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18. Die Erlenbach

Ehe sie noch den Schachthof erreicht hatten, blieb Hulda stehen und sagte: »Jetzt habt Ihr mich so gespannt gemacht auf die Erzählung, wie Eure Freundschaft angeknüpft wurde, daß Ihr mir noch einiges darüber sagen müßt.«

»Du hast schon recht, dies zu verlangen, und es ist auch mir Bedürfnis, davon zu sprechen, zumal diese Angelegenheit im engsten Zusammenhang mit unserem Vorhaben steht,« sagte Gerhart; und nach einer Pause des Nachdenkens fuhr er fort, indem die Drei weitergingen: »Als Onkel Lamettrie voriges Mal seine Möller-Anwandlung hatte, – im August – also damals fügte es sich, daß ich ihn in seiner Einsiedelei besuchen wollte, aber sein Zimmer war leer, so daß ich eintreten konnte und Platz nahm, um abzuwarten, bis der Sonderling kommen werde. Er war wohl nur für kurze Zeit gegangen; denn offen lagen Papiere herum, in denen er geblättert haben mochte. Ich tat einen unbeabsichtigten Blick in seine Heimlichkeiten. Da lag eine Photographie, die meine Aufmerksamkeit fesselte. Mein erster Eindruck war, es sei Huldas Bild. Aber dann sah ich, daß die Dame wohl eine überraschende Aehnlichkeit mit ihr hatte, doch mehr Rasse verriet.«

Mit Lächeln bemerkte Hulda: »Das ist mehr ehrlich als schmeichelhaft.«

»Ja, ich hielt es zuerst für ein Bild von Dir aus jüngeren Jahren, und das Kostüm war für einen Maskenball. Was mich aber gänzlich von dieser Vermutung abbrachte, war die Firma des Photographen. Diese bezeichnet als Wohnsitz Iserlohn. Auf den Rand war mit Tinte eine Widmung geschrieben.«

»Und die lautete?« fragte Hulda gespannt.

Gerhart antwortete mit betonter Wichtigkeit: »Zum Gedenken an die Erlenbach, 1872.«

»Erlenbach?« rief Helmut und stand wie angedonnert – »doch nicht Marie Erlenbach? Der Vornamen interessiert mich.«

»Der Vorname fehlt«, entgegnete Gerhart und meinte weiter, der Name Erlenbach kommt nicht allzuselten vor; wenigstens sagen so meine Verwandten.

Hulda fragte schüchtern: »Ihre Verwandten? Ach ja, heißt nicht Ihr amerikanischer Vetter Erlenbach?«

»Allerdings! und daß ich seinen Namen nicht aussprechen wollte, geschah auf Gerharts vorher geäußerten Wunsch. Das war es ja, was Herrn Lamettrie so außer sich brachte, weil er Heimlichkeiten witterte.«

Gerhart überlegte weiter: »Der älteste Dir bekannte Erlenbach ist also ein Forstmeister in Tübingen? Gab es denn in der Familie auch eine Schauspielerin?«

»Nicht daß ich wüßte, jedenfalls nicht unter meinen Blutsverwandten.«

»Also Deine Großmutter, die Marie Erlenbach, käme nicht in Frage?«

»Ganz ausgeschlossen!« war Helmuts heftige Antwort.

Hulda erhob den Einwand: »Aber wieso mußte denn jene Photographie gerade eine Schauspielerin darstellen?«

Gerhart antwortete: »Ich habe meine Gründe zu dieser Annahme. Das Kostüm nämlich könnte aus einer Theatergarderobe sein und zwar das einer Julia-Darstellerin. Auch ist es in Bühnenkreisen nicht selten, daß die Schauspielerin kurzweg die Soundso genannt wird und sich auch selber so bezeichnet, also nur mit dem Familiennamen. Der Onkel hat offenbar mit einer Schauspielerin ein leidenschaftliches Verhältnis gehabt. Wie ein jugendlicher Liebhaber spielte er ja die Romeo-Rolle – als ob Du seine Julia wärest.«

»Hast recht!« nickte Hulda und sank in tiefes Sinnen. »Diese Liebe fiele also in das Jahr 1872 – das war vor einem halben Jahrhundert.«

»Darum eben«, sagte Helmut, »habe ich Herrn Lamettries Frage wegen des katholischen Theologen selbstverständlich verneint, auch ob die Betreffende noch am Leben sei.«

Hulda stutzte: »Wieso denn selbstverständlich? Das paßt jedenfalls nicht auf jene Dame. Sie wäre jetzt etwa eine Siebzigerin und könnte noch ganz rüstig sein.«

»Allerdings!« erwiderte Helmut, »aber ich beschäftige mich nicht mit Herrn Lamettries Vergangenheit, sondern dachte im Augenblick nur an jenen Unwürdigen, der Priester werden sollte – und an meine Großmutter, die vor vier Jahren gestorben ist. Daher meine Antwort, sie sei selbstverständlich tot.«

Hulda sah nun ein, wie berechtigt es von Helmut war, eine gewisse Diskretion zu wahren und nicht Familienverhältnisse preiszugeben, die nur die Nächsten etwas angingen. Bei der Erwägung, sie hätte in Verhältnisse eindringen wollen, die für Helmut peinlich sein müßten, errötete sie plötzlich und suchte von dem heiklen Thema abzulenken: »Was hat denn nun eigentlich Euch beide zusammengeführt? darauf habe ich immer noch keine Antwort.«

»Gerade der Name Erlenbach«, platzte Gerhart heraus, »und entscheidend ist die Frage: wer ist jene Erlenbach, deren Bild ich gesehen habe.«

Helmut blickte auf den Freund und fragte bestürzt: »Du wirst doch nicht etwa meine Großmutter im Verdacht haben, daß sie es sei? das wäre ja ...«

Gerhart entgegnete kühl: »Warum sollte das nicht möglich sein?«

Aber da brauste Helmut auf: »Dann wäre ja Dein Wahlonkel mein leibhaftiger Großvater!«

»Und weshalb sollte das ausgeschlossen sein?«

»Ja glaubst Du denn«, erwiderte Helmut mit bebenden Lippen – »glaubst Du etwa, daß ich mir solche Großvaterschaft gefallen lassen würde?«

»Blutsverwandtschaft könntest Du selbstverständlich nicht abstreifen. Etwas anderes wäre der familiäre Verkehr und dann die Erbschaftsfrage. Onkel Lamettrie ist bejahrt und reich.«

Nun donnerte Helmut in kaum verhaltenem Zorn heraus: »Und Du bildest Dir ein, ich könnte Ansprüche machen, weil er reich ist? Nie und nimmer! Wenn er es wäre, der meine Großmutter unglücklich gemacht und sich in kaltem Egoismus seinen Verpflichtungen entzogen hat, so würde ich mich eines Verrats schuldig machen an ihr, der ich doch alles verdanke. Meine Großmutter verdient die größte Hochachtung. Sie hat ihr Schicksal heldenhaft getragen und sich wie ihr Kind aus eigener Kraft erhalten. Mit nie versagender Hingabe und Aufopferung hat sie es zu einem tüchtigen Menschen erzogen. Kein Gedanke, daß sie jemals Schauspielerin war. Sie hat diesen Beruf verachtet. Jahrzehnte lang hat sie tüchtig und bescheiden ein kleines Ladengeschäft geführt und dadurch ihrem Kinde und sich den Lebensunterhalt verschafft. So verstehst Du, daß ich unter keinen Umständen den Geist einer solchen Ahne verleugnen kann, sondern meinen Stolz darein setze, ebenfalls aus eigener Kraft mein Leben zu machen. Ich betreibe mein Geschäft, auch wenn es nur eine Schusterei ist. Lieber bin ich ein Handwerker, als ein Lamettrie-Erbe!«

Vorwurfsvoll wandte sich Gerhart an seinen Freund: »Du regst Dich unnütz auf. Wenn die Möglichkeit, Herr Lamettrie könne Dein Großvater sein, gar nicht in Betracht kommt, wozu dann diese Entrüstung!«

Begütigend nahm Hulda das Wort: »Ich verstehe Sie, Herr Doktor Burger, und habe Hochachtung vor Ihrem Stolz und Ihrer Tapferkeit. Auch wir, meine Mutter und ich, halten an solcher Selbständigkeit fest. Unsere Freundschaft und Teilnahme für Herrn Lamettrie entspringt dem Mitgefühl und einer aufrichtigen Verehrung für seinen Charakter. Trotz seiner Wunderlichkeiten und seiner dunklen Vergangenheit! Er ist tief unglücklich, und nichts soll uns von ihm trennen und uns hindern, ihm behilflich zu sein, sein Leben besser und im Sinne der Wahrhaftigkeit zu gestalten. Sie tun recht, an Ihrem schlichten Brotberuf festzuhalten, und wir lassen nicht von unserer Aufgabe, Onkel Lamettrie zu helfen.«

Helmut schämte sich seiner Heftigkeit und gelobte sich, unter allen Umständen auf Huldas Anhänglichkeit an Herrn Lamettrie Rücksicht zu nehmen. Wollte er sie gewinnen, so mußte er beherzigen, welche Bedeutung Herr Lamettrie für die ganze Familie habe. Zudem war es Menschenpflicht, hier seinen Beistand nicht zu versagen, selbst wenn alle Mühe umsonst sein sollte.

Bestärkt wurde er noch durch Gerharts Worte: »Und nun nimm Vernunft an! Wir tun, was wir können, und es ist doch auch in Deinem Interesse, daß Licht in die Sache kommt. Also nicht wahr, es bleibt bei unserer Verabredung, und Du besorgst alles, wie Du mir's versprochen hast, abgemacht!«

Daraufhin reichte Helmut ihm seine Rechte zu einem herzlichen Händedruck. Für Hulda aber hatte er, indem er sich verabschiedete, einen innigen Blick, der ein Gelöbnis war und eine Bitte, ihm ihre Gunst zu erhalten.

Auch Gerhart wandte sich ihr zu: »Lebwohl Hulda! Sobald Helmut zurückkommt, sollst Du alles erfahren, was Dich so brennend interessiert!«

Jetzt ging die Sonne zwischen geröteten Wolken unter und warf ihren rosigen Schein auf den Höhenzug des Schachthofs und auf ein dunkles Wäldchen, bei dem ein seltener Turm ragte, an eine Kapelle erinnernd. Auch die Reben des Weinbergs wurden sichtbar und ein Häuschen. Dort also hatte der Sonderling seine Einsiedelei.

Und der Anblick gemahnte an jenen, der des tatkräftigen Beistands der Freunde bedurfte. Dort saß er also in seinem Möller-Elend.


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