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Der Dreimann

.Dionys liegt im Bett der hinteren Kammer, die klein, licht und friedlich. Der Medizinalrat hat noch alle Anordnungen getroffen; dann winkt er der Frau hinaus. In der Küche schreibt er das Rezept und bemerkt: »Also es bleibt dabei!«

»Aber der Mann?« stockt Marie.

»Der Mann, Sie großes Lamm, der Mann wird mit dem schuldenfreien Haus überrascht und mit tausend Mark auf dem Sparkassenbuch. Ist das vielleicht nichts?«

»Aber …«

»Was, aber!« Er packt sie an der Schulter. »Ich sage Ihnen, es schadet Ihnen soviel, wie wenn ich mich mit einer Stecknadel in den Finger ritze! Oder sind die tausend Mark nichts? Wahrscheinlich braucht ihr's nicht!«

»Doch …«

»Abgemacht! In drei Tagen!«

Sie steht allein in der Küche und starrt über die Wiesen in den brodelnden Himmel. Drüben um die Kämme der Berge fetzt der Nebel. Strichweise lichtet sich unter den Stößen des Märzwinds die wallende Masse. Was sagte er: Das Haus frei und als Draufsumme noch tausend Mark? Unausdenkbar! – Und doch ihr Blut dafür? Ihr Blut aus den Adern?

Sie wehrt sich, lehnt ab, atmet auf. – Doch wieder, doch wieder, man ist alle Schulden los, kann mit einem Ruck das Vertiko dem Händler bezahlen: hier guter Mann, der Rest! Senden Sie uns auch noch diesen Tisch und die Standuhr, ja diese mit dem kupfernen Zifferblatt!

Marie erschrickt; sie spürt, wie die Schlinge sich fester zieht.

Luft! Luft!

Das Fenster auf!

Töne! Rufe! Ein Lied!

Ein fremdes Lied! Ein stürmender Marschgesang: La Carmagnola! Die Italiener ziehen auf Schicht. In Reihen zu vier. Dem Zug voran schreitet ein riesiges Monstrum, der Dreimann: sechs Hände, sechs Beine, drei Köpfe, aber ein Wesen! Il braccio hat auf jeder Schulter einen Kameraden sitzen. Sie halten sich mit einer Hand in seiner Mähne, mit der andern fuchteln sie wild in der Luft, schlagen den Takt und drücken Begeisterung aus. Von Il braccio selbst sieht man nur den gewaltigen Rücken und die ungeheuerliche Spanne seiner Beine, den Triumph dieses Schrittes!

Auch draußen der Feind!

Marie wirft das Fenster zu. Doch sie schaut noch einmal diese sieghafte Spanne des Riesen, sie blickt die Luft, den Himmel, die Bergkanten, das ganze Land zwischen dem Triumph dieser Mannesbeine! Ein Wagnis war das Leben! Eine Gefahr! Eine Versuchung! Ein Opfer!

Es soll geschehen!

*

His und Genovef rennen vom Bahnhof. Man erzählt: Dionys sei es, der die zwei Lederrollen gestohlen, der Mungo habe im Privatkontor ihn gestellt und dem Tobenden zwei Schüsse aus seinem doppelläufigen Revolver durch die Brust gefunkt. Die Kugeln seien durch die Tür in das große Kontor gedrungen, die Putzfrau habe bis nach zwei Uhr das Blut aufgewischt – Genovef zittert selbst im Laufen am ganzen Leib.

»Still doch! Ist alles bloß Lug und Bosheit! Komm! Komm!« His faßt sie an der Hand, ihre Schritte werden Sprünge, der Nebel saugt sie auf. Jetzt laufen sie fast um die Wette. O kräftiger Saus! Ihr Blut jubelt, da ihr Hirn stöhnt.

Das Haus … den Knüppelsteg hinüber … Marie steht in der Küche und schneidet Nudeln. »Der Tropf«, der kleine Frieder, langt sich den rohen Teig und stopft ihn in den Mund.

»Dionys?« keucht His.

»Er schläft,« sagt Marie und walzt und schneidet weiter den Teig.

»Ja … lebt er?«

»Lebt?«

»Ist doch geschossen!«

Marie lacht wild auf: »Ja, ist geschossen! Maustot! Und morgen steht er wieder auf!«

His will zur Kammer.

Marie vertritt ihm den Weg: »Er schläft! Grippe hat er! Überschafft, verfrostet, durchnäßt! Wir han ihn im Auto gleich hergebracht!«

»Im Auto?«

»Im Auto! Sind wir nichts?« Sie mißt ihn mit hartem Blick.

»Muß was besorgt sein?«

»Nix.«

*

Die beiden gehen. Wieder umfängt sie der Nebel. Die Luft weht aus Südwest durch die Berglöcher, von den Alpen herüber. Alles ist ungewiß, verschwommen, doch voller Spannung: Tag- und Nachtgleiche!

»Die Tage werden länger«, sagt His so hin.

»Dann könnt Ihr wieder studieren, wieder was Rechtes tun!«

»Das sagt ich nit.«

»Ist aber so, Herr!«

»Kann ich was dafür, Genovef?« Er hält auf der Straße, neben einem weißgekalkten Baum, er blickt ihr grad in die Augen.

»O Herr …« spricht Genovef; sie spürt, wie leicht und mühelos er oben schwimmt, wie schwer sie niedersinkt, sie muß sich festhalten, greifen, klammern, in ihrer ganzen Hilflosigkeit und unerfahrenen Wildheit umschlingt sie ihn, drückt ihn gegen den weißen Baum, küßt ihn auf Stirn, Nase, Mund und Hals, ungelenk, verdurstet, kunstlos, urmächtig, unersättlich; sie sinken beide in die Knie, in die kreidige Erde, der Baum ist ihre Stütze. Den Stamm, Baum und Mann zugleich, umarmt Genovef, auf der Erde kniend. Er hält ihr kühles Haar und ihren heißen Kopf zwischen den Händen. Noch hatte das Schwert des Engels Platz zwischen den beiden.

»Wenn Leute kommen!«

Sie hört nicht, schlafend, wie tot, kniet sie, den Kopf an seiner Schulter.

»Sei doch vernünftig, Vef!« Er denkt wieder, glashell, messerscharf, sein Kopf beginnt zu arbeiten: »Vef, so hör doch! Wenn uns hier jemand sieht … auf der Straß!«

Sie erwacht. Ihre Augen sind schneeweiß. »Ja, Herr …« sagt sie und steht auf.

Sie schlagen ihre Kleider ab und gehen zu Vaters Haus. Er greift nach ihrer Hand, fühlt die kräftige knöcherne Spanne durch die sanfte Haut und preßt sie: Welch Erlebnis! Welch unvergeßlicher Abschluß dieses Werkmonats! War sie nicht ein Fürstenkind, eine nordische Druidin, oder Cordelia, Fennimore! Er muß nach seinem Hut greifen, der Wind peitscht mit scharfen Schwingen seine Ohren. Er reckt sich, zieht die Schultern nach hinten und atmet tief die frische, felsige Luft. Nicht untergehen, auch nicht in einem Erlebnis! Stets noch rechtzeitig den Kopf bewahren! Alles das war nur Etappe, Stoffgebiet für den werdenden Führer des Volkes! Ja, er hatte sich in der Hand! Und trotzend aller Versuchung fragt er: »Fahren wir Samstag das Holz vom Farrenberg?«

»Wenn der Mond drauß und der Boden gefrostet.«

»Abendnebelkleid – Sonnenherrlichkeit! Der Boden wird hart und fahrend sein!«

»Aber die Marie wird den Tonys jetzt hüten, und der Vater soll nachts bei Eisweg nit!«

»Sind wir beid zu schwach?«

Sie blickt ihn bleich und ernst an, mit breiten Backenknochen, schweigend, ein Weib des Volkes.

»Es bleibt bei Samstag!«

»Ja«, sagt Genovef und tritt schnell ins Haus.


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