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Wie ein niedergebrochener Baum lag der Greis. Schlaff sank sein Arm herunter, das Gesicht war fahl und gramverzerrt. Die Augen hielt er geschlossen, und es war nicht zu sehen, ob er ohnmächtig sei, oder in dumpfes Grübeln versunken.
Helmuts forschender Blick begegnete einem Augenaufschlag Huldas, in dem eine flehende Ratlosigkeit lag. Nun war der junge Mann auf einmal zu unbedingtem Beistand entschlossen. Huldas halber. Ihr fühlte er sich zugehörig. Daher auch dem Greis verbunden, an dem sie mit einer kindlichen Liebe hing.
Und zur Gruppe tretend, sagte Helmut mit verhaltener Stimme: »Erlauben die Damen, daß ich mich zunächst zurückziehe. Vor dem Hause möcht ich warten, bis Gerhart mir mitteilt, was zu tun ist. Soll ich vielleicht im Auto Ihren Arzt holen? Oder kann ich sonst –?«
Der Halbohnmächtige hatte es gehört und schlug die Augen auf – Augen, darin eine ungestüme Willenskraft funkelte. »Was soll hier ein Arzt? Dem lebensmüden Ahasver kann Sterben nur willkommen sein.« Und zurück sank er in seinen dumpfen Zustand.
Die andern waren ratlos stumm. Da richtete er den Kopf empor: »Aber den Notar, den kann ich brauchen. Möchte nicht vom Tode überrascht werden, ohne wahrheitsgemäß und amtlich bekannt zu geben, wer ich bin.«
Einen fragenden Blick warf Helmut auf seinen Freund und auf Hulda. Diese schien selber nicht zu wissen, was hier zu tun sei. Dann meinte sie: »Gewiß Onkel, es soll alles geschehen, wie Du's haben willst. Nur Geduld! Es eilt doch nicht so. Wie fühlst Du Dich denn?«
»Nicht gut!« lallte zaghaft der Melancholiker – »es saust und braust mir in den Ohren, es schwankt alles, und es flimmert mir von den Augen, der rechte Fuß ist wie abgestorben – da hat mich der Knochenmann angepackt, und in die Grube zerrt er mich ... na ich bins zufrieden, nur noch ein paar Stunden soll er mir schenken, damit ich das Letzte ordnen kann» Beichten – dann sterben!«
»Es wird nicht gleich so schlimm sein, Onkel!« sagte Hulda – »Du bist jetzt aufgeregt. Wer mit solcher Frische soeben noch speisen konnte, und geistig nach einem solchen Anfall so flott ist, der hat noch Zeit genug. Bedenke doch, vor anderthalb Jahren hast Du ebenfalls Hals über Kopf den Notar kommen lassen, und als er da war, hast Du ihn angelacht und Sekt mit ihm getrunken.«
Die humorvolle Erinnerung an diese Begebenheit wirkte offenbar beruhigend, der Patient hörte zu ächzen auf und überlegte ruhig: »Magst recht haben, Huldchen. Der Notar braucht nicht gleich zu kommen. Aber bekennen will ich sofort. Mein Herz zappelt, das Geständnis muß heraus. Vor Ihnen, meine Herrschaften ... Nicht gehen, Herr Doktor Burger. Sie müssen dabei sein! Schon des Protokolls halber. Das müssen Sie führen. Nicht wahr, Sie tun mir den Gefallen? O Dank!, Gerhart winkte seinem Freunde, am Tischchen Platz zu nehmen, wo Schreibzeug war.
Möller-Lamettrie wollte sich aufrichten, aber Hulda bat: »Bleib liegen! Und wie wär's, wenn Friedrich Dir vielleicht eine Verklärungs-Pille ...?«
Abweisend hob der Greis die Hand: » Nichts von solchem Zeug! Rosige Benebelung kann ich nicht mehr brauchen. Das nüchterne Wasser der Wahrheit ist jetzt mein Heil. Klar besinnen will ich mich, damit nicht wieder Lügen-Dämonen kommen und mich verwirren.«
Sich streckend faltete er die Hände und schloß die Augen. Schwer ging sein Atem, doch nicht mehr hastig. Die Stille, in der die Andern verharrten, tat ihm sichtlich wohl.
Nach einer geraumen Weile öffneten sich seine Augen und rollten umher, als ob er sich wundere: »Ha! Sonderbar! Der Schwindel ist vorüber. Wahrhaftig auf einmal ganz. Auch mein Fuß ist nicht mehr abgestorben, es kribbelt darin, also bloß eingeschlafen war er. Und ich glaubte schon, der Schlag habe mich gerührt.«
Hulda atmete auf: »Na siehst Du, lieber Onkel! Du bist ja noch sehr rüstig. Bloß Deine Anwandlungen von Trübsinn mußt Du überwinden!«
»Nein, nein!« ächzte der Greis – »meine Unseligkeit ist keine bloße Anwandlung, keine Laune. Ruhe und Festigkeit kommt mir erst, wenn meine Beichte heraus sein wird.«
Hulda fuhr fort zu beschwichtigen: »Nur nichts überhasten!«
»So ist es«, nickte Helmut Burger, »und wenn ich mir erlauben darf, in Ihrer ganz persönlichen Angelegenheit einen Rat zu erteilen, so gebe ich zu bedenken, daß wir Andern, denen Sie sich anvertrauen möchten, Menschen sind.«
»Was wollen Sie damit sagen, Herr Burger? Selbstverständlich sind Sie Menschen.«
»Ich will sagen, daß wir Erdenkinder sind, die in ähnlicher Weise wie Sie, Herr Lamettrie, ihre Schwächen haben und gar nicht selten sich schuldig fühlen. Glauben Sie, daß solche dazu berufen sind, sich von Ihnen beichten zu lassen?«
Lamettrie-Möller erhob den Kopf: »Erdenkinder – nun ja! Wem denn sonst könnte man beichten? Etwa einem Herrgott? Nein, Philosoph! Ich halt es mit dem Empörer: Da ich ein Kind war, nicht wußte, wo aus noch ein, kehrt ich mein verirrtes Auge zur Sonne, als wenn drüber wär' ein Ohr zu hören meine Klage, ein Herz wie meins, sich des Bedrängten zu erbarmen! Nein! Kein Herz ist im Weltall.«
»Wenn Sie sich auf Prometheus berufen, so vergessen Sie nicht, wie er weiter spricht: hast du nicht alles selbst vollendet, heiligglühend Herz?
Hulda nickte: »Ja, Onkel! In gewissen Dingen sollte das eigene Herz unser Beichtiger sein, kein Mitmensch! Vielleicht nicht mal der nächste. Unser geheimstes Fühlen untersteht keinem Wesen, das bloß unseres Gleichen ist.«
»Du Hulda, bist mir mehr, als meines Gleichen«, beteuerte der Greis mit innigem Augenaufschlag.
»Solche Hochschätzung verdien' ich nicht. Uebrigens willst Du ja nicht bloß mir beichten, es soll auch eine Urkunde erfolgen.«
»Nun, so mag sich das Protokoll beschränken auf das, was amtlich erforderlich ist, um meinen Verfügungen Rechtsgültigkeit zu verschaffen.«
»Das mag angehen. Aber wir Anwesenden sollen Deine Beichte empfangen? Hältst Du das für ganz unbedenklich?«
»Ihr seid meine Allernächsten.«
»Nicht immer, Onkel, hast Du solches Vertrauen. Soeben erst warst Du mißtrauisch – Deinen Wahlneffen hast Du Herr Doktor Linde angeredet, also einen Abstand von ihm genommen, als sei er Dir fremd.«
»So war's nicht gemeint, verzeih Gerhart!«
»Ich habe nichts zu verzeihen, Onkel. Aus demselben Grunde bin ich aber auch nicht berufen, eine Beichte von Dir zu hören.«
Verdrossen kniff der Greis die Lippen zusammen.
Und nun machte auch Frau Belling ihren Standpunkt geltend: »Wer beichtet, will sein Herz enthüllen, insofern es Mängel hat. Und das ist manchmal peinlich ...«
»Ich begreife«, wimmerte der Schwermütige – »es ist eine Zumutung für Euch, meine Herzensgeschwüre zu sehen. So muß ich also vereinsamt bleiben mit meiner Gewissensqual, ganz allein?«
Mister Friedrich hatte Tränen im Auge, als er das Wort hervorwürgte: »Wenn alles Sie verläßt, ich gehe für Sie – durch Dick und Dünn.«
Es zuckte in Lamettries Gesicht, der Mund blieb verschlossen.
»Hast du nicht alles selbst vollendet, heiIig glühend Herz?« wiederholte Helmut leise. »Ich meine, in Ihnen glüht etwas – oh gewiß, Herr Lamettrie, ein Heiliges haben Sie in sich. An dies Flammen der Ewigkeit im eigenen Herzen sollten Sie Ihre Beichte richten.«
Lamettries Augen blickten dürstend, als er emporstarrte zur unendlichen Weite.
Draußen vom Flur her kam Gewinsel, dann scharrte etwas an der Türe. Als ob sich das von selbst verstehe, ging Friedrich hin, dem Hunde zu öffnen. Mohrchen tappelte herein, ersichtlich in gedrückter Stimmung. Am Sofa, wo sein Herr lag, wedelte er schüchtern mit dem Schwanzbüschel, als ob er sein Beileid erweisen wollte. Die herabhängende Hand leckte er. Ein Schimmer glitt übers Gesicht des Schwermütigen – seitwärts tastend, streichelte er den schwarzen Pudelkopf. Und dann öffnete er voll die Augen. Tiefernst blickten sie, doch mit Fassung.