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Der Bärinmutter Ende

Monde steigen und sinken, das Nachtlicht wächst und schrumpft, Herden kommen und schwinden, Blut fließt und versiegt – Herbst welkt heran, Bäume flammen in rotgelbbunten Sterbensfeuern empor.

Da schreit es gegen den Himmel von Blutschuld, Mord, Tod und Rache, denn die Bären haben sich erschreckend vermehrt und gefährden Mensch und Tier der Berge. Es muß etwas geschehen, um dem ruchlosen Treiben Einhalt zu tun. Die Gemeinden klagen lauter und weiter als ihre Viehherden unter der Bären Brantenschlag und heulen nach Schadenersatz zu dem erbarmungslosen Wildhimmel empor: Der Jagdpächter allein ist schuld, denn er züchtet die Bestien, schont die führende Bärin, schützt die Jungen, damit sie sich noch mehr vervielfältigen. Es muß etwas geschehen! Der Herr Jagdpächter muß mit Bärendecken einstehen, ansonsten erhält er die Jagd nach Ablauf der Vertragsdauer nicht mehr. Der Herr Jagdpächter aber freut sich händereibend tief innerlich, daß die Bären recht gute Ansätze zu baldiger Verdoppelung und Verdreifachung zeigen und sich recht anerkennenswert erdreisten, die wald- und wildverseuchenden, ohnehin übermäßig angehäuften Herden zu zehnten; und doch muß er zur Glättung dieser heulenden Volksstimmenbrandung etwas aufweisen, so etwas wie eine Tat, die jene als großen Erfolg mit unberechenbarer Auswirkung werten und feiern werden. Dabei wird er seine eigene Meinung über solch unberechenbaren Gewinn still für sich behalten, ist er doch Jägers genug und hat so seine Anzahl von Bären auf die Decke gebracht, um sich sein Urteil über Wert und Unwert der Vernichtung eines einzelnen Lebens bilden zu können ...

Diejenigen, die es am meisten angeht, äsen sich während dieser Anklagen und Verurteilungen friedlich im Beerenfeld und erkennen nicht, daß sich über ihnen die Wolken dunkel zum Gewitter ballen. Wie schon lange nicht, sind Heidel- und Preiselbeeren gediehn. Rauhbautz und Mutz können sich nicht satt wundern an dieser Pracht und Fülle eines freischenkenden, zwiefachen Angebots. Unter Mutters vorsorglichen Sinnen sind sie selbst baumrund aus den beiden Jahren emporgewachsen. Es fehlt wahrlich nicht viel, und sie haben, wenn auch noch nicht Mutters Muskelkraft, so doch ihre Standgröße erreicht. Rauhbautz samtschwarz mit eitlem Weißschlips geschmückt, Mutz eulengrau mit silbernem Reif überhaucht, Mutter dunkel mit hellen Kragenschildern verjüngt, so trotten sie in stattlichem Aufzug am frühen Nachmittag schon, da die Schatten eben zum First der Sennhütte hinaufklimmen, gemeinsam aus dem gedämpften Fichtendunkel auf den Sennplatz hinaus. Bloße Gewohnheit ist es, wenn die Alte noch führt, denn sie lassen sich jetzt nicht mehr bemuttern und bevormunden, haben ganz ihren eigenen Willen, haben sie es doch in des Lebens wechselnden Lagen gelernt, sich selbständig zu bewegen. Oft genug gibt die Alte klein bei und folgt einem guten Gedanken, einem gesunden Entschluß ihrer erwachsenen Söhne. In manchen Dingen sind die noch unbeeinflußt, unbetört und sehen den Dingen ungetrübt entgegen. So erhält die Alte gewiß wohltuende, vorteilhafte Auffrischung.

Wie federnder Moosteppich deckt dungfettes Grummet den seit zwei Monden ausgeruhten Boden. Dieser Sennhütte haben die drei in gemeinschaftlichem oder einzelweisem Raub gar manchen kostbaren Gewinn, manch bleibende Erinnerung zu danken. Schafgeblök, Hirtengejohl, Hundeboll, Treibruf und Abwehrschrei – blutiges Röcheln aus stiebender Wolle, Fleischhunger, Raubdurst, das rauscht düsterschwül nach in ihren Erinnerungen; und immer, wenn sie Ihren Paß in das Beerengekräut nehmen, richten sie es sich so ein, daß sie an der schlafenden Hausung dieser Triebwecker vorbeigrasen; und jedesmal, wenn sie aus dem Zwielicht des Fichtensaums hervordunkeln, ist es ihnen, als ob da alles wieder auferstünde; und es will ihnen immer noch nicht das viehgemeine Gras behagen. Sie raufen wie zum Schein einige Mäuler voll und wenden sich dem alten Steinpfad zu, der sie den Talbach entlang in die Beeren führe soll ...

Gerade während dieser Wende geschieht es einmal, daß zwei flüchtige Schatten oberhalb der Sennhütte hinstreichen, dort, wo die beiden Ränder des Grasplatzes sich zum Steilweg nach aufwärts verengen, um nach kurzer Rast in die wacholderbebuschte Bergheide bis hoch hinauf zu den Schroffen und Klüften der Gamswelt überzuleiten – gerade diese Zeit ist es, gerade dieser Ort, da in die herbstliche Unberührtheit der Alpenwelt ein Mißton fällt: zwei Männer treten auf, und diese Männer haben Blut im Sinn, Beutegier im Blut, Lust nach dem Fell der Bären.

»Sie sind da«, flüstert als erster, überrascht und wie gebannt, der Junge.

»Nieder!« winkt der Alte und prüft unverhohlener Sorge voll den Wind. »Die Luft streicht quer. Wir müssen uns beeilen und näher pirschen, bevor sie in unsern Wind geraten. Für den Schuß sind sie zu weit. Mir nach, Siegfried! Tritt in meine Spur, langsam, leicht, leise!«

Und sie ziehen wie Schlagschatten, langsam, leicht und leise ihren lüsternen, düsteren Schlich durch den Bräm der Senne. Dichte Fichten sind zwischen die beiden Männer und die drei Bären gepflanzt. Hoch über den scharfen Wipfeln leuchten die schneebefallenen Berghäupter stolz in die blaue Himmelsweite hinein. Noch einmal sieht Siegfried durch eine Astlücke den silbernen Jungbären im Übermut einen Fichtenstamm am drübigen Waldsaum hoch umarmen, und schon ist jede weitere Sicht durch schirmendes Astwerk verdeckt. Kein Steinchen knirscht unter den Sohlen der Schleicher, jeder Tritt bettet sich, geschmeidig und weich streichelnd, auf ein kleines Plätzchen Gras, auf eine grüne Schleife, auf eine Rasenkaupe. Dreißig Schritte nur, und sie haben die steile Lichtung offen vor sich. So wie der Luchs, verwachsen mit dem Boden, vergesellschaftet mit den angeflogenen Kusseln, das Rottier beschleicht, so drücken sie sich, die Waffen im Armbug, den Finger am Züngel, unter den letzten auflichtenden Fichtenfächern hervor. Die Augen gleiten und fressen um das Fichtengerähmt herum. – Der Platz ist leer. Luft streicht, an den rotüberschmolzenen Abendbergen abgleitend, hoch über sie hinweg.

»Es kann nicht sein, daß uns der schiefe Wind verraten hat«, flüstert der Alte. »Die Bären haben die Geräusche, die wir selbst nicht gehört, auch nicht vernommen, und die Fichten, die die Bären deckten, haben auch uns gedeckt.«

Sie treten eilig, aber immer noch vorsichtig auf den Sennplatz. Tief verstaucht stehen die breiten Spuren im polstrigen Gras.

»Sie können nur den Paß zum Beerenfeld genommen haben. Gehn wir behutsam nach!« Der Alte hält, durch das Glas über die Fichtenwipfel vorsuchend, inne in seinem Satz und reicht dem Sohn den Gucker hin: »Sie sind schon in den Beeren. Man sieht sie alle drei.«

Über Siegfrieds Gesicht fällt der Widerschein der letzten Abendröte. Vater hat ihm noch nicht gesagt, was nun geschehen soll; in gespannter Erwartung hängen die Augen des Sohnes an seinen Lippen.

»Heute sollst du deinen ersten Bären erlegen!« fällt es in die auflauschende Stille. »Die Bären sind uns sicher. Nimm hier meine schwere Büchse!«

In Siegfrieds Augen strahlt die Sonne auf. Selbst soll er sich das Weidmannsheil erringen, und so nimmt er den Vortritt. Vater folgt ihm wortlos. In dem Sohne ist der Jäger geboren, das zeigt jeder Tritt. Sie dringen achtsam in den Wald ein, nehmen die Wegspur der Bären, dringen in den schütteren Hain. Über dem strudelnden Bach steilt sich das Beerenfeld, locker von Jungfichten und Wacholder bedeckt, von erlenverblendeten Rissen durchschnitten. Vertraut, ohne aufzuwerfen, mummeln die drei Bären in dem üppigen Gekraut. Eine Fichte, eine Erdwelle zur Deckung nehmend, pirschen Vater und Sohn sich auf dem Pfad in Baumhöhe an den sturzwelligen Bach heran. Drüben schieben sich die drei – Mutter und Söhne – im friedlichen, langsamen Steigen und Sinken durch das Gestaude.

»Nimm den Stärksten aufs Korn, ziel ruhig, beeil dich nicht! Wir haben Zeit.« Der Vater spricht so gelassen, als redete er vom Wetter. Kühlend und beruhigend fließen die Sätze über Siegfried hin. Er streicht an, schneidet scharf ins schwarze Ziel. Der Schuß bricht – Sturz, Überwalgen, Gebrüll – »Getroffen!«

Der Bär wird hoch, rappelt sich aus dem Gesträuch, die beiden anderen äugen verblüfft, folgen, und alle drei mühen sich, schwer ein- und austauchend, querhangs hin. Noch ein Schuß, ein dritter als Fangschuß. Auch der Alte schießt. Aufbrüll – Sturz. Die Bären sind im Unterwuchs versunken.

»Siegfried, dein erster Bär!« Der Vater sagt es in feierlichem Stolz erhebender Genugtuung. Siegfried findet kein Wort, und in seinen immerfort suchenden Augen schwimmt tränenrührend das Glück einer hohen Stunde. Er möchte gleich hinüber, doch Vater meint, die Nachsuche müsse in Ruhe gemacht werden, und dazu sei heute keine Zeit mehr. Also noch eine ganze Nacht voll Geduld und froher Erwartung, bis der erste Bär vor Siegfried liegen wird. Und wie sie davongehen in die kahle Herbstkälte hinauf, da hebt sich langtönend, gezogen verhallend im drübigen Getann ein Geisterruf, ein Such- und Wehruf des Bären: Hoh, hoch, hochhoho – wiederholt sich, irrt weit weg, steigt zu Tal, verhallt, lebt wieder auf.

Weh – – oh – weh! Schaurige Nachtrufe der Berge.

Was ist aus dem Dreierglück geworden? Brechender Knall, Schmerzgestöhn, Schweißausbruch, Wanken, Stürzen, Wühlen, Knall über Knall und wieder aufschneidendes Gebrüll, Todesgeröchel, Todesgeruch. Fort, nur fort! Mutter kann nicht, Mutz bleibt zurück. Rauhbautz überlegt, schnappt schweißwitternd auf, fällt in Todesangst, flüchtet, flüchtet gepeitscht in wehes Alleinsein hinein. Die Mutter liegt irgendwo leblos, der Bruder versagt, tut sich seitwärts ab; und da bricht es Rauhbautz in Jammer und Seelenschmerz tief aufgurgelnd aus hohlem Innern hervor, ein Klagen – Anken: Ho, Hoh, hoohoh – oh, oh, oh! ...


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