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9. Im Garten

Durch die Glasveranda, wo in Kübeln Palmen, Zimmerlinden, Araukarien gediehen, kam man in den Garten. Zunächst an einen Springbrunnen, dessen Beckenwasser von Fischlein durchblitzt wurde, während am krautbewachsenen Ranft ein paar Schildkröten kauerten. Von den hochgesprühten Tropfen ließ sich eine Marmorgestalt, ein nacktes Kind, beregnen. Bei Syringenbüschen, die schon Blütentrauben hatten, war eine vornehm gearbeitete Marmorbank, wie Gerhart sagte, die Nachbildung einer pompejanischen Ausgrabung. Davor prangten frühblühende Rosenstöcke.

»Diese duftigen Kelche müssen auf unseren Kaffeetisch«, sagte Gerhart, der mit seiner Tante ging – »denn auch ohne Polo-Messung läßt sich prophezeien, daß bald Regen losplatzt, der könnte sie zerzausen ... Aber sieh da, Friedrich kommt, was bringt er?«

Und Friedrich meldete: »Herr Lamettrie bittet die gnädige Frau, mit dem Kaffee nicht auf ihn zu warten, weil wir vielleicht doch etwas länger zu tun haben.«

»Gut! Herr Lamettrie soll sich gar nicht stören lassen; wir haben 's nicht eilig ... Aber nun sagen Sie, Mister, was war vorhin mit Herrn Lamettrie? Sie waren ja dabei, als er losplatzte wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«

»Gnädige Frau meinen die Geschichte mit der stehengebliebenen Uhr? An die hat er mich schon mehrmals erinnert – um zu zeigen, was für Unheil aus einem kleinen Versehen kommen kann. Aber inwiefern er selber betroffen worden ist von der stillgestandenen Uhr des Budapester Schauspielers ...«

»Von Budapest war er?« forschte Gerhart, »und wo denn sollte seine Gastrolle stattfinden?«

»Nach Deutschland sollte die Reise gehen – nach Aachen. So hat mir Herr Lamettrie mal gesagt, als wir noch in Amerika waren.«

»Besinnen Sie sich auf möglichst viel Einzelheiten, die Herr Lamettrie mal hat verlauten lassen, über dunkle Kapitel seines Lebens. Seien Sie überzeugt, wir brauchen dergleichen, um ihn zu kurieren.«

Unschlüssig stand Friedrich, als sei er mit Gerhart nicht ganz einverstanden: »Das wäre ja ein Segen, Herr Linde! Bloß möchte ich um alles in der Welt nicht für einen gelten, der bei seinem Herrn herumschnüffelt

Gerhart machte eine abweisende Handbewegung. Aber Friedrich fuhr fort: »Herr Linde sehen doch, was Herr Lamettrie für mich ist. Ohne ihn wär' ich so gut wie nichts. Er hat aus mir gemacht, was ich bin. In Newyork hat er mich sozusagen von der Straße aufgelesen. Es war der reine Zufall. Die Kiste mit dem Maschinenmenschen war ihm hingepurzelt und an der Mechanik was kaput gegangen. Na, und da traf es sich, daß mein knurrender Magen mich wieder zu jener Hotelküche getrieben hatte, wo mir eine Abwäscherin bisweilen einen Bissen zusteckte. Die wußte, daß ich in Deutschland Feinmechaniker gewesen war, und wie ich jetzt wieder vorsprach, hieß es auf einmal: da sei ein Hotelgast, der habe rasch einen guten Mechaniker nötig.«

Den etwas langatmigen Bericht unterbrach Gerhart: »Schon recht! wir wissen das zu würdigen. Sie sind ein Ehrenmann, Mister, ja, Herrn Lamettries getreuer Freund. Und niemand hier mutet Ihnen zu, herumzuschnüffeln, wie Sie es nennen ... Bloß Beistand möchten wir, um ihn zu heilen von seiner Einbildung.«

Friedrich, dessen gebildete Ausdrucksweise und gewandte Formen ihn zunächst klüger erscheinen ließen, als er war, zog die Augenbrauen hoch und starrte vor sich hin wie ein Einfaltspinsel: »Von seiner Einbildung, sagen Sie? Ja, wüßten Sie nur, welches seine Einbildung ist. Sie sagen, er bilde sich ein, Lamettrie zu sein. Ich aber muß Ihnen immer wiederholen: er ist es. Bloß sein Alter weiß er nicht mehr und überschätzt es. Doch das ist keine Verrücktheit, sondern einfach Gedächtnisschwäche. Aber wenn er seinen Anfall kriegt und sich für einen gewissen Möller hält, sehen Sie, dasist seine Einbildung und Verschrobenheit.«

Gerhart sah wieder mal, daß dieser Mann Herrn Lamettrie allzulange gedient hatte und in seine Wunderlichkeiten allzutief eingelebt war, um nun auf einmal davon loszukommen. »Sie haben ein goldenes Herz, Mister, und Ihre Maschinen putzen Sie tadellos. Aber, halten Sie auch Ihren Kopf immer so blank und die Augen offen ... Na gehen Sie nun! sonst macht sich Herr Lamettrie mißtrauische Gedanken über Ihr Verweilen bei uns.«

Friedrich blickte etwas sauer, verbeugte sich steif und ging.

»Da haben wir's!« lächelte Gerhart mit scherzender Weinerlichkeit.

»Ach ja! in unseres Herrgotts Menagerie gibt es immer wieder dieselben Arten. Ein jeder Don Quixote findet seinen Sancho Pansa, der ihm bewundernd den Schild trägt.«

Verdrossen schwiegen die Frauen, nur daß Hulda nach einer Weile bemerkte: »Du übertreibst! Onkel ist doch etwas weit Besseres, als ein Don Quixote.«

»Na ja, weiß schon«, war Gerharts brummige Antwort. Und sinnend schlenderte man den Gartenweg dahin.

Aufseufzend, als habe sie etwas auf dem Herzen, blieb Hulda stehen: »He, Gerhart, sage mir! Was hältst Du von jenem Schauspieler?«

»Von dem ungarischen? Wie sollte ich von dem irgend etwas halten, da ich ihn überhaupt nicht kenne.«

»Du meinst also nicht, daß er etwa identisch ist – mit dem Onkel

»Das ist ausgeschlossen. Wie kommst Du auf diese Vermutung?«

»Weil Onkel Lamettrie manchmal etwas von einem Schauspieler hat.«

»Darin hast Du recht. Aber mit dem ungarischen Schauspieler ist er nicht identisch. Uebrigens möchte ich Tante Belling bitten, mir jetzt eine Aussprache über diese Angelegenheit zu gewähren. Im Haus, Tante! ich habe Schriftstücke vorzulegen. Du, Hulda, zeigst vielleicht inzwischen unserm Gast den Garten.«

Es war für Helmut etwas sanft Beglückendes, nun in ungestörter Traulichkeit mit dem Mädchen wandeln zu dürfen. Hulda schien auch zufrieden; und wortlos, gleichen Schrittes gingen die Beiden Seite an Seite.

Es kam ein Gewächshaus, dahinter Gemüse- und Obstgarten. Apfelbäume prangten mit rosa angehauchten Blüten. Nun hob sich sanft eine Rasenhalde. Ueber Stufen ging der Weg hinan, und parkartig wurde das Gelände. Ulmen wurzelten zwischen Gestein und da kam ein Bächlein geronnen.

»Haben Sie hier eine Quelle?« Bloß um das Schweigen nicht länger währen zu lassen, tat Helmut diese Frage.

»Nur scheinbar ist die Quelle; das Wasser wird hochgepumpt. Hier möchte ich Ihnen einen meiner Lieblingsplätze zeigen.«

Und zu einer Gruppe von Buchen stieg man empor. Unter dem überhängenden Wipfel einer Blutbuche war eine Bank aus knorrig gewundenem Astwerk.

Da nahm das Paar Platz, und während Helmut die Aussicht betrachtete, fragte Hulda: »Fällt Ihnen an dieser Landschaft etwas auf?«

Nach etlicher Betrachtung glaubte er herausgefunden zu haben, was sie meinte: »Hier sieht es ganz einsam aus.«

»Einsam – nun ja, gewissermaßen! das heißt ... Einsamkeit kann etwas recht Schmerzliches sein. Ich bin manchmal einsam ...«

»Oh!« sagte er bedauernd.

Herbe Wehmut zuckte in ihrem Lächeln. Rasch niederringend, was in ihr aufschluchzen wollte, fuhr sie mit Gelassenheit fort: »Aber schlimme Einsamkeit können Sie nicht meinen an so lieblichem Ort.«

»Oh keineswegs!« verbesserte er, »ich will nur sagen, daß eine süße Abgeschiedenheit hier wallet. Abgeschieden kommt man sich vor, entrückt dem menschlichen Getriebe.«

»Sie haben's erfaßt!« sagte sie leuchtenden Auges. »Jawohl, hier ist eine Stelle, wo man zwar einen lieblichen und fast reichen Ausblick hat, aber keinerlei Bau von Menschenhand sieht. Nichts von Onkels Anlagen, nichts von unserem Wohnhaus und von den Leutewohnungen, ja nicht einmal die Gewächshäuser. Sehen Sie, das ist meine süße Einsamkeit, wo ich die Menschen vergessen kann ...«

»Es sei denn, daß einer neben Ihnen sitzt«, scherzte er.

Sie lächelte herzlich: »Der stört ja nicht, im Gegenteil – der paßt hinein in meine Abgeschiedenheit.«

»Ist das ganz wahr?«

Erst zögerte sie mit der Antwort, dann sagte sie: »Können Sie mir etwas anderes zutrauen?«

Er blickte dankbar, und Friede wehte um ihn. Vom Wipfel der nahen Esche zwitscherte ein Schwarzköpfchen. Unermüdlich spann es süße Weise, die ein wenig an die Lerche erinnert, nur nicht deren Schmettern hat.

In den kurzen Pausen hörte Helmut den wallenden Mädchenbusen atmen. Ganz windstill wars, gewitterschwül – einmal kam es ihm vor, als hab es ferne gedonnert.

Wie lange er versunken blieb in diese Heimlichkeit, hätte er nicht zu sagen gewußt – zeitenlos wars. Und wie einer, der aus Traum erwacht, mußte er zu sich kommen, als er plötzlich wieder ihre Stimme vernahm, wie verhüllt: »Woran denken Sie?«

»Denken? An nichts. Oder – was hier dasselbe ist, an Unendlichkeit.«

Großen Auges blickte sie ihn mit leisem Lächeln an – auch sie schien Unsagbares zu spüren. Endlich versuchte sie, einen Ausdruck zu finden: »Sie weihen mir diese Stätte. Bloß Gras, Glockenblumen und Tausendschönchen hab ich hier, Baumwipfel und Gewölk – lauter unschuldige Natur. Dürften wir für immer einstimmen in das klingende Schweigen der Unendlichkeit!« –

Doch so sollte es nicht sein. Auf einmal ließ sich Gerharts Stimme vernehmen, und da schritt er auch schon den Weg herauf mit Frau Belling.

Das Paar erhob sich rasch. Einen wehmütigen Seufzer tat Hulda, Helmuts Auge ruhte ernst auf ihr – den Nahenden gingen sie entgegen.

9a. Zusammenfallen der Gegensätze

Nun sah Helmut auch Herrn Lamettrie, wie er auf anderm Wege den Hang heraufschritt, in der Richtung auf die Blutbuche. Dem Sinnenden entgegengehend, wagte er, eine Frage an ihn zu richten: »Dürfte ich mich nach etwas erkundigen, das Ihre Naturforschung betrifft?« Stehenbleibend erwiderte der Alte: »Bitte!«

Helmut wurde unsicher, ob solches Gespräch dem Fräulein nicht langweilig sein könnte. Hulda, zufrieden, nun einen Vorwand zu haben, um ihre Verlegenheit zu verbergen, nickte dem jungen Mann errötend zu, ergriff den Arm ihrer Mutter und ging mit dieser und Gerhart den Hang hinab. Helmut hatte sich gesammelt und wandte sich zu Lamettrie: »In Ihrer Unterredung mit Mister Friedrich brauchten Sie den Ausdruck »Polo« – Was ist das?«

»Polo ist die zwischen uns übliche Abkürzung für den Grad der elektrischen Polarität – will sagen der elektrischen Spannung in der Luft. Um diese zu messen, bediene ich mich einer von mir konstruierten Uhr. Nach ihrem jetzigen Stand sollte Friedrich sehen. Die von ihm erhaltene Auskunft berechtigt mich zu dem Schluß, das heutige Gewitter werde von kurzer Dauer sein.«

»Demnach könnte ihre Polaritätsuhr für die Landwirtschaft Wert haben?«

»Wenigstens in Amerika, wo heftige Gewitter und Wirbelstürme vorkommen ... Hier auf dem Schachthof freilich ist mir mehr daran gelegen, wie der Polograd mein Gemüt beeinflußt. – Sie wissen ja, wir sind ein Spiel von jedem Druck der Luft.«

Helmut war in Sinnen vertieft; dann wagte er sich zögernd heraus: »Hm, ich – habe lebhaftes Interesse für Polarität.«

Lamettrie schoß ihm einen forschenden Blick zu: »Sind Sie in der Physik bewandert?«

»Das wohl kaum. Aber mich fesselt die Frage, ob und wie der Polaritätsgedanke Anwendung auf mathematisch-philosophisches Gebiet verstattet?«

»Anwendung? – wie meinen Sie das?«

»Uebertragung sollte ich sagen. Ich meine philosophische Begriffe, die sich in die Sprache der Mathematik übertragen lassen, weil sie was Aehnliches sind, wie Spannung zwischen physikalischen Polen.«

»Das wäre so 'ne Art Natur-Philosophie?« bemerkte der Maschinenmensch kühl – »der alte Traum eines Novalis und Schelling!«

»Ein noch viel älterer! Vor zweieinhalb Jahrtausenden lehrte Herakleitos das Zusammenfallen der Gegensätze.«

»Und von dieser dämmrigen Trauminsel glauben Sie eine Brücke schlagen zu können zu unserem klaren mechanistischen Festlande?«

»Zum mechanistischen Festland?« entgegnete Helmut – »halten Sie das für ganz klar – alle Naturvorgänge auf brutale Bewegung zurückführen zu wollen?«

»Wieso brutal?« Und es sprühten die schwarzen Augen – »was sich mathematisch berechnen läßt, verdient diesen Ausdruck nicht. Mathematik gehört zur höchsten Geistigkeit.«

»Das meine ich eben auch – aber nach Ansicht der Mechanisten besteht diese höchste Geistigkeit nur für uns Menschen, so lang die Hirnfunktionen dauern – im Tode sind das nur Bewegungen von der Art des fallenden Steins, ohne Leben.«

»Allerdings, wenn im Gehirn das Leben erlischt, verfällt dieses ganz und gar den Gesetzen der leblosen Natur, soweit es nicht Pflanzen und Mikroben zur Nahrung dient.«

»Das eben meine ich mit dem Ausdruck brutal – er bezeichnet ein Ende der zugestandenen höchsten Geistigkeit. Ich glaube, daß diese ewig sein muß!«

»Wie der Pfarrer am Grabe predigt!« spottete Lamettrie aufbrausend – »verwehender Staub dem Staube, daß er ans Verwehen nicht glaube ... Please gentlemen, bleibt dem Maschinenmenschen mit dergleichen Kirchenfabrikat vom Leibe! Seid doch zufrieden, daß endlich mal das Leben erlöschen darf, und wir diese abgeschmackte Tragikomödie los sind.«

Helmut stutzte, betrübt darüber, daß er den greisen Sonderling, der dem Herzen Huldas so nahe stand, in neue Aufregung versetzt hatte – bescheiden fuhr er fort: »Herr Lamettrie, werden Sie nicht ungehalten, wenn ich schroff erscheine! Ich gehöre zu den Hartköpfen, die entweder ihre Ueberzeugung ungeschminkt sagen – oder aber sich schweigend zurückziehen ...«

Beschwichtigend legte der Alte seinen Arm in den des jungen Mannes: »Aber Herr Doktor! Ich bin Ihretwegen durchaus nicht ungehalten. Wir alle haben Sie schätzen gelernt ...«

Mit wehmütigem Lächeln entgegnete Helmut: »Jeder Ichmensch ist dem anderen ein Widerspruch, wo sein Wesen sich nicht einschmiegt ... Gläubig bin ich übrigens nicht in dem Sinne, wie Sie das Wort verstehen. Ich habe meinen Glauben nicht aus Vertrauensseligkeit, sondern aus Ueberzeugung.«

»Sie glauben an Gedanken, die durch sich selbst gewiß sind« – sagte der alte Ironiker – »Setzen wir uns ein Weilchen unter diese Blutbuche!«

»Im Grunde ist ja jede mathematische Einsicht durch sich selbst gewiß«, bemerkte Helmut.

Und der Andre ironisch: »Auch was Sie unter Polarität verstehen? Daß die echten Gegensätze in Eins zusammenfallen? Daß sie also keine Gegensätze mehr sind?«

»Es sind eben Pole« – war Helmuts ruhige Antwort – »positive und negative Elektrizität, wie Sie ihre Polarität nennen, fallen allerdings in Eins zusammen, wie im Unendlichen alle Gegensätze, denn diese kann es nur im Bereich der Endlichkeit geben. Soll ich Ihnen die Intuition des Herakleitos in mathematischer Formelsprache beweisen?«

»Schießen Sie los!«

»Nun denn: Die höhere Mathematik hat für das, was man unendlich-groß nennt, jenes Zeichen, das einer Brille ähnelt ∞, der Gegensatz ist das endlos Kleine, die Null.«

»Aber was nun weiter? Wieso fallen Unendlichgroß und Null in Eins zusammen

»Insofern jedes von beiden jenseits aller Größe ist, ungroß. Vergl. dazu Bruno Wille: »Der Ewige und seine Masken«, Kap, 36, »Zweierlei Unendlichkeit und zweierlei Null«. Größe hat nur, was mit Anfang und Ende gedacht wird, also das Endliche. Wenn ich gleichwohl den Ausdruck unendlichgroß gebraucht habe, so geschah es nur, um Ihrer Phantasie die Richtung auf immerwährendes Wachstum zu weisen; mit dem Unendlich Kleinen die entgegengesetzte Richtung ... Und nun suchen Sie mal diese Richtungen zu verschmelzen – das heißt, denken Sie das Unendliche ungeheuer groß, und Null denken Sie ganz winzig, was beinah zu nichts zusammenschwindet. Wenn Sie nun die beiden Pole miteinander multiplizieren – was kommt dabei heraus?«

Lamettrie versetzte, indem er seine Gedanken scharf zusammennahm: »Unendlich mal Null? Das gibt nichts Unendliches!

Also irgend etwas Endliches; alles Mögliche kann das sein.«

»Ganz recht! Alles Mögliche! Nur eben muß es endlich sein, etwas Ganzes, eine Größe gegenüber der Ungröße, ∞ x 1/∞ oder ∞ x 0=1; mit der Anmerkung, daß diese Eins in ihren Bestandteilen unbestimmt ist; ebensogut wie Eins könnte sie ja hundert, oder eine Million sein. Mit anderen Worten: Wenn ∞ x 0 den polaren Gegensatz bedeutet, so verschmelzen diese beiden Denkformen für Ungröße zum All.«

Lamettrie blickte dem jungen Mann ins Auge: »Das ist ja verblüffend einfach bewiesen – aber es stimmt – der Mathematiker muß es zugestehen ... Aber was folgt daraus? möcht' ich wissen ...«

»Oh, mancherlei folgt daraus! Zunächst daß ∞ x 0 die schöpferische Formel, die Allmacht bedeutet ...«

»Meinetwegen! wenn Ihnen an dieser Bezeichnung gelegen ist, die der kirchlichen Glaubenswelt entstammt.«

»Sie bezeichnet nicht den Gott der Kirche, sondern den Unbekannten Gott, den Ewigen schlechthin, der alle möglichen Masken der Mythologie tragen kann, wie auch alle möglichen Masken der Naturwissenschaft, Dichtung und Philosophie.«

»Sie vertreten also eine Art Glauben, in welchem alle Bekenntnisse sich einigen ließen?«

»Sofern sie nicht rechthaberisch sind, sondern gelten lassen, daß sich das große Geheimnis auch in anderen Formeln deuten ließe.«

»Ja, wenn in unserer Zeit reine Beschaulichkeit und Logik maßgebend wären! Aber die Menschen wollen einander beherrschen! Die Völker wünschen die Gewalt, sonst könnten sie sich gegenseitig nicht ausbeuten! Aber Ihnen muß ich gestehen: Ihr mathematisches Philosophieren macht mir den Eindruck ... wir müssen mal gründlich darüber reden. Für heute fällt mir das schwer – es ist zu schwül; das Gewitter beunruhigt meinen Kopf ... Sagen Sie mir noch das Eine, wie denken Sie sich das Dichterwort: Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen?«

»Das Wesen der Materie«, versetzte Helmut – »ist Gegensätzlichkeit: Bewegung und Gegenbewegung, fortwährendes Hin und Her. Selbst im scheinbaren Ruhezustand zittert jeder Stoff – nur ist die Strecke der Bewegung dann annähernd gleich Null. Er schwingt wie Ein- und Ausatmen, Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Sommer und Winter, das sind ja auch polare Gegensätze, die in Eins zusammenfallen – – –

Doch halt! Sehen Sie, wie sich der Himmel umdüstert? Ich glaube, wir täten wohl daran, ins Haus zu gehen. Da blitzt es schon!«

Lamettrie stand von der Bank auf: »Ob die Gegensätze unserer Persönlichkeiten auch wohl mal zusammenfallen?«

»Im Grenzenlosen« – erwiderte der junge Mann – » finden wir einander – da löst sich aller Widerspruch.«


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