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62. Ergebung

Auf den Knaben hinzublicken, wie er von Lamettries Mantel warm umhüllt im Schnee gebettet lag, tat dem Greis unendlich wohl. Ein Schnarchen, das zuweilen durch den Schneesturm hindurch vernehmlich war, zeigte an, daß Friedel sanft schlief unter dem niederhängenden Gezweig der Wettertanne. Ringsum aber schnob und pfiff der Sturm. Schon hatten die Flocken im Schutz des Granitsteins eine weiße Bedachung gebildet, und so konnte das Schneetreiben noch weiter gehen, vielleicht die ganze Nacht hindurch.

War es nicht besser, einen letzten Versuch zu machen, auf jenen Weg zu gelangen, der durch eingepflanzte Stangen bezeichnet war? Unschlüssig beobachtete Lamettrie das Wetter – es tobte, ohne die geringste Aenderung zu zeigen ... Oder –?

Jetzt kam es dem Alten so vor, als lasse das Flockengestöber nach, eine benachbarte Felsengruppe mit Knieholz wurde sichtbar. Der Moment schien günstig. Das Kind lag bis auf Weiteres geborgen und würde weiterschlafen. Lamettrie betastete es sacht, ob es auch nicht kalt sei. Das junge Körperchen versprach die nötige Wärme zu behalten, dank dem Pelzmantel, der es umhüllte. Der Alte richtete sich auf und kroch behutsam aus seinem Schlupfwinkel hervor, um ja keinen Schnee zum Niederstäuben zu bringen. Noch einen Blick warf er zurück – der Knabe lag ganz ruhig. Nun konnte das Stapfen losgehen.

Lamettrie hatte sich einen Plan zurechtgedacht: Aus der Lage des Hanges schloß er, daß die Baude in etwa zehn Minuten zu erreichen sei, immer schräg aufwärts mußte er klimmen.

Zunächst kam er flott vorwärts, obwohl das Flockengestöber dicht wurde, und vom Steigen über unebenen Boden, bei dem Sturm, der schräg ins Gesicht blies, das Atmen immer schwerer fiel.

Schon regten sich Zweifel, ob er das Ziel erreichen werde – da, zu seiner Ueberraschung glaubte er – durch den plötzlich dünneren Schleier des Schnees hindurch – ein Gebäude ragen zu sehen. Gleich darauf freilich war der Ausblick wieder benommen. Immerhin hatte ihn die tröstliche Erwartung angefeuert.

»Halloh, ho!« rief er – die Stimme war kaum hörbar im einförmigen Pfeifen des Windes. Auf einmal brachte ihn seine Hast zum Rutschen – und da lag er.

Er hatte sich seinen Ellenbogen an einem Stein verletzt. Als er nach Minuten mühsam wieder aufstand, um zur Baude emporzuklimmen, zeigte sich: was er dafür gehalten hatte, war nur ein ragender Granitblock. Wildnis, wüste Felsen und Wettertannen, trostloses Schneetreiben ringsumher ...

Da ward ihm klar, wenn er sich jetzt verirrte, ohne dorthin zurückzufinden, wo sein Schützling vertrauensvoll schlief, konnte Unglück entstehen – die Finsternis würde noch viele Stunden anhalten, und wer weiß, ob sich Friedel nicht eine Erkältung zuzog.

Nein! das liebe Kind durfte keiner Gefahr ausgesetzt werden. Er wollte es bewachen und behüten! Vor allem aber mußte er es wiederfinden!

Er schrak zusammen – vor ihm stand das Gespenst des zurückgelassenen Kindes, wie es nach Stunden des Schlafs kalt erwachen könnte und sich dann einsam, ganz im Dunkel finden würde, während der Schneesturm heulend tobte. Friedel würde rufen, sich ängstigen und weinen. Wenn er nur seinen Platz beibehielte! und nicht gar den wärmenden Pelz verlöre! Im Schnee versinkend, konnte er bei dem rauhen Sturm erfrieren ... oh! Es schauderte den Greis, der sich auf einmal matt fühlte.

Die noch vorhandene Kraft des Gedächtnisses nahm er zusammen – jeden seiner Schritte mußte er ja wiederfinden, bevor sie vom Schnee völlig verweht waren. Das Rufen wollte er möglichst unterlassen, um Friedels Schlaf nicht zu stören.

Der Gang ließ sich gut an – es zog sich eine Furche im Schnee – und wenn auch schließlich ein dicker weißer Teppich darüber lag, die frühere Spur war noch zu erkennen. Auf einmal aber stand er stutzig zwischen Knieholz und einer überschneiten Tannengruppe und war am Wege irre. Doch siehe, unter tiefhängendem Schneedach beim Felsen lag etwas Dunkles, und das war sein Friedel, der noch immer schlief. Beglückt atmete der Alte auf. Dann schlüpfte er unters Schneedach und legte sich neben seinen Schützling.

Und von neuem lauschte er auf das Winseln des Schneetreibens, auf das Sausen der Tannenwipfel. Er malte sich aus, wie das wüste Wetter endlich doch vorübergehn würde, wie er nun Friedel wecken und ohne besondere Schwierigkeit zur warmen Baude bringen wollte ... Oh! wie würde dann die heiße Milch wohltun! Wie wollte man sich freuen des geretteten Lebens!

Er, Lamettrie, war allerdings schon bejahrt, immerhin noch sehr rüstig, wie ja das Aushalten dieser Sturmstrapaze nach stundenlanger Gebirgswanderung erwies. So konnte er vielleicht noch ein Jahrzehnt seinem Friedel Helfer und Berater sein. Würde er dann sterben, so wäre aus seinem Leben noch zu guter Letzt etwas mehr geworden als ein kümmerliches Bruchstück.

Sterben – ja alle müssen wir das – und es hat keinen Sinn sich einschüchtern zu lassen durch die Vorstellung, das Leben könne plötzlich erlöschen. So lange man sich noch spürt, so lange sitzt der Reiter im Sattel und kann das Roß zu einem Ausweg lenken. Also warten wir ab! –

Horch! war das nicht eines Mannes Ruf? Der suchende Forstmeister vielleicht? Doch nein! eine blöckende Baudenkuh war es wohl. Vielleicht weht der Sturm solchen Laut her. Dann läßt sich vermuten, wo etwa die Baude liegt. Aber Rufen will ich lieber unterlassen, um Friedel nicht zu wecken, möglicherweise war's auch wieder Täuschung ... Gespannt horchte Lamettrie – minutenlang. Aber nur der Sturm schnob und wogte, immerfort sprühten die Flocken, nichts war's mit dem Ruf und dem Kuhgebrüll ...

Nur nicht verzagen! Das ist die Hauptsache, wenn man retten will. Ein Erstaunen kommt mir darüber, daß Menschen überhaupt Furcht hegen können, sich wohl gar von Verzweiflung übermannen lassen. Als ob nicht sterben das sicherste Los aller Geschöpfe wäre.

Mich fröstelt! Zwar der anstrengende Versuch, zur Baude zu gelangen, hat in meinem Körper die Verbrennung verstärkt, aber nur für kurze Zeit, und jetzt kühlt der Frostwind um so mehr ab ... die Zähne fangen an zu klappern. Mein Pelzmantel hatte mich verwöhnt. Sterben werde ich ja nicht daran – vielleicht werde ich noch älter als achtzig Jahre. Und nachher könnten Hulda und Helmut für Friedel sorgen. Oh welch ein Segen, daß ich sie gefunden habe! Sonst würde ich grilliger Sonderling doch nur Schaden anrichten. Eigentlich sollte ich mir sagen: Wer sich so lange von einem düsteren Lebensbild beherrschen ließ, ist zum Erzieher verdorben und sollte die Hand davon lassen ... Aber Friedel hat nun mal mein Herz. Und jetzt gilt's, ihn aus allen Schwierigkeiten herauszubringen.

Ihn schauderte. Durch Bewegung mußte er sich erwärmen. Er spähte nach dem Kinde; es atmete friedlich in seiner Umhüllung – wie gut, daß er den Pelzmantel mitgenommen hatte!

Gebückt kroch er unter den schneebedeckten Zweigen hervor und schlug mit den Armen heftig gegen seine Schultern, bis sich wohltuende Wärme einstellte. Dann legte er sich wieder an Friedels Seite ...

Sein Sinnen nahm er wieder auf: Dies Ich, ja, das muß – wie der Vogel Phönix im eigenen Neste – flammend sich verzehren, aber es hinterläßt ein Ei, und ein neuer Phönix muß aus der Asche auffliegen. Keine leere Fabel ist das! Phönix ist ja die Sonne, wie sie aufgeht, ihre Himmelsbahn durchfliegt und im Westen untergeht.

Auch ich werde untergehen, aber der Tod bringt uns zu neuen Formen des Lebens ...

Fiel da nicht etwas vom Nadelgezweige? War das Schneedach herabgerutscht? Glücklicherweise nicht ins Gesicht des Kindes, das ruhig weiter schlief. Indessen fehlte nun dem Unterschlupf die Bedachung; kälter und zugiger wurde es daher.

Aber dann auf einmal war er in der warmen Baude, wo der Forstmeister aus seiner Pfeife paffte. Jene Alte glaubte er zu sehen, die so wunderlich gemurmelt hatte, als sie den Pelzmantel beschnüffelte. Was sagte sie doch? Ein Gesicht von der Zukunft war das – ob ich alter Knabe dann noch am Leben und nicht erfroren bin, steht dahin. Aber das ist ja gleichgültig! ...

Horch! ein Schuß fernher. Also jetzt haben sie eine Flinte und Patronen aufgetrieben! Jetzt, wo ich gerade mollig zu ruhen anfange! – Aber ja doch, ich komme gleich! Nur noch ein wenig Kraft möcht' ich mir sammeln ...

Wo war ich denn mit meinen Gedanken?

Ah richtig, das alte Weib! Was meinte sie? Vom schlesischen Wandersmann sagte sie etwas, einem Cherub soll er gleichen ... Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun, noch Hier; je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir ... Ja, so ist es. Und – indem sie Licht verbreitet, verzehrt sich die Kerze ...

Horch, wie die Schellen am Riemenzeug der sibirischen Pferdchen klingeln. Behaglich reist es sich durch Sibirien im Schlitten – sogar durch Schneegestöber – wenn man in seinen Pelz gemummelt ist. Und er glaubte seinen Mitreisenden sagen zu hören: Bloß soll man sich davor hüten, im Schnee auf eiskaltem Erdboden einzuschlafen – sonst erfriert man!«

Und im Heulen des Schneesturms tönte es orgelhaft wie ein Choral ...


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