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Eine zarte Waldblöße öffnet sich auf flacher Staffel des tiefen Talgrundes mitten in raumem Nadelwerk, das durchzogen ist von Heidel- und Preiselbeere, umstanden von stolzen Waldbergen in weitem Rund, wo die Zirbelkiefer dem Bären manchen Samen streut. Ein Bächlein schwatzt unaufdringlich, der Schwarzspecht tickt den Zeitengang, die Luft plauscht gedämpft zu Tal, das Haselhuhn pfeift, der Tannenhäher rätscht, der Kreuzschnabel schwirrt von Zapfen zu Zapfen.
An starkem Strunk festgedrahtet liegt das tote Pferd, und hoch im Fichtenwipfel schwebt das Geflecht von Stangen, Ästen, Drähten.
Zwei Tage und Nächte stört kein Lebensatem den stillen Friedhof.
Täglich in entwickelter Frühe, wenn schon kein anwesender Bär mehr vergrämt werden kann, schleicht der Jäger zur Prüfung heran, immer auf jener Seite, die dem gewöhnlichen Wechsel des Bären abgekehrt ist, um ja keine Spurwitterung zu hinterlassen. Am dritten Vormittag findet er frische Losung von Frate Nicolae, und am dritten Nachmittag, kurz nach Tagesmitte, latscht er auf entwitternden Sohlenbrettern von der offenen Seite an die Fichte heran, läßt an der Wurzel des Stammes eine schwere Kuhglocke zurück und verbindet sie im Aufklimmen durch eine lange Schnur mit dem Hochsitz.
Leise schnurren die letzten Hummeln, über dem Luder schwirren metallgrüne Mücken, Rauk, der Totengräber, schlägt düster krächzend seine schwarzen Kreise um das gestörte Alleinrecht der Totenwacht.
Allmählich verturnen die Meisen. Der Abendreif haucht, die Geister der Mondnacht sind erwacht, in lichtdurchschauerter Finsternis weben unsichtbare Fäden von Gespensterhand die Geschicke. Leises Rauschen, körperloses Tappen, glühäugiges Spüren, verräterischer Duft, Gifthauch, Bangen, Huschen, Fliehen, Sprung, Rettung und Tod – um Halm und Kraut, um Blut und Leben.
Urewiger Kampf.
Frate Nicolae hält den Ort; denn nun, da das Glück der Reißkraft im Blut von Herde und Getier vergangen ist, da lange schon die letzte Viehglocke verschwiegen hat, die Hirsche nicht mehr schreien, die Sauen sich noch nicht gefunden haben, ist diese liebe Beerenmatte im Hain der Fichten und Vogelbeeren, der Latschen und Wacholder mit ihren üppigen Kräften an Preisel- und Heidelbeere, Pilz und Ameisenhauf doch noch die treue Spenderin für ureinsame ritterliche Rastzeiten. Nichts stört ihn hierin diesem seinem Garten Eden, nicht Lärm, nicht Fremdduft. Er hat hier schon überallhin im Gekräut seine beerenperlende Losung abgesetzt, bisweilen ein schallendes Reh abgegrämt, einen Marder hinter dem Eichkätzchen gestört, einen unzeitgerecht verzückten Urhahn vertreten, des Haselvolks Donnern verursacht, ja, zweimal die Wolfstucht vertrieben, einmal den Luchs zum Aufbaumen gebracht – das ist alles, was er seine tägliche Abwechslung in dem wohltuenden Einerlei des Geschehens nennen kann. Es vermag ihn daher auch nichts zu stören, Zeit und Ort seines Wechsels nach Gutdünken zu wählen, wie es gerade kommt. Ohne Beachtung des Windes geht es natürlich nicht.
Da hat er gestern auf dem alten Triebweg, als er nachmittags schon auszog, erkaltete Menschenwitterung entdeckt, Witterung von jener Sorte, die als verdammt gefährlich sonst nicht zu spüren ist und auf einmal auf Bäumen umgeht.
An den Spuren hastete der Geruch von totem Fleisch; und diesen Geruch empfand gedämpft Nicolae, als er am Bache abwärts hielt. Er fand ihn auch drüben am Hang in ausgeprägtem Verlauf. Hier ist etwas Besonderes los! Ruch so mitten im Walde, wo solcherlei Gerüche schon lange fremd sind – in der Schleife, wie er sie selbst mit Rind und Schwein gezogen –, das gibt zu überlegen.
Frate Nicolae ist der Lösung des verfänglichen Rätsels in großem Bogen ausgewichen und hat sich fernweg in dicken Busch geworfen, um mählich die Lage reifen zu lassen. Kommt Zeit, kommt Rat! Und tritt er heute nicht den sonst ohne Zeiteinteilung unternommenen Gang zum Beerenklauben erst an, nachdem alle Gefiederten des Tages zur Ruhe gegangen? Und wirft er nicht übermannt auf und lauscht? Unten im Tal tönt tief und ruhig eine Kuhglocke – nochmals, laut und bang wie von verirrtem Vieh. Frate Nicolae faßt im ersten Aufreiz den Entschluß. Fleisch und Blut, warmes Blut! Drauf und dran! In ausgreifendem Trott schneidet er quer durch den Wind; er lauscht. Ist es Rind, ist es Schaf? So plötzlich mitten aus überraschtem Schweigen der Nacht heraus, so ohne Vorzeichen eines Getues, so ohne Anzeichen irgendwelcher Absicht – jetzt in den bereiften Herbstbeeren – fressendes Vieh, abgekommenes Vieh?
Da rührt wieder geruhig zufriedener Klöppel die Glocke. Es ist auf der kleinen Waldblöße, dort, wo die toten Fleischgerüche und die kalte Menschenspur zusammenlaufen. Muß weidendes Rindvieh sein! Frate Nicolae hat den Bach überflohen, jetzt schneidet er wieder schräg in den ungünstigen Wind, setzt über das Wasser zurück, steigt in den Hang, macht Kehr und Windung immer tiefer zu Tal, hin und her über den Strahl, bis er endlich unter Wind gelangt. Das tut er alles recht aufmerksam und bedacht, zwischendurch wiederholt lange verhoffend. Je näher er der kleinen Blöße kommt, um so langsamer wird sein Trott. Bleischwer latscht er heran. Er hat kein rechtes Zutrauen. In weiter Kreisbucht umstreicht er das Gefälle, und jetzt hat er die ganze kleine Waldwiese in den trinkenden Nüstern. Süßer Duft toten Pferdes füllt seinen Windfang, sonst nichts, kein Geruch lebenden Rindes, lebenden Schafes. Wo ist das Vieh? Bim – bom – gelassen schaukelt da auf einmal die Glocke, kurz vor ihm, unter jenem Baum, nahe bei dem toten Pferd. Frate Nicolae steht wie gebannt, wie verzaubert. Und die Glocke meldet wieder langsam und träge ziehendes, weidendes Vieh, und es ist keins. Nicolae schleicht zur Seite hinauf, kehrt um, schleicht zur Seite hinab. Lebende Kuhglocke an alttotem Pferd hat er noch nie erlebt. Das Fleisch zieht und lockt, Mißtrauen stößt ab, warnt. Langsam, kaum tretend, wendet er schief zum Wind; und je weiter er kommt, um so mehr beschleunigt er den Trott. Einmal noch hält er lange an und lauscht der tief und anheimelnd schlagenden Glocke. Ihr Klang ist ihm ja so beruhigende Musik, denn wo der ist, da ist Leben für ihn. Diesmal aber ist es Tob. Frate Nicolae ist nicht mehr dorthin zurückgekehrt.
Bald soll er erfahren, daß er gut getan. Nächsten Frühabend, da noch die Mistel- und Wacholderdrosseln in den Sträuchern lärmend knackern, ist er auf den Sohlen, wenn auch mit Vorbehalt und Bedenken; er möchte einbringen, was er im Suchen und Kundschaften der gestrigen Nacht versäumt: dem aufstoßenden Hunger die Sättigung an dem Beerenzeug zu schaffen. Eben will er aus dichtem Hochwald durch Stangenholz in räumdigen wacholder- und fichtenverstruppten Beerenhain einwechseln und verschmäht es diesmal, den umständlichen Umweg zum Windholm einzuschlagen. Er hat ja kaum einige zehn Gänge in nahezu voller Luftstille zu machen. Da regt sich am Hainsaum so merkwürdig die kleine Fichte; er zögert im Schluren, er äugt grünen Umriß, und schon erfaßt er auch die Meldung der Gefahr, Menschengeruch. Spuckend sträubt er zurück und flüchtet mit mächtigen Sätzen davon.
Der Jäger, der, den Rücken gegen den Bären gewendet, den drübigen Hang durch das Glas eben abgesucht hat, greift im Geräusch leisen Zweigknackens nach der Büchse und blickt in der Wende mitten in die starrend auseinandergerissene Bärenfratze; er sieht im nächsten Augenblick schon den Absprung und kann mit der Ziellinie die verschwindende Flucht des Bären nicht fassen, des Frate Nicolae, dieses Großen der Bärenwelt, um den er sich bisher stets erfolglos bemüht hat.
Frate Nicolae jedoch weiß nun um den Zusammenhang kalter Menschenspur mit totem Pferd, lebender Glocke mit grünem Mann und verschwindet mit voller Überzeugung aus diesen paradiesischen Gründen, dem Garten Eden. Und das tote Pferd harrt lange noch vergeblich der Bestattung, bis sich endlich die Wolfstucht seiner annimmt, als längst schon der Jäger seiner Wege gezogen.