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Den Greis überkam ein Zittern, und wankend tastete er sich wieder zurück in die Kapelle, wo er auf eine Bank niedersank. Allmählich schien er sich zu fassen. Mit scheuen Seitenblicken betrachtete er seinen Helmut, der neben ihm Platz genommen hatte. Tonlos wiederholte jeder von Beiden: »Blutsverwandt?« Als des Onkels Auge ängstlich zu Gerhart irrte, nickte dieser ermunternd. Und ihm, der doch sonst so beherrscht war, bebte die Lippe.
Zum Altare starrend, glaubte der Onkel auf einmal Julia zu sehen, wie sie ihm zulächelte ... Aber gleichmütig ging der Uhrpendel hin und her, als habe sich nichts ereignet. Und doch wußten die drei Männer, daß jetzt die Hülle von einem bedeutsamen Schicksal fiel.
Der Onkel wurde unruhig und sagte: »Gerhart! antworte mir auf das Eine! Julia – sie ist nicht mehr am Leben?«
»Nein! aber erst vor neun Jahren ist sie entschlafen – ganz unvermutet, wie ich gehört habe.«
»Helmut«, hauchte der Greis, ihn bang anstarrend, »und Deine Großmutter? sagtest Du nicht, auch sie sei kurz vor Ausbruch des Weltkrieges gestorben? Sie war doch auch eine geborene Erlenbach, hängen diese Erlenbachs zusammen? und wie denn?«
Helmut schnellte empor, erschrocken griff der Onkel nach seiner Schulter.
»Ja«, sagte Gerhart und atmete auf – »Helmut selber konnte es vermuten, hat es aber nicht glauben wollen, daß Deine Julia ebendieselbe Person sei wie seine Großmutter.«
Erschüttert starrte ihn der Onkel an, es zuckte in seinem Gesicht.
Gerhart aber blickte seinem Freunde mit heiterer Festigkeit in die staunenden Blauaugen und streckte ihm die Rechte hin: »Helmut, meine Glückwünsche dem Bräutigam Huldas – und dem Enkel Lamettries! ... Siehst Du nun, Du trotziger Eigenmensch, man kommt nicht los vom Verhängnis seines Lebens, kein Schmollen beseitigt unsere Vergangenheit. Unsere Mutter, der Vater, die Ahnen – das alles – so sagtest Du selber ja – das bist Du. Und Deinen Großvater, nach dem Du einst mit grimmigem Interesse forschtest – neben Dir sitzt er nun leibhaftig! Hoffentlich bist Du mit dem Blutsverwandten nicht weniger einverstanden, als er mit Dir?«
Während dieser Worte hatte Gerhart seinen Freund sanft dem Onkel zugewendet, und wie Helmut wahrnahm, daß ihn sein Großvater mit einer rührenden Schüchternheit von der Seite betrachtete, übermannte den spröden Jüngling das Familiengefühl – es war ihm zumute, als ob seine Großmutter bei ihm stehe und ihm zurede: »Sei doch gut!«
Und das war er. Neben Lamettrie sitzend, legte er den Arm um dessen Nacken und lehnte seinen Kopf an die Greisen-Schläfe, eine kindliche Zärtlichkeit wallte in ihm auf: »Großvater!«
»Mein Junge!« jubelte Lamettrie und drückte den Gewonnenen an sich. So verweilten sie stumm und atmeten neue Zukunft.
Dann wandte sich der Alte an Gerhart und umarmte auch diesen: »So treu und klug, so tatkräftig und taktvoll, und so nachsichtig, trotz meiner Gereiztheit, bist Du bei all den schwierigen Nachforschungen gewesen, daß ich froh bekenne: »Du und Huldchen, Ihr habt mich aus meinen Verwirrungen gerissen, wie aus dem Rachen eines Alligators – und habt mich frischem Leben geweiht, einem sinnvollen; Helmut, Sohn meiner Tochter, und Enkel meiner Julia! In den Jahrzehnten, da Furien mich durch die Welt hetzten, hast Du Helmut das Glück genossen, zu besitzen, was ich Verblendeter versäumt habe: Liebe hat Dich umhegt! Nun erzähle mir davon, und laß den Verschmachteten vom Quell des Lebens trinken! Geh'n wir wieder ins sonnige Grün!«
Als der Onkel mit den beiden Jünglingen auf die Kleewiese hinaustrat, atmete er tief die Maienluft, und wandte den strahlenden Blick ins Blaue: »Die Lerche, die dort niedersinkt zu ihrem Neste, mag das wohl dieselbe sein, die wir vorhin emporsteigen sahen. Inzwischen – oh welch Heil hat sich derweilen entfaltet, und dieses Kleefeld, besteht es denn aus lauter vierblättrigem Glücksklee?«
Es war ein stilles Jauchzen, mit dem er sich in die Kräuter niederließ; ihm zur Rechten und zur Linken saßen Helmut und Gerhart.
Nach einer Weile stummen Schauens in die lächelnde Landschaft nahm Helmut das Wort: »Erzählen also soll ich von ihr, meiner Großmutter – oder wie Du sie nennst, von Deiner Julia, die eigentlich Marie Erlenbach hieß. Wo soll ich da anfangen? Und wie das alles ordnen, was auf mich einstürmt? Ein zurückgezogenes Leben, aber ein reiches. Reich an treuer Liebe und gewissenhafter Erfüllung gegebener Pflichten – reich an Arbeit und Entsagung – bescheiden, daher in den Augen der Welt recht unscheinbar! Und doch von einer stillen Größe ...«
»Also alles, was mir fehlt« – sagte der Onkel wehmütig – » sie hat es gehabt.«
Helmut schien nicht zu achten auf diese Zwischenbemerkung und fuhr in seinem Bericht fort: »Von Düren, diesem Städtchen der Rheinlande, wo sie ja ursprünglich wohnte, hat sie sich nach Münden gewandt, nachdem sie Mutter geworden war.«
Hier zuckte der Onkel wie unter einem Peitschenhiebe. Helmut, der es merkte, suchte zu beschwichtigen: »Denke aber ja nicht, daß sie vor dem Gerede der Leute hätte flüchten mögen – keine Spur hatte sie von Feigheit. Mit heiterer Ergebenheit, so berichtet ihr Bruder ...«
»Ihr Bruder?« unterbrach schüchtern der Alle, »ist das jener halbwüchsige Schüler, dem sie Hausmütterchen war?«
»Jawohl! Forstmeister Erlenbach ist es, derselbe, den ich in seinem Ruhesitz Tübingen dieser Tage heimgesucht habe, und der Dir Genaues berichten kann«, gab Gerhart zur Auskunft.
»Oh!« lächelte der Onkel – »Julias Bruder Karl! Und er ist mit Dir gekommen? Gleich hat er sich aufgemacht? hat sein behagliches Nest verlassen, einem alten Mann zu liebe, der doch treulos war?«
»Ja freilich, und er kann Dir vieles aus ihrem Leben erzählen. Er selber allerdings ist jetzt ein alter Mann – Mitte sechzig etwa, aber noch äußerst rüstig – wie ja auch Du noch von erstaunlicher Frische bist, Onkelchen! Auf den Schachthof also hab ich den Forstmeister Erlenbach von Tübingen mitgebracht. Es ist eben der Gast, den ich Euch angekündigt habe. Hulda und Tante Belling freunden sich gerade mit diesem prächtigen Knaster an.«
» Hin zu ihm!« rief der ungeduldige Alte und erhob sich elastisch. Helmut zögerte und meinte mit Befremden: »Weshalb Großvater, weshalb fragst Du gar nicht nach meiner Mutter?«
Staunend fuhr der Onkel wie aus Versunkenheit empor und mußte sich sammeln. Mit leisem Lächeln ihn betrachtend, fuhr Helmut fort: »Meine Mutter ist doch Julias Kind und ist entscheidend gewesen für unser ganzes Familienschicksal.«
Ein Stutzen der Verworrenheit hatte der Alte und griff sich an die Stirn: »Ach ja freilich, Helmut! es war mir zu Mute, als seist Du mein Kind. Also ein Mädchen war es! Dann natürlich – Deine Mutter ist das Bindeglied. Ich war eine Weile ganz irr von allem, was auf mich einstürmte. Konnte wohl nicht fassen, daß ein Halbjahrhundert vergangen ist, seit ich Julia verließ ... Und ach, das ist es, ihr Kind hab ich nie gesehen, ich, der Rabenvater, habe mich ja nie gekümmert um das arme Wurm –.«
»Armes Wurm!« lachte Gerhart – »das arme Wurm hat Dich wohl kaum vermißt; denn ihm stand ja eine so tapfere Mutter zur Seite. Und wie ich höre, ist das Kind zu einem gesunden und schönen Mädchen herangewachsen, das den jungen Arzt Burger geheiratet und diesen strammen Krieger hier, unsern Kosmos-Philosophen Helmut, zur Welt gebracht hat. Nun freilich ist sie dahingerafft worden – durch eine akute Krankheit.«
Tränen traten dem Greis in die Augen, und nach schweigendem Sinnen erhob er sich seufzend: »Menschengeschick! All unser Leben bleibt Bruchstück.«
»Bruchstück ist, was wir davon sehen«, erwiderte der Enkel Lamettries.
»Du willst wohl geltend machen«, meinte der Alte, »daß man nicht alles zu sehen bekommt.«
Helmuts Antwort lautete: »Unübersehbar freilich, ja unendlich verzweigt und verwickelt ist jedes Menschengeschick.«
»Mit Spürsinn aber und zähem Forschen« – triumphierte Gerhart – »so bekommt man's zuweilen dennoch heraus. Und vom Glück begünstigt muß man sein.«
Helmut schränkte ein: »Aber das betrifft doch nur die äußeren Umrisse. Von Seele – ja was wissen wir von der, und das Rätsel, wer bin ich? Den Sinn des Ganzen, was durchschauen wir davon ...? Aber nun soll uns der Bruchstück-Charakter des Lebens nicht kümmern ... Siehe, da kommt ja Onkels Auto. Nun also wollen wir zusammen heimfahren zum Schachthof!«