißt: Ich rufe einen Adler vom Aufgang der Sonne und einen Mann, der meinen Anschlag tue, aus fernem Land! Ich habe meine Gerechtigkeit nahegebracht, sie ist nicht ferne, und mein Heil säumet nicht! – So ruft durch Jesaias der Herr.«

»Der Herr!! Ich kann's nit hören mehr!«

»Sohn!«

»Worte, Vater Ruoff! Worte! Drohungen! Wo ist seine Hand?«

»Du spürst sie nit?«

»Nein … oder sie liegt nur auf den Geringen!«

»Auch die Frau ist tot!«

»Die Frau?«

»Des Großen! Des Fabrikherrn! Des Nabob! Siehst du! Glaubst du's jetzt? Was ist alle Macht? Hier, hier!« Eifrig zieht er aus der Rocktasche einen Brief aus schwerem Leinenpapier; er reicht ihn His.

Der entfaltet ihn über dem Weltalterplan und liest ihn lange.

»Wirklich … sie ist tot … sie ist tot …« spricht er leis, »… auch sie, diese blasse, behütete Frau.«

»Siehst du!« glüht der Alte und stößt den Dreikant aufs Papier.

»Du triumphierst?«

»Ich erkenne nur, Sohn, wie furchtbar es ist, es regiert doch das Gesetz! Er wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit seiner Wahrheit!«

»Vater Ruoff, was klammert Ihr Euch an dies morsche Seil? Gerechtigkeit? Das ist der Tod!« Traurig und benommen blickt er auf den Weltalterplan, der in seinen großen Kurven und Strichen bald einem verborgenen Gesicht gleicht und bald einem riesigen Baum.

Da tritt Genovef hinzu.

Sie bringt Brot, Most und ein Vesper. Schweigend tischt sie auf und wendet sich wieder.

»Bleib!« hält sie His.

»Esset!« Sie greift ihr Nähwerk.

His muß hinüberschauen. Wie eine blaßgoldene Mondaureole liegt das Haargesträhn um ihren Kopf. Fremd scheint sie ihm, kühl, blutlos, gemessen an den lodernden, kaum vergangenen Tagen. Ist sie es noch … Vef? Die Giftmischerin? Die Rasende, Glühende, Sichvergessende, Eislichtumstrahlte? Wie kühl sie ist, als wüte kein neues Leben in ihr!

»Er will das Haus im Park zurückkaufen … den Neubau, weißt, den er Marie und Tonys verschrieben!« beginnt der Alte neben ihm und studiert Wort für Wort in dem Brief; jetzt tritt der Bauer in ihm zutag': »Doch grad da im Park ist viel gutes Land!«

Wer spricht hier? denkt His.

»Du verstehst die Red deiner Leut besser als ich geringer Mensch!« meint der Graubart und schiebt ihm den Brief hin, während die Adern an seiner Stirn vom Denkgeschäft schwellen: »Soll ich's tun? Wie soll ich's tun … was soll ich tun?«

»Gib's ihm!«

»Gib's ihm!!« eifert der Alte, und die Ruhe seiner überbuschten Augen glimmt im Feuer, als fahre plötzlich ein zweites Wesen daraus: »Gib's ihm! Als käm's darauf an! Marie ist tot, das Haus verbrannt … kommen soll er zu mir, wann er's will! Gib's ihm! Jetzt, da der Tag nicht fern und der Herr …«

»Der Herr!! Der Herr!!« His ist aufgesprungen, daß die Zinnteller klirren.

Auch der Alte steht: »Ihr seid ungläubig … ich weiß!«

»Ja, bin ich's! Ja! Ungläubig Eurer Rechnung auf Soll und Haben, auf Gerechtigkeit und Lohn! Ungläubig Eurer Prophetung, Eurer genauen Regelung, auf die Ihr so stolz seid!«

Jetzt steht auch Genovef vor ihm. Ihre Starre ist gebrochen; flehend blickt sie ihn an: Schweig!

»Vor allen andern will ich schweigen, doch vor Euch nit! Nein! Es kann Eure Meinung nit sein, daß das Soll und Haben die Welt regiert, daß Gerechtigkeit das Letzte ist, daß Gerechtigkeit den Menschen befreit! Das Freiwillige ist's, das erlöst, das aus dem Herzen ausbricht, das große Feuer, das alles Schuldbuch vernichtet!«

»So – sagt – Ihr!« brummt der Alte.

»So sprach der, der mit seinem Blut das Schuldkonto der ganzen Welt zu löschen unternahm, der die Sünderin nit steinigen hieß nach dem Recht, der den verlorenen Sohn nit verstieß nach der Zucht, der mit den Zöllnern schmauste gegen den Brauch, der seine Jünger am Sabbat Ähren raufen ließ und mit ungewaschenen Händen zu Tisch saß wider die Regel! Seine Lehre war jung, aber Ihr habt sie alt gemacht und sterbensreif!«

»Sterbensreif …« nickt der Vater, und der flackernde Andere ist wie auf ein Zauberwort von ihm gewichen: »Sterbensreif! Doch wozu dann alles?«

Er greift in seinen Rock, von wo – aufgeschreckt durch das erregte Gehaben – ein vorwurfsvolles hilfeheischendes Wimmern tönt. Wieder hebt der Alte das Kätzlein im Tragetuch an, holt das daumengroße Fläschchen hervor und flößt dem Tierlein den Rest der Milch ein: »Natürlich, wenn die Menschen streiten!« zürnt er.

Sprachlos hat His dieser seltsamen Verrichtung zugeschaut.

»Was soll man machen!« brummt Vater Ruoff: »Die Alte ist tot … fünf Junge, das war zuviel … nur dies Schwarze blieb! Was soll man machen? Soll es auch sterben? Seht nur, wie sie zittert, die kleine Kreatur! Weiß Gott, sie versteht mich!«

»Wie … tragt Ihr das immer mit Euch herum?«

»Daß es gleiche Wärme hat!« spricht der Graubart mit Stolz.

His schaut auf Genovef.

Plötzlich steigt etwas in ihnen hoch, gurgelt wie Luftblasen im blanken Wasser, springt empor, sprengt den starren Spiegel des Scheins und zerbirst. Wie auf ein: Los! lachen die beiden, haltlos, aus voller Kehle.

Der Alte schaut strafend auf.

Sie lachen rettungslos.

»Glaubt wohl, dies kleine Leben sei weniger als euer breitbacken und hoffärtig Dasein!«

»Nein!« sagt His. »Aber was Ihr noch alles aufzieht zum Leben vor dem großen Untergang und dem nahen Tag des Gerichts!«

»Was zum Leben berufen ist, muß leben! Darüber hab ich nit zu rechten!«

Schnell, als müsse er das Tierlein vor den Anwürfen schützen, schiebt er es wieder in das Tragtuch und an den wärmenden Busen. »Nun ist's spät!« sagt er zu His: »Kannst in des Hoppers Kammer schlafen! Den Brief, ja … es war ungut heut abend, ich weiß … wollt ihn Euch nur zeigen, solang Ihr noch da seid!«

»So hat's kein Eil.«

»Wie?«

»Bin immer jetzt da.«

»Was bist?«

»Ich bleib bei Euch!«

Schweigen.

His schaut auf Genovef.

Die blickt ihn an mit offenen starken Augen – älter jetzt – eine nordische Norne!

Noch immer liegt Stille im Raum. Durch die Wände dringt das gedämpfte Schnauben der Kindermulde.

Auch Meister Ruoff atmet schwer: »Wie wollt Ihr bei uns bleiben?«

»Wie … Vater Ruoff? Wie Euer Kind, Vater Ruoff! Ihr habt zwei verloren!«

»Weiß, weiß … aber das ist doch nit möglich, das ist doch nit möglich!«

»Warum?«

»Ihr seid Student!« ruft der Alte jetzt, als sei plötzlich des Rätsels Lösung gefunden, »Ihr habt Euren Beruf, müßt weiterstudieren, etwas werden, ein großer Mensch, ein Professor, ein Direktor! Wozu habt Ihr sonst begonnen! Ihr seid ein Student, das ist Euer Beruf, Euer Leben ist nit unser Leben!«

»Euer Leben ist schwer, Vater Ruoff, ich weiß! Aber ist das Leben der andern überhaupt ein Leben? Was bleibt noch übrig von all dem Lärm und Betrieb, von all dem Wissen und trocknen Eifer? Und doch ist noch ein andres da, Vater Ruoff, das spür ich, wie ein Pferd in der Wüste die Quelle wittert!«

»Wie du das alles sagst!« beginnt der Alte nach einer Stille: »Du hast vielleicht nit unrecht! Aber du weißt doch nit, wie schwer unser Bauern- und Werklerdasein ist! Drum sag ich dir: Bedenk's noch einmal, führ dein Studium, das du begonnen, zu End! Mach dein Examen! Komm dann zu uns und versuch's! Solang hat's Zeit!«

»Es hat … nit Zeit.«

»Was hätt nit Zeit?«

»Daß ich … die Vef allein laß … die Zeit!«

»Die Zeit?«

»Die Zeit!«

»Das also … ist's!?«

His schaut den Alten an und nickt.

»Darum hast solang geredet und Wort gedrechselt?«

»Darum, Vater!« spricht plötzlich Genovef und steht in der Streitlinie der Männer: »Darum, weil's ihm selbst nit leicht ist, weil er selbst sich's erst losschaffen mußt, weil er selbst sich's erst losgeschafft hat!«

»Bist wohl stolz drauf, du?«

»Daß er zu mir steht in der Not!«

»Daß du zu allem Tod und Verderb noch Schand über mich bringst!«

»Schand??« tritt His jetzt vor.

»Schand!!«

»Versündigt Euch nit, Vater Ruoff! Ich will mein Sach nit rechtfertigen! Aber auch Ihr sollt nit richten über das, was noch in der ewigen Hand ruhet! Ihr spracht, ich glaube nit … doch das glaub ich gewiß und aus ganzer Seel … und auch Ihr solltet's bedenken: In jedem Kind, das in einer Mutter Schoß noch verschlossen liegt, kann der neue Erlöser der Welt ruhn und geboren werden!«

Wie ein Gegner steht der Alte jetzt vor ihm, breitbrüstig, raufhähnig, griffbereit, zornrot; seine Stirne flammt, das graue Haar sträubt an den Schläfen, die Adern sind dick wie Stricke, man sieht, wie das Blut durch den Kopf schießt, wie die Gedanken schaffen. Endlich fragt er mühsam: »Glaubst du daran … auf Gedeih und Verderb?«

His wartet

»Ich mein, ist das dein Gedank … glaubst du's wirklich, auch für dein Leben: In jedem Kind könne der neue Erlöser der Welt ruhn und geboren werden!«

»Daran glaub ich!« spricht His.

»Daran glaub ich!« spricht Genovef.

»Kinder! Was sagt ihr da? Was ist das für ein Stimm? Das ist nit leicht, was ihr da glaubt … was ihr da wollt … das braucht Zeit!« stößt er jetzt hervor: »Was ihr da tut, das ist nit leicht! Doch wie ich euch seh, so will auch ich alter Mensch noch einmal daran glauben! – Gott segne euer Kind!«

Es ist sehr still.

Wieder hört man das gedämpfte Atmen und Schnauben der Kindermulde.

Selbst das leise Prusten der Hühner dringt vom Gestäng'.

Genovef hat ihr Gesicht an His' Schulter gelegt; in leisem Weinen löst sich ihr Herz.

»Es ist genug!« sagt der Alte und streicht einmal leise über ihr Haar: »Es ist wirklich genug!« spricht er für sich. »Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod!«

»Wie meint Ihr?« schaut His empor.

»Es ist genug, sagt ich! Geh hinauf in die Kammer des Lahmen; es ist jetzt deine!«

His ist hinaufgestiegen.

Genovef hat sich drunten zu den Geschwistern gelegt.

*

Der Alte sitzt allein in der Stube.

Er schaut unverwandt auf seinen Weltalterplan, der immer noch fest auf den Tisch geheftet: Dort in der linken Ecke die erste Heilsordnung in einem schlanken hohen Haus bis zur Sintflut … daneben das festgedrängte Patriarchalsäkulum … und weiter Bögen und Schwünge, Sarkophage, Pyramiden, Sonnen, Meteorschweife, Adler und weitverästelte Bäume, alles in riesiger Kurve überwölkt von der zweiten Ordnung bis zur »Ernte« und zum Untergang dieser gegenwärtigen todgeweihten Welt.

Noch einmal verfolgt der Alte mit seinem Dreikant die vielen vertrauten Linien, Zahlen, Sprüche, Andeutungen, Wölbungen und Bilder … hin und her, her und hin … immer wieder. Dann nimmt er aus der Lade ein großes Schnitzmesser, setzt es auf das harte Papier und zerschneidet den Bogen in ungezählte Streifchen, Striemchen und Stückchen! Wieder und wieder holt er aus dem Papiergeschnitz, das wie welkes Laub über dem Tisch umherliegt, die alten Worte, Zeichen, Verheißungen und Vorwürfe. Stunden vergehen. Seine Augen sehen kaum mehr die ungelenken Schnörkel, seine Hände häufen noch einmal den heiligen Schutt.

Ganz still ist's geworden.

Die Lampe brennt über ihm im Ring.

Schlafend ruht jetzt sein Haupt auf dem Berg all der Trümmer des Weltuntergangs und des Großen Gerichtes.

*

Mit einem Male schüttelt der Hahn Hackesporn auf dem Gestänge sein Gefieder, prustet sich auf und blinzelt ins Licht: »Es ist Tag!« stößt er erregt die Dohle Lotte an: »Licht! Licht, ihr Schlafhauben! Ich werde krähen!«

»Lampenlicht!« kneift belustigt die Dohle ihr Auge: »Lampenlicht, edler Herr!«

»Sind diese Menschen toll!«

»Nur ohne Sinn für Gesetz und Ordnung!« redet die Dohle ihm zu: »Sie kehren das Unterste zu oberst, machen aus Ungrad Gerade, aus der Nacht den Tag!«

Hackesporn wiegt sich ernst auf der Stange, hebt leise die kurzen Flügel, reckt den Hals, windet und spricht: »Und doch ist die längste Nacht herum! Der Tag … kann nicht ferne sein!«

* * *


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