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Als der Alte zu Bellings und ihrem Gaste kam, war er wieder in heller Sommerkleidung und bat, wie sonst an den Mahlzeiten der Familie teilnehmen zu dürfen. »In der Einsiedelei«, fuhr er fort, »bleib ich den Sommer über. Meine Schlemmerei geb ich auf.«
Frau Belling sah ihn forschend an, so daß er sich veranlaßt fühlte, zu bestätigen: »Ja, Bellchen, aus einem andern Geist möcht ich hinfort leben, naturgemäß!« Zu Helmut gewandt, fuhr er fort: »Insbesondere soll sich an mir Deine Unendlichskeitsrechnung bewähren, ins Philosophische übersetzt.«
Helmuts Antwort war ein warmer Blick.
»Unendlichkeitsrechnung? Wieso denn?« fragte Hulda.
Helmut, erfreut über ihr Interesse, erwiderte: »Wenn das auch gelehrt klingt, ist es doch eine einfache Sache.«
»Jawohl«, meinte der Onkel – »aus Deinem Fingerzeige, die Unendlichkeit sei polar, es gebe eine vollkommene und eine nichtige Unendlichkeit, entwickelt sich eine neue Weltansicht, ich sehe vor mir eine unendliche Abstufung – und schon wird mir klar, daß meine Lamettrie-Träumerei völlig unhaltbar ist. Niemals läßt sich technisches Erfinden so steigern, daß etwas Lebendiges draus wird.«
»Sondern?« fragte Helmut leuchtenden Auges.
»Sondern« – lautete die Antwort – »nur unendliches Funktionieren, nur die Allmacht vermag das. Man braucht dies Wort nicht theologisch zu fassen. Nein, logisch vollzieht sich das Schaffen. Aber wie gesagt, Unendlichkeit gehört dazu. Was Menschenarbeit verfertigen kann, sind günstigenfalls Maschinen, die einen Schein von Lebendigkeit haben, aber kein Leben. Ich sehe ein, daß dieses einzig durch Polar-Unendlichkeit hervorgebracht werden kann – durch die Pole Unendlich und Null.«
Helmut nickte zufrieden. »Wir können, um den Nullbegriff, welcher unendliches Abnehmen meint, noch zu verdeutlichen, auch sagen: ∞ x 1 /∞ Unendlichkeitszeichen, was wir wechselseitige Unendlichkeit nennen dürfen. Wechselseitig ist der Grundsatz, eine Leistung nicht ohne die entsprechende Gegenleistung zu lassen. Bei einem Bruche besteht Wechselseitigkeit, in seiner Ergänzung zu 1. Wechselseitige Unendlichkeit ist ebenfalls solche Ergänzung; und ihre Formel ∞ x1 /∞ Unendlichkeitszeichen bedeutet, daß alles, was als Ganzes lebt, sich unendlich fein gliedert, also nur durch endloses Zusammenschließen der Teile wieder gut gemacht wird.«
»Treffend gedeutet«, nickte Lamettrie, und ihm kam die Erleuchtung: »Solchen Zusammenschluß meinte wohl Aristoteles, wenn er sagt: das Ganze sei vor seinen Teilen, und diese bestehen erst durch das Ganze.«
»Driesch ist auf der richtigen Spur« – spann Helmut diese Idee fort – »was mathematisch als Selbstverständlichkeit auftritt, wird durch biologische Experimente bestätigt. Das Leben ist ein wesentlich Anderes als Mechanismus, nämlich Organismus. Selbst der Verfasser von l'homme machine erkennt an, es rege sich das Leben in den winzigsten Bestandteilen des organisierten Körpers; seine Fasern seien endlos fein. Die Technik hätte also, um einen Organismus zustande zu bringen, eine Aufgabe, mit der man niemals zurande kommt.«
Lamettrie nickte ernst: »Darin eben, daß ich diesen bedeutenden Unterschied verkannt habe, besteht mein großer Irrtum.«
»Getrost, lieber Onkel« – bemerkte jetzt Hulda, die den Auseinandersetzungen gespannt gefolgt war, – »bedenke, was im Faust der Herr sagt: Es irrt der Mensch, solang er strebt.«
»Mein Maschinenmenschentum« – antwortete der Onkel düster – »ist kein gewöhnliches Abirren aus Schwäche des Erkennens. Den Unterschied zwischen Mechanismus und menschlicher Gliedergestalt hab ich vielmehr zu vertuschen gesucht – habe leichtgläubige Massen, die zum Lord Lämittrei voller Vertrauen kamen, geflissentlich betrogen. Und all das, um busineß zu machen, Dollars einzuscharren – ich Gaukler!«
»Laß doch gut sein!« suchte Frau Belling zu beschwichtigen – »jedenfalls hat Deine Erfindungskunst auch Großes geleistet.«
»Nicht Großes! Sage Verblüffendes! Das Museum ist das Denkmal meiner Schande!«
»Wie ich höre« – sagte Helmut, um den Zerknirschten aufzurichten – »bist Du als Techniker bedeutenden Erfindungen auf der Spur; Kraftquellen, die in fernen Gestirnnebeln ruhen, möchtest Du der Menschheit erschließen, und möchtest ohne Draht in die Ferne sehen.«
»Ja, wiedergutmachen möcht ich. Aber kann man's denn? Geschehenes liegt ja in der Ewigkeit bewahrt.«
»Auch Dein Wiedergutmachen nimmt sie auf« – lautete Helmuts Antwort.
»Ach helft mir doch, daß ich es richtig anfange! Einstweilen bin ich ratlos.«
»Was beispielsweise könntest Du planen?« fragte Helmut.
»Die Treulosigkeit, die ich an Julia begangen habe, ist nicht dadurch wiedergutgemacht, daß das Schicksal nicht so schlimm auslief, wie ich glaubte, mein Verdienst ist das wahrlich nicht. Meine feige Untreue hat Julias Glauben an die Güte eines Menschen, der zu lieben vorgab, jählings zerstört, und das bleibt untilgbare Schuld, wie noch vieles Andere in meinem Leben.«
Qualvoll blickte er die Freunde der Reihe nach an, und man sah, wie schwer ihnen die Antwort fiel. Weiter klagte er: »Habe schon daran gedacht, eine Stiftung für unglückliche Mütter zu machen und ein Pflegeheim für Kinder, deren Eltern sich nicht um sie kümmern. Ich gehöre zu dieser Sorte«, stöhnte er bitter.
Verlegen schwieg alles, und der Alte jammerte: »Fällt Euch denn gar nichts ein, wodurch sich ein weniges wiedergutmachen ließe?«
»Stiftungen können manches Gute wirken«, bemerkte Frau Belling kleinlaut.
»Ich glaube nicht daran«, meinte Hulda niedergeschlagen. »Mutterliebe und Vatertreue lassen sich nie ersetzen durch kaltes Geld und beamtete Menschen.«
Der reuevolle Alte stöhnte: »Kaltes Geld!«
»Ich meine, wer durch Geld zu Maßnahmen der Fürsorge bestimmt wird, dem fehlt die rechte Gesinnung.«
»Mit Geld läßt sich nicht eigentlich wohltun«, bestätigte Helmut, »herzlich wenig.«
»Allerdings«, meinte Frau Belling, »wo es auf Gemüt ankommt ... Geld bleibt seelenlos, mag der Stifter auch mit Güte spenden. Und viel Mißbrauch wird mit solchen Stiftungen getrieben.«
»Leider«, nickte Helmut, »auf der Universität gab es Stipendienstreber, und demoralisierend ist es, wenn einer auf diese Weise oft für viele Jahre an Familienstiftungen zehrt.«
»Aber die Nobel-Stiftung« – warf Frau Belling ein – »ist doch eine Leistung.«
»Nobelstiftung!« murrte Helmut – »der Erfinder des Dynamit, der davon einen Riesengewinn hatte, suchte das Unheil, das der furchtbare Sprengstoff in der Hand von Verbrechern, sowie im Kriege anrichtet, dadurch wiedergutzumachen, daß er den Nobelpreis stiftete. So erhalten denn Dichter und hervorragende Vertreter der Wissenschaft eine Extrabelohnung von ein paar hunderttausend Mark – der tragende Fruchtbaum wird übergoldet. Wer ein Verhalten, das in sich selbst reinste Erquickung trägt, noch mit Mammon zu fördern glaubt, der rechnet edles Geistesgut zu dem, was sich bezahlen läßt. Und zu dem Innen-Glück, das dem Schaffenden höchste Belohnung ist, wird etwas Aeußerliches hinzugefügt, das die reine Freude nur beeinträchtigen kann.«
Frau Belling meinte, das sei zu hart geurteilt, solch strenge Forderungen dürfe man nicht an die Menschen stellen. »Daß beispielsweise eine Braut nicht bloß liebenswürdig sei, sondern auch noch reich, setze ihren wahren Wert keineswegs herab.«
»Den Wert der Braut gewiß nicht«, lautete Helmuts Erwiderung – »aber den Wert der Liebenswürdigkeit.«
»Was Helmut hervorheben möchte« – meinte Hulda – »ist der Unterschied zwischen Gemütswerten, die keine Marktware sind, und der Einbildung der Reichen, mit ihrem Gold lasse sich alles langen.«
Dankbar lächelte der junge Mann seiner Braut zu: »Wenn es jenem Berliner Chemiker gelingt, auf billige Weise Gold zu machen, ist es erreicht, daß überhaupt eine völlige Umwälzung der herrschenden Werte eintreten kann. Vielleicht erleb' ich diese heilsame Pleite noch.«
Der Onkel, der in finsteres Brüten versunken war, schoß nach dem spottenden Idealisten ein Blitzen seiner schwarzen Augen und warnte: »Du! Du würdest selbstverständlich auch davon betroffen.«
»Nichts könnte mich mehr freuen!« lachte Helmut – »und beglücken würde es mich, meine Familie nur durch meine Arbeit ernähren zu dürfen.«
Während Hulda vergnügt zustimmte, seufzte ihre Mutter. Der Onkel blieb in Sinnen versunken. Endlich sagte er tonlos: »Also auch eine Art Nobelpreis wäre nichts! Offen gesagt, für heute habe ich genug von dem Wiedergutmachungs-Senf. Ich fühle mich abgespannt; warum kommt denn die Suppe nicht?«
»Oh! entschuldige!« sagte die Hausfrau und drückte auf den Knopf – »ich wollte die Beratung nicht stören.«
»Wir finden ja doch nichts!« stöhnte zerknirscht der Greis.