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61. Vergebliche Versuche

Sie setzten sich auf einen Schneewall, mit dem Blick ins Tal, das jetzt in Abendsonne lächelte. »Päterschdorf«, vermutete Friedel.

Die Ortschaften in der Ferne konnten den verirrten Kamm« Wanderern nichts helfen. Doch lieblich waren sie anzuschauen, und für kurze Zeit begeisterte sich der Knabe an dem Anblick. »De Abendburg!« schwärmte er und deutete auf eine Spiegelung des Abendpurpurs in den Fensterscheiben einer Hütte, die am Berghang lag – sie sah wie ein aufgeblühtes Wunder aus. Dann wieder fuhr er mit dem Arm entgegengesetzt nach der dunkelforstigen Gebirgswege, wo Felsenzacken ragten und noch Wolkenballen lagen. Er faselte: »Das sain die Draisteien!«

Sein Aufmerken wurde gefesselt von einem Eichhörnchen, das über die Schneefläche hastete, den buschigen Schwanz wagrecht gestreckt: »A Aichhernle! do humpelt's!«

Der Alte war in Sinnen versunken, dann stand er entschlossen auf: »Versuchen wir's mal mit dem Abstieg! Vielleicht, daß wir da zur Zackelfallbaude gelangen. Ich werde Dich tragen

Erst stutzte Friedet – dann hockte er sich auf des Alten Rücken, und nun ging es abwärts, weglos im dicken Schnee. Anfangs im Geschwindschritt, bisweilen rutschend. Dann kamen felsige Stellen, und über Knieholz hatte der Greis zu steigen. Das brachte ihn außer Atem.

Als er sah, daß er an einen steilen Hang geraten war, setzte er das Kind ab und sagte verdrossen: »Wir müssen wieder ein Stück aufwärts! Hier gähnt ja eine Schlucht, und die Dämmerung bricht schon ein.«

Der Junge mochte nicht mehr getragen sein, was Lamettrie auch schon gewünscht hatte, um möglichst rasch niederwärts zu kommen.

Nunmehr wollten sie wieder aufwärts nach der Baude suchen. Zunächst an die Stelle zurück, wo sie bei Ausbruch des Schneegestöbers gestanden hatten. Dort war besser zu beurteilen, wo die Baude liegen müsse.

Erst konnten sie ihre Spur im Schnee noch verfolgen, dann ging dem bejahrten Manne der Atem aus, schnaufend hielt er an.

Sorgenvoll schaute er zum Himmel: »Das Wetter ist klar geworden, aber auch kalt, und wir kriegen wohl nochmals die Schneewolken. Ich möchte mich mal auf das Rufen verlegen. Jetzt könnte es zu Deines Großvaters Ohren dringen: »Halloh, Halloh, Er –lenbach!«

Keine Antwort! So oft auch der Ruf wiederholt wurde. Und jetzt war's dunkel geworden.

Weil ihre Spuren aufhörten, fanden sie nicht genau zurück. Unerwartete Vorsprünge, die der Berg zeigte, ließen vermuten, daß sie irre gegangen waren. »Wahrscheinlich liegt die Baude nicht weiter entfernt, als höchstens zwanzig Minuten.«

»Ju, Großonkla!«

»Nun, Friedel, merke genau, was ich sage! Ich gehe jetzt allein, die Baude suchen. Du bleibst unter dem Gezweige dieser Tanne; siehst Du, sie ist ähnlich so, wie die am früheren Standort. Damit ich nun immer weiß, in welcher Richtung Du zu finden bist, werde ich von Zeit zu Zeit Halloh rufen, dann mußt Du auch mit Halloh antworten. Verstanden?«

»Ju, Großonkla!«

»Nun kriechst Du dicht an diesen Felsen heran, auf die Stelle, wo der Schnee nicht hingeweht ist! Siehst Du? Da ist es trocken. Und in meinen Pelz, den ich Dir jetzt gebe, mummelst Du dich gut ein. Willst Du?«

Der Kleine nickte. Daß Großonkel mit seinem Pelz für ihn sorgte, kam ihm selbstverständlich vor. Und nun ging das Ankleiden vonstatten: Lamettries großer Pelzmantel ließ sich derart über das Kind hüllen, daß er den Rumpf nebst den Beinchen fest umschloß.

»Bist Du jetzt warm? Jetzt kann Dir Wind und Schnee nichts anhaben. Nun lege Dich hieher!«

»Au ja! aber nu mußt Du ja frieren?«

»Ich habe noch einen Pack Zeitungen, die lege ich mir jetzt unter. So! Und so! Das hält warm – und nun kann ich auch besser gehen, als im schweren Mantel.«

Der auslugende Knabe sah, wie der Alte flott ausschritt, wie ihn dann die Dämmerung verschlang.

»Auf Wiedersehen! Friede!!« rief der Alte aus dem Dunkel – und nach geraumer Zeit erscholl fernher sein Ruf: »Halloh, Ho!«

Der Knabe antwortete vernehmlich: »Halloh, hier!«

Nun aber wurde das Wehen stärker, der Himmel verfinsterte sich, Schneefall setzte von neuem ein.

Gespannt lauschte der Junge, aber es erscholl kein Ruf. Und er ängstigte sich schon.

Nach einer Weile kam es dem Kinde vor, als ob aus dem Stöhnen der Lüfte und dem Geriesel des körnigen Schnees, kaum hörbar der Schrei käme: »Halloh!«

Friede! antwortete nach bester Kraft, und das Halloh wiederholte sich – »Halloh, ho, halloh!«

Zugleich aber nahm der Schneesturm zu, und seinem Heulen lauschte nun das Kind. Bis endlich nach einer bangen Pause ganz nah der Ruf erscholl: »Halloh, ho!«

»Halloh, hier!« antwortete der Knabe.

Und da nahm er wahr, daß der Alte an seine Seite kroch und ihm einen Kuß gab: »Friedel, mein Kind, wie froh bin ich, daß ich Dich gefunden habe! Der Schneesturm donnert ja geradezu! Umsonst war mein Versuch. Von Baude keine Spur. Beinahe wär' ich eingeschneit!«

Wie der Knabe in Lamettries Anwesenheit seinen Trost fand, lag er bald in ruhigem Schlaf.

Indessen ging dem Greise durch den Sinn, was ihm der Forstmeister von den Wettertannen erzählt hatte: »Gewöhnliche Tannen sind es, nur seltsam unregelmäßig gewachsen; weil auf den Bergeshöhen nur drei bis vier Monate Wachstum ist, geraten sie nur kurz und gedrungen. Der zarte Schoß des mühsam emporgekommenen Wipfels wird bisweilen von lastendem Schnee abgebrochen. Aber nun erhebt sich ein Nebenschoß und übernimmt die Führung. So kommt im Verlauf der Jahre ein krüppeliges, knorriges Gebilde zustande. Aber auch das ist Leben.«

In sein Wachträumen war der Greis versunken. Es kam ihm vor, er setze das Gespräch mit dem Forstmeister fort.

»Jawohl, Leben!« glaubte er zu antworten – »der ältere Wuchs muß herhalten, wo der junge Trieb verunglückt.«

Es war ihm, als höre er die Zustimmung des Schwagers und fühle seinen Händedruck.

Und seine Betrachtungen setzte er fort: »Gewiß! Selbstverständlich ist es meine Pflicht, für alle in bester Treue einzustehen. In erster Linie sind dazu wir Alten berufen – wir, deren karger Lebensrest keine bessere Verwendung finden kann ...«

Und es war dem Greis, als höre er, was er sann, wie ein wirkliches Zwiegespräch. Der Forstmeister sagte: »Nicht wahr, guter Schwager, wir nehmen uns doch gemeinsam des kleinen Friedel an?«

»O natürlich! Er ist ein so gutes Kerlchen. Er und seine Mutter kommen auf den Schachthof, da sind sie geborgen.«

»Und wenn wir beide tot sind, wer kümmert sich dann um sie?«

»Dann treten Helmut und Hulda an unsere Stelle. Gerhart und Frau Belling sind auch noch da. Unser Leben ist gemeinsamer Dienst für unsere Lieben.«

Der Schneesturm heulte wie ein wildes Tier.

Da kam dem Alten in den Sinn, was Julia in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Wie jenes höchste Wesen, das für ein gütiges Herz unmittelbare Gewißheit hat, unvereinbar sei mit dem Glauben an einen Schöpfer und Beherrscher der Natur.

»Das höchste Wesen ist Liebe, lauter Ordnung und Wohltun. Das bezeugt uns unser Gemüt. Aber damit verträgt sich nicht die erbarmungslose Wildheit, als die uns der Naturverlauf entgegentritt. Freilich ist das nur eine Seite; unendlich viele Möglichkeiten aber bieten sich, wenn wir allumfassend betrachten könnten!

Wie eine Bestätigung war es ihm, daß er im tobenden Sturme wundervolle Harmonien zu vernehmen glaubte, und trotz dem Schneegeriesel hörte er den sanften Zuspruch, mit dem Hulda zu beruhigen verstand. Aus ihrem Munde kamen abermals die erhabenen Worte: »So viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Gedanken höher als eure Gedanken, und meine Wege höher als die eurigen!«

Dunkel war's geworden, und nun war das Suchen nach ragenden Wegstangen wohl aussichtslos. Aber sein Sinnen richtete sich noch einmal auf die Tröstungen, die er im Gemüt erlebt hatte: »Wenn des Ewigen Wege höher sind als alle Menschenwege, dann müßte auch alles menschliche Gutsein von seiner Güte unendlich übertroffen werden, und Pfade zum Heile bereit haben, die wir nicht einmal ahnen können, so daß er mit seiner Liebe auch die wilde Natur umfaßt.«


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