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Lebensnacht

.His liegt droben auf seinem Strohsack.

Er hat die Hosen anbehalten, so wie die Werkleut' ruhen, die Nacht als eine Art Arbeitspause ähnlich der Mittagszeit. Die letzte Nacht! denkt er und schmeckt noch einmal die herbe Eintönigkeit dieses fronenden Daseins. In drei Tagen mit Ille: Rapallo – Rom – Sizilien!

Er schläft.

Draußen strahlt die Frühlingsnacht. Aus den Wiesen steigen dünne Nebelschleier. Die bewaldeten Berggründe sind in schwarze Schatten gehüllt. Über die Kämme zieht der Mond eine silberscharfe Spur. Das ganze Land ist von tausendfachem Schweigen voll, von winzigen unhörbaren Geräuschen: von dem Nicken der Vögel in den Ästen, von dem Nagen der Würmer, die zu Abertausenden an den Würzlein zupfen, von dem Rauschen des fernen Flusses, dem Atem der Menschen, dem Schlich der Katzen, dem Flug erster Fledermäuse.

His schläft in wirren Träumen.

Er sitzt im Lloydexpreß und fährt längs einer steilen Küste. Das blaue Meer schlägt in haushoher weißer Brandung an die Klippen, dort zackt eine Piratenburg, endlos in die Weite läuft der Wellenspiegel.

Ille sitzt ihm gegenüber, sie schaut hinaus und lächelt: Also!

Plötzlich ist ein großer Bahnhof da: »Gepäckträger! Facchino!«

Einer kommt; er lädt die Handkoffer auf den Rücken und geht vor ihnen her.

Sind das die rechten Koffer, sie werden immer größer … wie? Der auf dem Rücken gleicht einem Musterkoffer für Dreschmaschinen oder einem Schrank … unmöglich, ein Mann trägt keinen Schrank mit Glastüren auf dem Rücken, wie kommt auch ein Vertiko in einen Expreßzug? His läuft nach vorn, schließlich hat er ihn eingeholt, er bückt sich, schaut ihm von unten ins Gesicht: Er ist's! Die blonde Haarsträhne klebt noch immer über der schweißbedeckten Stirn, die Arme sind sehr mager, die helle, rippige Brust keucht.

»Setz ab und laß dir helfen!« spricht der vornehme rötliche Reisende.

»An der Sperre!« lächelt der Träger und schleift weiter über die lange Anfahrtsrampe des Zuges.

Endlich halten sie vor der Sperre. Sie ist geschlossen. Kein Schaffner steht in der Muschel. Draußen warten Tausende, Kopf an Kopf.

Wie His sich umdreht, nach Ille zu sehen, ist der ganze Bahnsteig hinter ihm leer; der Träger und er sind die beiden einzigen Geschöpfe innerhalb der Rampe. Wunderlich! denkt His und schaut nach einer Orientierung, da die Menge draußen völlig stumm und reglos harrt.

Er sieht ein Schild, aber es steht nicht die Fahrtrichtung darauf, sondern seltsamerweise eines der zehn Gebote: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden! Und dort ein zweites: Du sollst nicht stehlen! His denkt: Kleben die Bibelfreunde ihre Mahnungen schon auf die Fahrtschilder? und sucht nach einer Tafel, die auf den Bahndienst Bezug hat. Endlich! Dort, gerade vor sich, liest er: Du sollst die Sperre nicht durchschreiten, wenn die Schranke geschlossen! – Was soll ich aber dann, wenn niemand öffnet? fragt er sich selbst, schaut auf den immer tiefer sich krümmenden Träger und ruft zu der tausendköpfigen Menge: »So holt doch den Schaffner!«

Aber da zeigen tausend Arme stumm zu den Schildern: Du sollst … und: Du sollst nicht …

»Ja, ich verstehe, es ist alles richtig! Aber seht doch den Mann, wie er sich krümmt, wir brauchen nur durch die Schranke, dann ist er frei! Ruft also den Schaffner! Vorwärts!«

Doch wieder, wie auf ein Kommando, zeigt die tausendköpfige Menge mit tausend Armen stumm auf die Tafeln.

»Soll der Mann hier zusammenbrechen!« schreit jetzt His. »Es gibt Fälle, die nicht verzeichnet sind, bei denen ihr euch selbst zu befragen habt!«

Aber die Menge steht wie Stein.

Da beugt His sich zu dem Träger – und er hört etwas auf die Steine tropfen. – »Sprich du ein Wort! Dich werden sie hören!«

Doch auch der Träger schweigt.

»Rettungslos!« denkt His, faßt mit beiden Händen die kleine Türe der Sperre, stemmt sich gegen sie, zieht, zerrt, ruckt, feuert Tritte dagegen; sie steht wie ein Fels! – Plötzlich sieht er, wie alle Blicke erstarren und über ihn wegschauen.

Der Träger hat sich aufgerichtet, riesenhaft, mit Beinen so hoch wie Signalmaste, die Athletenbrust und Schultern droben im Quergestänge der Halle … in einer Faust schwingt er das Vertiko wie einen Hammer, wie eine Todeswaffe … dort, wohin er es schleudert, wird kein Leben mehr sein! Er selbst aber wird hinwegstampfen über das Gatter, über den Kies der Köpfe, mitten durch die Mauer der Halle, über die Häuser der Stadt wie über Spielzeug im Sand, erst an den Bergen draußen, die seinesgleichen sind, wird er halten! – So steht er da, mit gigantischem Rumpf, doch schmalem Haupt, das helle schweißtriefende Haar tief über der Stirn, Hals, Schulter und Arm gewaltig im Zorn, entkrümmter Sklave … Richter und Riese …

*

Mit dem Gefühl des Sturzes im Gedärm schreckt His empor. Er schaut sich um. Die Kammer liegt im Mondlicht. Draußen am grünen Himmel stehen die Sterne.

Tiefe Stille.

Er ist wie gerädert. In diesem Haus wandeln nachts die Gedanken.

Fort aus dieser dunklen Qual, da keiner eine Lösung wagt, da nur im Finstern die Träume sich zum Mut erraffen!

Die Zunge klebt ihm im Schlund. Er steht auf, tastet ans Fenster, atmet in tiefen Zügen den kühlen Wind der Nacht. Wie eng ist das Haus!

Er tritt in die Schuhe, wirft die Jacke über, geht leise hinunter.

Über der Küche liegt das Mondlicht, dort steht das sauber gerichtete Geschirr. Er denkt: ordnen, planen und sorgen, das können sie! Doch ist es das? Abwägen, Steinchen auf Steinchen setzen, auch etwas daran wenden, wenn Gewinn wahrscheinlich … aber ist es das?

Und plötzlich kommt ihm auch die Reise zum Süden vor wie ein Handel. Greisenalt scheint ihm dies Geschlecht, todesreif, es lebt nur noch von seinen Renten! Und er denkt an Hutten, an Thomas Münzer, an den Geyer, die aus einer Fülle heraus um ihr Leben gespielt und es hinwarfen für eine große Sache, da ein Glaube und eine Meinung noch das Leben selbst bedeutete, und da dieser Einsatz nicht zu hoch erschien! Moder, Überdruß, Staub … ihn dürstet … er faßt die blechene Kanne: Für Marie! denkt plötzlich sein Kopf, und seine Hand zögert. – Unsinn! murrt er jetzt laut, packt das Geschirr: Durst ist Durst! und läßt den kühlen schwarzen Strahl in die Tasse rinnen … zwei Stück Zucker darein … patsch, klatsch … he … nun?!

Es klopft!?

Ein Gesicht durch die Scheiben: Auge und Mund … Genovef?

Er springt hinzu, öffnet: »Du?«

»Hast trunken?«

»Du hier?«

»Trunken??«

»Was ist?«

»Großer Gott!«

»Tust ja …«

»Mach auf!«

Er öffnet, sie schleicht herein, springt hastig zum Tisch, als müsse sie ein Kind vor einer Schlange fortreißen, greift die Tasse, gießt sie hoch im Bogen in den Schüttstein, eiligst, eiligst, Wasser hinein, hinaus, hinein, hinaus, eiligst, und zieht His ins Freie.

»Bist närrisch worden?«

»Still! Still!«

Sie führt ihn quer durch die Wiesen, jählings – er kommt nicht zum Fragen, so eilt sie – ohne zu halten, wie ein Dieb, in den Schatten der Obstbäume biegend. Über Gräben geht's, durch feuchte Trift, durch Buschwerk, über Wildheide, durch niederen Wald, um den ganzen Dorfbann herum, zum andern Ende.

Schließlich stehen sie, beide schwer schnaufend von dem unbegreiflichen Hetzgang, auf einer Anhöhe. Es ist eine steinige Halde auf der Westseite des Dorfes, mit hundert kleinen Einschnitten, Kegeln und Mulden, nur als Schafweide nutzbar; Wildgras, Heide, Lavendel und harte Kräuter sprießen umher, hier und dort ein Ginster und Wacholder.

Dort halten sie.

»Willst mit mir hier tanzen?« fragt His atemlos.

»Hast trunken?!«

»Und wenn ich …«

»Nein! Nein!!«

»Was hast denn, Vef? Tust ja, als war Gift darin …«

»Gift …«

»Wie?!«

Sie nickt.

»Genovef! Spinnst! Schau her! Gift??«

Sie blickt ihn an.

Er erschrickt, wie er in die weißen Augäpfel blickt, die nur das kalte Mondlicht spiegeln und Verzweiflung und den Tod.

»Genovef! Spinnst! Schau her! Von wem dann Gift?«

Schweigen.

»Red!«

Sie rührt sich nicht.

»Marie??«

Sie schaut ihn an.

»Marie … Vef! Deine Schwester?«

Sie blickt auf ihn wie auf einen Fremden.

»Ja … weißt du denn, was du tust?« fragt er mit erhobener Stimme.

Sie richtet sich auf, verscheucht mit einem Wimperschlag ihre Gedanken und blickt mit ihren hellen flachgeschliffenen Augen auf ihn, ruhig, klar, mit ganzer Sicherheit: »Und wenn's mein eigen Mutter gesein …« sagt sie leise und wild.

His schaut sie wortlos an.

»Wenn sie dich auch so umstricket, dich in ihre Fanggrub gezerret, wie all die andern, den ersten Kerl, den Tonys jetzt, den Herrn draußen, der ihr's Auto je schickt und jetzt … dich! O, du junger Has, du kennst sie nit! Sie hat dich an der Ader, ohn du's merkst! Aber ich seh's, ich bin um dich, wenn sie mich auch heimtun wollt, ich han mir das Schächtle hier verschaffet, weißt, so eins mit: Vorsicht! – für Ratten und Marder! – und, so wahr unser Herr Christus sich meiner armen schlechten Seel erbarmen mög, eh sie dich ganz packet und an der Ader nimmt, eher muß sie sterben und krepieren!!«

»Vef!«

»Wärst du nit zwischen kommen, jetzt wär's tan!«

»Mord … Vef!«

»Ja.«

»Zuchthaus!«

»Ja.«

»Henkersbeil!«

»O Herr, bin tausendmal storben diese Tag!«

»Und nimmst ein Menschenleben auf dein Gewissen?«

»Gewissen? – Ich han Gott gefluchet, han ihn angebellt wie ein Hund an der Kette die letzten Tag und Nächt, weil ich Euch so mag, weil er mich so plaget und peitschet mit meiner Lieb, weil er mich mit meiner Lieb in Tod und höllverruchtes Elend treibt! So han ich mit ihm gehadert, daß er mich loskett von Euch, so han ich an mein Schwester gehadert wie ein Giftschlang an ein Roß!«

»Und wenn sie jetzt tot wär!«

»Ich hab noch die andere Hälft … die war für mich!«

»Vef!« ruft His und zieht ihre Arme herunter, als müsse er eine handnahe Gefahr abwehren, »Vef, ist das Liebe, wenn man mordet!«

»Weiß nit … unsere Liebe ist kein Scharwenzelei … an unserer Liebe muß man sterben, wenn man mit ihr nit leben darf!«

»Du Gute!« ächzt His, streicht ihr Haar zurück und neigt sich über ihr Gesicht.

Sie bebt, ihr Körper zittert in stummem Widerstreben. Fester hält er ihren Kopf, fühlt das strahlende Haar, das in schweren Garben zu den Schläfen fällt … »Todesernte!« durchschrickt's ihn … und wieder und heller, mit einem Schlag ihn durchlohend: Das ist's! Das ist's! Der große Prüfstein, der einzige Einsatz: das Leben um das Leben!

Er neigt sich zu des Mädchens Kopf, der fast auf seinen Knien ruht.

Doch sie wehrt ihm, richtet sich auf und spricht: »Laßt mich … es ist umsonst!«

»Wie?«

»Morgen geht Ihr!«

»Still!«

»Nein … habt recht … Ihr seid zu schad für uns!«

»Zu schad …« Er hat sie mit beiden Armen umklammert: »Zu schad!« Das Wort hagelt auf ihn, durchhaut ihn wie ein Schwerthieb, bläst wütenden Zorn in ihm hoch, er faßt sie mit Todeskraft, als müsse er zwei Leben halten vor dem Absturz; doch sie sinken auf den steinigen Boden, tief hin in eine Mulde, umrandet von niederem Gesträuch.

Mehr noch verschleiert der feuchte Mondschein die Sicht. Nebelwolken fliegen übers Land. Die Erde ist nicht mehr.

Wenn nie mehr doch Tag würd! denkt His und streicht über Genovefs Haar … »Wenn nie mehr doch Tag würd!«

Er spürt den strähnigen Glanz in seiner Hand, die Schultern, das Lockern des Armes, der am Kleide nestelt, er hat ihre Faust, öffnet die Sperrige: ein Schächtelchen rollt aufs Geklipp: Der Schädel mit den gekreuzten Knochen!

»Laßt mich!« zerrt Genovef ihre Arme los und will empor: »Ich mag den Tag nit mehr sehen!«

Er reißt sie an sich, kämpft mit ihr, – ihre Hand nach dem Schächtlein krampft – sie knicken, knien, stürzen in die Heide: »Viele Tag noch, Vef … viele Tage!«

Da hat sein Blut die Pforten des Hirns erstürmt.

Der Mond ist versunken.


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