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His wandert in den Frühlingstag.
Die dreihundert Mark für seine Arbeiterfreunde stecken in seiner Tasche. Sein Herz ist leicht und schwer. »Vernünftig sein!« Ist das immer wieder der Kehrreim des Lebens? Die letzte Stunde mit Lucia drückt ihn. War auch sie schon in den Pflicht- und Erwerbsstrudel des Nordens hineingerissen: Raffen und Gehorchen, Leistung und Lohn! Die Pflichttreuen und Fleißigen kommen in den Himmel, die Bummler und Tagediebe ins Arbeitshaus und in die Hölle!
»Unsinn! Teufelei!« ruft His plötzlich und schwenkt die Faust, als stünde der Gegner an der Biegung der grauen Straße. Er reißt seinen Rucksack, Jacke und Hemd herab, verstaut die Kluft und wandert in Hose und blanker Brust seines Wegs. Mit durstiger Haut nimmt er die strahlende Sonne auf, mit voller Lunge trinkt er die felsige Luft. Immer mächtiger greift sein Schritt aus, immer leichter wird sein Sinn mit jeder federnden Spanne, jetzt fällt der Nebel, trotzig wie je stehen die kantigen Zacken, der Wald grünt zu ihren Füßen, vor ihm schmettern die Lerchen, lockt die Drossel, ruft der Eichelhäher. Weit hinter ihm liegt die Welt. Alles ist wieder jung und herrlich wie am ersten Tag der Schöpfung.
Freudig, von seinen Gedanken erfüllt, schreitet His jetzt über einen Vorhöhenkamm. Das Leben ist licht und weit wie das Land. Sei gegrüßt, Leben! Auch unser Kampf heut ist heiß und groß!
Juvat vivere! Er gellt den alten Huttenruf in die Täler. Und wirklich, wie ein Chor, antwortet es aus den Wäldern und Schluchten: Juvat vivere! Juvat vivere!
*
Das Haus am Weg zur Bahn liegt in der späten Sonne. Die Luft dampft noch von Tageswärme, die Bienen summen um Salbei und Löwenzahn. Doch die Fenster des Hauses sind geschlossen.
»Es ist nit wahr, was du sagst!« schilt Dionys und geht unruhig in der Stube auf und ab. Er will ein Fenster öffnen.
»Laß zu!« mahnt Hoppfuß, »sonst weiß es morgen das ganze Dorf!«
»Sie hat's noch nit getan!«
»Weißt du's? Und wenn sie's nit getan, so wird sie's tun!«
»Wir han Schulden, das Haus, die Krankheit, gezahlt muß sein!«
»Und dafür läßt du deinem Weib …«
»Was laß ich meinem Weib, du Giftkrott?« Drohend mit blassen Lippen steht Dionys vor seinem Marterer. »Wenn sie sagt, sie muß die Frau pflegen, soll ich ihr nachschleichen, wenn der Herr sie ruft, sollen wir noch ein Jahr rackern, wenn man's in einem Monat schafft!«
»Oder in einem Tag … oder in einer Nacht!«
»Hopper!«
»Ich red gar nit von ihr.«
»Von wem denn?«
»Ist nur so ein Gedanke, weil es so schön von selbst lauft, Tonys … ein Jahr, ein Monat, ein Tag, eine Nacht, und wenn du's wissen willst: mit der Nacht warst du gemeint!«
»Du bist närrisch!«
»Hör mal Tonys: Wenn ein Krug so voll Most, daß er überläuft, ist der Most dran schuld?«
»Hast selbst zuviel Most im Hirn!«
»Wenn aber, wie du mal sagtest, euer Lager da drauß so voll schwerer Lederrollen, daß eine das Fenster eindrückt und grad in den Bach fällt, zufällig … natürlich?«
Dionys ist in seinem Hinundherlaufen stehengeblieben und schaut erstarrt den Lahmen an: »Die Lederroll … in den Bach … das geschieht nit … das ist noch nie nit geschehen!«
»Was gilt so ein Roll?« fragt der Hoppfuß, ohne sich zu rühren.
»Gar nix gilt sie!« keucht jetzt Dionys. »Gar nix!«
»Was gilt so ein Roll?«
»Steh–len?!«
»Dich nit bestehlen lassen, Tonys … Leder statt Blut, Tonys … zuvorkommen, Tonys … dem Weib seinen Wunsch tun … stehlen, Tonys, ja, doch Leder statt Blut!« Der Lahme ist während der Worte aufgestanden, ganz gerade, und steht jetzt Nase bei Nase vor Dionys, der wie vor einer Schlange erstarrt totenblaß ins Leere schaut.
In diesem Augenblick ertönt von draußen ein Schrei. His ist ins Haus getreten und hat Genovef, die in der Küche fegt, überrascht.
»Genovef?«
»O Herr, Ihr kommt?«
Er will ihre Hände fassen.
Sie weicht zurück. Sie scheint ihm größer geworden in diesen fernen drei Wochen, auch blasser und reifer. Doch ihre schrägen, stillen Augen sind dieselben. Wie ein mächtiges weidwundes Tier steht sie in der Herdecke und schaut ihn an, als empfinge sie in nächster Sekunde den Todesstoß.
Da öffnet sich die Tür. Hoppfuß schaut mit seinem großen eckigen Schädel heraus und fährt mit lautem Gelächter in die Stube zurück.
His tritt ein.
Er blickt auf Dionys, der bleich am Fenster steht: »Grüß Gott, seid Ihr so lustig? Bist wieder auf, Tonys?«
»Grüß Gott, Herr, es tut's!«
»Tonys … schau mich doch an, alter Junge!« Er staunt über den stummen, entschlossenen, fast feindlichen Blick, über das schmale ausgefieberte Gesicht. Mit einem Schlag ist er aus allen Wolkenflügen hinabgestürzt, mitten hinein in dies nackte enge Dasein von Werktag, Hunger und Pein.
»Wo ist Marie?« fragt er, ohne zu denken.
»Vielleicht wissen Sie's, Herr!« drängt sich der Lahme jetzt vor. His erschrickt. Bei Gott, er weiß es! Wie der Krüppel neben ihm grinst! Dreiteufel! Jetzt keinen Zorn und Haß gegen die Kreatur! Er will die mitgenommenen dreihundert Mark auf den Tisch werfen, sofort, er greift in die Brusttasche, das Geld herauszuziehen: hier eßt, trinkt, seid fröhlich, Brüder!
Da sieht er, wie Dionys wieder ein Schauder schüttelt: »Friert's dich, Tonys? Zitterst ja?«
»Das macht die Freud, Herr, daß Ihr doch noch kommen seid!« grinst der Hoppfuß.
Wie in Scham zieht His schnell seine Hand zurück: »So habt Ihr … auf mich gewartet?«
»Anfangs, Herr, anfangst« spricht der Hoppfuß, während Dionys müde auf seinem Bett sitzt und den Kopf in die Hände stützt. »Anfangs, ja, das ist wahr! Aber jetzt, jetzt schickt uns der Herr seine Raben wie einst dem Elias! Sie kommt, wann sie will, sie bleibt, wo sie will, sie bringt, was sie will!«
Dionys schaut qualvoll und drohend zu Hoppfuß.
»Wo ist Marie?« fragt His.
»Wir wissen's nit!« funkelt der Hoppfuß. »Doch was geht Sie das an, Herr, was geht Sie das an?«
»Was mich das angeht?« zürnt der jetzt. »Ich gehöre zu euch! Was mich das angeht? So fordert doch, ihr Kleinmütigen, verlangt, ruft her, gebietet: Geld! Eine Tat! Ein Wort! Was soll ich tun?«
»Das wird sich zeigen!« sagt der Hoppfuß bedacht.
»Gut!« ruft His. »Ich werde zu dem Direktor gehen, ich habe ein Schreiben an ihn! Heute abend wird Marie hier sein!«
»Und hierbleiben?« fragt Dionys.