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Lucia schleppt sich neben dem schwatzenden Wärter durch die Gänge.
»Ich hab die Herrschaften eine halbe Stunde allein gelassen, ist zwar gegen die Vorschrift, nehm's aber bei gebildeten Menschen nicht so genau!« Und da Lucia schweigt, meint er deutlicher: »So was tut man ja nicht, um Dank zu ernten!«
»Was wollen Sie?«
»Nichts! Nichts!«
»Hier!« befiehlt Lucia und reicht dem sich Beugenden zwei Scheine.
»Man tut seine Pflicht!« stottert entzückt der Wärter, während ein Sekretär mit großer Mappe an ihnen vorbeifliegt: »Schnell! Besuch von Zelle 14 zum Herrn Rat!«
*
Der Untersuchungsrichter erhebt sich, wie Lucia eintritt: »Da Sie, gnädige Frau, gerade im Hause anwesend sind, so möchte ich nicht unterlassen, zur weiteren Aufhellung unseres reichlich verdunkelten Falles um eine kurze Ergänzung Ihrer ersten Aussage zu bitten! Sie haben erklärt, daß der Untersuchungsgefangene Fischöder, schon vor der Tat, sich gleichsam intellektuell zu dieser Tat bekannt hat, daß er behauptet habe – ich wiederhole Ihre Angabe – Zuvielbesitzen sei Diebstahl gegenüber den Besitzlosen … ferner: Die Blutübertragung auf Frau Hunschringer sei ein mit Geld erzwungener Raub, der notwendig zu einem Unheil führen müsse! Diese Äußerungen sind insofern von großer Bedeutung, als sie einesteils die grauenhafte Verwirrung dieses jungen Menschen enthüllen, anderseits aber ein Glied in der Kette der Indizien sind, die über das mangelnde Alibi und die am Tatort gefundene Uhr schnurstracks zur Tat selbst führen! Nun hat Herr Fischöder Ihnen zugesagt, sich zu der geplanten Italienreise an jenem Karfreitag bei Ihnen einzufinden. Hat er sein Fernbleiben bei Ihnen entschuldigt?«
Lucia schwirrt der Kopf. Sie befindet sich in einem Netz von tausend Fäden. Noch steht sie in der Zelle vor dem jungen, straffen, rötlichen Menschen … soll sie diesen Tollkopf retten? Diesen verrannten Proletenapostel? Für wen? Für eine Schürze?
»Ich wiederhole meine Frage!« klingt die Stimme des Richters: »Hat Herr Fischöder sein Fernbleiben bei Ihnen irgendwie entschuldigt?«
»Nein!« antwortet Lucia jäh entschlossen.
»Haben Sie irgendwelche Anhalte oder Vermutungen, wo er sich in der fraglichen Nacht aufhielt?«
»Ich denke … nein!«
»Herr Fischöder – ich frage dies als Richter – stand Ihnen näher?«
»Herr Fischöder war nach einem Unfall, den er in meinem Besitztum erlitten, bis zu seiner Genesung mein Gast.«
»Sie wissen aus seinen damaligen oder jetzigen Äußerungen nicht, ob andere Personen – ich meine weibliche – in seinem Leben eine Rolle spielten?«
»Mit einem Wort, ob er eine Liebschaft hatte?«
»Nein.«
»Ich danke Ihnen, gnädige Frau! Nehmen Sie Platz!«
Der Richter atmet schnaubend auf, als habe er eine große Spannung überstanden. Dieses Raffinement selbst bei der einfachen Bevölkerung!
»Fräulein Ruoff!« haucht er den Sekretär an.
»Fräulein Ruoff!«
Genovef tritt ein, in dunklem Kleid, groß, ohne Bewegung in dem bleichen Gesicht. Ruhig bleibt sie vor dem Tisch stehen und schaut auf den kleinen mausgrauen Richter.
Lucia umfaßt mit ihren Blicken begierig die Gestalt.
»Sie halten also Ihre Aussage aufrecht?« beginnt der Graue.
»Er ist nit schuldig! Er ist gewiß nit schuldig!«
»Das zu entscheiden ist nicht Ihre Sache! Ich wiederhole meine Frage: Wissen Sie, wo jener Herr Fischöder sich in der Einbruchsnacht aufhielt?«
»Ich sagt es doch.«
»Ihre Aussage steht im Widerspruch zu einer andern glaubwürdigen Bekundung. Ich ermahne Sie daher nochmals zur Wahrheit! Wo war Herr Fischöder in der Nacht und Vornacht des Einbruchs?«
Genovef schaut mit einem großen spähenden Blick auf Lucia, mit dem Blick des Weibes, das ahnend sofort die Schlinge fühlt.
»Antworten Sie!«
In dieser Sekunde liegt eine Ewigkeit. Beide Frauen – weltenfern und atemnah – spüren die Entscheidung. Unerbittlich schaut Lucia hinauf in das Auge.
»Sie wollen sich Ihre Aussage noch einmal überlegen?«
»Nein!«
»Wie?«
Fest schaut Genovef auf Lucia und sagt dann leise: »Er war bei mir!«
»Wo war er bei Ihnen?«
»Draußen … und im Haus.«
»In welchem Haus?«
»In Vaters.«
»Wie lange?«
»Die zweite Nacht bis zehn.«
»Kann ein dritter das bezeugen?«
»Der Vater …«
»Was tat Ihr Vater?«
»Er schrieb in der Stube.«
»Waren Sie beide die ganze Zeit in der Stube?«
»Nur eine halbe Stund.«
»Und dann?«
Genovef schweigt.
Ein grausamer Spießrutenlauf; jetzt hält die Gehetzte atemlos vor dem entgegengestreckten Schwert.
»Und dann?«
»Droben!« stößt sie kaum hörbar hervor.
Lucia, die dagesessen, bebend, mit Mühe sich haltend, den Blick starr auf das Weib: »Es ist genug! Das ist ja Folterung! Es ist genug!« fährt sie jetzt hoch.
»Falls das Verhör Sie erregt, gnädige Frau, bitte im Vorzimmer Platz zu nehmen! – Bevor Ihre Aussagen unter Eid gestellt werden,« wendet er sich an die totenblasse Genovef, »mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Ihre Angaben in krassem Widerspruch stehen zu der am Tatort gefundenen Uhr und den Erklärungen dieser Dame.«
»Ich widerrufe meine Erklärungen!«
Stille.
»Sie … sind … überreizt, gnädige Frau! Ich bitte, im Vorsaal zu warten!«
»Keinen Schritt von hier!«
»Herr Sekretär!« ächzt der Richter: »Führen Sie die Zeugin Ruoff hinaus und warten Sie … draußen!«
Der kleine mausgraue Mann ist zum Fenster getreten. Er steht, die Hände auf dem Rücken, vor dem hohen Fensterkreuz und dem papierbleichen farblosen Regenhimmel.
Jetzt schraubt er sich mühsam herum: »Sie haben unter Eid ausgesagt!«
»Ich weiß.«
»Ihr Widerruf entblößt einen Meineid!«
»Ich weiß.«
»Ihr Leben, Ihre Existenz ist vernichtet!«
»Möglich.«
»Ich verstehe kein Wort!«
»Doch dieses: daß ich meine Aussagen widerrufe!«
»Unmöglich! Gänzlich unmöglich! Das bedeutet eine frivole öffentliche Erschütterung, ein Unglück, die Vernichtung Ihrer Betriebe, Sie sehen die Folgen nicht! Das alles ist ja Wahnwitz! Was veranlaßt Sie zu diesem völlig sinnlosen, unmöglichen Entschluß?«
»Ja, hörten Sie denn nichts?«
»Was?«
»Sie haben nichts gehört?«
»Ich verstehe Sie nicht, gnädige Frau! Dieser verzweifelte Rettungsversuch einer Beteiligten, dieses fragwürdige Alibi einer noch fragwürdigeren Person haben kaum eine Beweiskraft gegenüber Ihren Aussagen und – selbst wenn Sie Ihre Aussagen widerrufen – gegenüber dem Fund der Uhr!« – »Die Uhr?« horcht Lucia auf; und mit der Entschlußkraft eines Menschen in höchster Gefahr bittet sie plötzlich: »Die Uhr … richtig die Uhr … darf ich sie sehen? Ich wollte sie längst einmal vergleichen!«
»Womit?« forscht – eine neue Spur witternd – der Richter und holt einen flachen altmodischen Chronometer mit abgegriffenem Silberdeckel aus seinem Tischfach.
»Sie ist's!« ruft Lucia schnell. »Wirklich, sie ist's!«
»Was ist?«
»Öffnen Sie den Deckel! Nein, den zweiten, den Rückendeckel … sie hat einen zweiten … Vorsicht … darunter liegt ein winziges rosanes Blütlein, ein Blütlein vom Seidelbast … dort ist's … sehen Sie … habe ich recht, kenne ich die Uhr … nicht wahr, ich habe sie nicht berührt, wenigstens nicht jetzt …«
»Doch wann?! Reden Sie!!«
»In der Freitagsnacht …«
»In der des Einbruchs?«
»Ja, in dieser … da ich von Hunschringer heimfuhr, warf ich die Uhr im Zorn aus dem Wagen über die Straße!«
»Diese Uhr?«
»Diese Uhr! Liegt nicht noch das Blütlein darin? Herr Fischöder vergaß sie in meinem Haus, ich nahm sie mit, sie ihm an dem Abend bei dem Nachtmahl zu geben. Im augenblicklichen Zorn – ich darf wohl sagen in verletztem Zorn – über diesen Menschen, der all unser Bemühen und unsere Teilnahme, diese Einladung und mein Reiseangebot in so brutaler Weise ignorierte, schleuderte ich die Uhr aus dem Wagen und damit gleichsam jeden Gedanken an ihn!«
»Seltsam!« spricht der Richter und schaut prüfend auf die Frau. »Seltsam!«
»Ich bin bereit, meine Aussagen unter …«
»Um Himmels willen! Auf keinen Fall! Auf gar keinen Fall!« unterbricht sie schnell der Graue, und plötzlich fährt über sein fahles Gesicht der Strahl eines fast freudigen Gedankens: »Das ändert den Fall von Grund aus! Das gibt ihm eine gänzlich neue Wendung!«
»Nicht wahr!« drangt Lucia, »Sie nehmen jetzt meinen Widerruf an!«
»Nein!«
»Nein?«
»Infolge mangelnder Beweise ist Herr Fischöder aus der Untersuchungshaft entlassen!«
»Infolge … mangelnder Beweise?«
»Grübeln Sie nicht hierüber, gnädige Frau! Das ist die einzige und beste Lösung!«
»Lösung?«
»Und ein Akt der Gerechtigkeit! Die zielvolle Gerechtigkeit behandelt nicht bloß den jeweiligen einzelnen Rechtsfall; sie behütet – vorausschauend – die Gesamtheit vor sinnlosen Erschütterungen und schafft hiermit erst die Möglichkeit, im großen Hause der Menschheit zu leben!«
»Ich glaube zu erkennen, Herr Landgerichtsrat,« erwidert Lucia und beendet in diesem Gefecht gleichsam einen letzten Ehrengang, »Ihr Beruf ist für Sie nicht bloß ein Amt! Ich habe, wie Sie wohl wissen, jeden Herbst eine Zahl Menschen ähnlicher Prägung wie Sie auf mein Landgut Hohenrott zu einer mehrwöchigen Tagung gebeten, Gelehrte, Volkswirtschaftler, Industrielle. Wir versuchen dort in täglichem Gedankenaustausch der Lösung der sozialen Frage näherzukommen. Darf ich Sie bitten, Herr Rat, im Herbst unser Gast zu sein?«
Der Richter verneigt sich.
*
Lucia fährt in ihrem Wagen heim zu ihrem Landhaus.
Sie schaut durch die geschlossenen Scheiben auf die Berge, die von schweren weißschimmernden Nebelbänken umlagert sind, sie blickt auf die halbverblühten Obstbäume und die in üppiger Blumenpracht prangenden Wiesen. Sie läßt das Fenster herab und atmet die schwere, feuchte Luft. Plötzlich sieht sie vor sich in der Vase des Wagens ein paar Blütenstengel: Kamelien oder weiße Nelken … sie erkennt es nicht im Halbdunkel. Sie reißt sie heraus und birgt den Kopf in ihren Händen, während der Wagen dahinsaust.