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Vor dem Thore des Städtchens stand ein hübsches, neues Haus, das der »neue Konditor« erbaut hatte, der erst kürzlich hereingezogen war. Ein Konditor war eine wichtige Erscheinung, seither hatte man nur einen Zuckerbäcker gehabt, der in einem finstern Laden hauste und von dessen Dasein man nur zur Weihnachtszeit Kenntniß nahm, wo große Lebkuchen in Herzgestalt bei ihm zu haben waren.
Herr Protzel, der neue Ankömmling, war überdieß auch der erste Gewerbsmann, der es wagte, sich zu den Honoratioren des Städtchens zu zählen, welche Anmaßung zuerst mit etwas scheelen Augen gesehen, aber am Ende doch geduldet wurde. Hatte er doch einen Sohn, der Medicin studirte, wenn auch der Erfolg noch etwas zweifelhaft war, und seine Tochter, die rothwangige Ricke, ein gutmüthiges, etwas einfältiges Mädchen, hatte, wie man aus sichern Quellen wußte, bereits eine Liebschaft mit einem Juristen gehabt und war jetzt mit einem Pfarrer versprochen.
Eines Abends zeigte sich eine besonders lebendige Bewegung in und vor dem Protzel'schen Hause. Vor demselben stand ein bereits hochbepackter Wagen, auf dessen Gipfel immer noch neue Möbeln, mit bauschigen Betten dazwischen, geladen wurden, lauter Stücke, die lange vorher schon auf der Straße ausgestellt waren und einen Kreis von Kindern und sonst schaulustigem Volk um sich versammelt hatten.
Herr Protzel, der dicke Papa, ging geschäftig umher und half dem Fuhrmann, der mit Seufzen die Last betrachtete, die seine dürren Mähren morgen zu schleppen hatten. Ricke bewegte sich mit einem Kopf voll Papilloten am Fenster hin und her und trug ihren Hochzeitsstaat zusammen. Der Sohn Theodor schaute sehr vornehm in einer rothen Cerevismütze dem Treiben zu und half, insoweit als er die bereits gerüsteten Speisen reichlich kostete. Die Frau Mama wußte vollends nicht, wo ihr der Kopf stand; sie sollte für's Einpacken sorgen, Brezeln rüsten zum morgigen Frühstück, einen Schinken zur heutigen Nachtkost, ferner etliche haltbare Speisen, die sie der Ricke mitgeben könnte, daneben noch den Brautstaat besichtigen und einen Thee bereit halten für den Bräutigam, der jeden Augenblick erwartet wurde; denn man wird auf all diesen Anstalten leichtlich ersehen haben, daß der Tag gekommen war, wo der Herr Pfarrer seine Braut heimholen sollte.
Die Eltern waren trotz aller Wehmuth des Abschieds höchst vergnügt, ihre Ricke nun bald als Frau Pfarrerin zu sehen; Ricke selbst aber schien in nicht sehr bräutlicher Stimmung. Selbst der Brautstaat machte ihr wenig Freude, und sie bemerkte gegen die Mutter einmal halblaut, sie möchte doch wissen, was wohl der Ferdinand dazu sagen würde. Von der Frau Mama ward sie wegen dieser unpassenden Reminiscenz gehörig ausgezankt. »Wenn der Ferdinand etwas von Dir gewollt hätte, so hätte er sich lang zeigen können, eh der Pfarrer um Dich angehalten; und statt daß Du nun Gott danken solltest, daß sich so ein guter Anstand zeigt, denkst Du noch . . .« Der mütterliche Redefluß ward unterbrochen durch das Anrasseln der stattlichen, wenn auch etwas baufälligen Kutsche, aus der der Herr Pfarrer schon längst mit zarter Sehnsucht den Kopf heraussteckte.
Die ganze Familie zog ihm zu froher Begrüßung entgegen, auch das Bräutchen faßte sich, ließ sich die bräutigamliche Zärtlichkeit gefallen und erfreute und verwunderte sich gebührlich über den schönen Shawl, den ihr der Bräutigam verehrte.
Einige bedenkliche Unfälle warfen freilich ihren Schatten in die Vorfreude des Festes. Jungfer Mine, die uns schon bekannt ist, hatte versprochen eine Biskuittorte von ihrer eigenen Meisterhand zu liefern, die Hanne aber war auf der Schwelle des Bäckerhauses über einen der Möpse gestürzt, der ihr unberufener Weise nachgelaufen war, und die edle Masse floß ungebacken in den Staub. Das blaue Taffentkleid, das die Nähterin in tiefer Nacht noch für die Mama gefertigt, wurde aus nächtlichem Versehen mit grünen Franzen garnirt und andere waren in M. nimmer aufzutreiben; – aber mit großer Seele setzte sich die Familie Protzel über diese Unfälle weg und beschloß, sich demungeachtet zu amüsiren.
Die Gesellschaft saß beim Nachtessen und der Herr Tochtermann malte eben den glänzenden Empfang aus, den ihm wahrscheinlich seine Gemeinde zugedacht. Ricke ging hinaus, um ein neues Gericht aufzutragen, da stand auf der Treppe des Nachbar Zimmermanns Suffiele (Sophie) und winkte ihr eifrig hinunter zu kommen: es wolle sie unten Jemand heimlich sprechen. Wer stellt sich das Erstaunen und den Schreck des armen Bräutchens vor, als drunten der Ferdinand stand, der flotte Jurist, der ihr vor einem Jahr drei Monate lang so eifrig die Cour gemacht und an einem schönen Mondscheinabend ihr das Versprechen ewiger Liebe abgenommen hatte, der aber seither nichts mehr von sich hatte hören lassen, obgleich er bereits im Merkur angezeigt, wo er seinen Wohnsitz als Rechtspraktikant genommen, und obgleich Ricke durch eine Freundin ihn von der Bewerbung des Pfarrers hatte in Kenntniß setzen lassen.
Da ihre Unterredung ohne Zeugen war, so weiß Niemand, wie heftig er dem armen Kind zugesetzt, mit was für schrecklichen Dingen er gedroht, im Fall sie ihm den Pfarrer vorzöge. Genug, Ricke kam zum Tisch zurück mit rothgeweinten Augen, die aber auf Rechnung der bräutlichen Bewegung geschrieben wurden. Die Mama trieb Alles bald zur Ruhe, da der Herr Helfer schon auf Morgens sechs Uhr zur Kopulation bestellt war, damit das junge Ehepaar noch zu rechter Zeit in dem etwas entlegenen Wohnort des Pfarrers eintreffen könnte. Ricke aber versah sich in aller Stille mit einem Hausschlüssel und legte Hut und Mantel bereit.
Am andern Morgen ward es schon um vier Uhr laut im Hause; die Mama mochte dem Töchterlein wohl noch den Schlaf gönnen, als aber der Manewel erschien, um die Braut zu frisiren, da mußte sie denn doch geweckt werden. – Den Manewel darf ich aber nicht vergessen, wenn ich von M. spreche; war er doch lange Jahre das Faktotum des Städtchens, und wenn er nicht gestorben wäre, man hätte gar nicht geglaubt, daß es möglich sei, ohne den Manewel auszukommen. Er hieß eigentlich Immanuel und war der Sohn eines getauften Juden, selbst ein guter Christ, ein kleines, wuseliges Männchen, das mit seinen kurzen Füßlein in einem Tage weiter kam als Andere mit langen in zwei. Er war ursprünglich seines Handwerks ein Friseur, aber er war auch ein Kürschner, er konnte auch Hühneraugen ausschneiden, Flecken herausmachen und Warzen vertreiben; er machte den Vorschneider und Aufwärter bei Gastmählern, den Vorreiter bei Schlittenfahrten, den Expresseboten bei wichtigen Angelegenheiten, den Leichenbitter bei Sterbfällen, kurz, er war in Allem zu Haus der Manewel, und spezieller Hausfreund in den meisten Familien.
Trotz all seiner Kunst konnte er aber dießmal die Ricke nicht frisiren, denn – die war nirgends zu finden. Mit Entsetzen kam die Mama aus ihrem leeren Schlafzimmer, wo sie dem Anschein nach gar nicht geruht hatte. Ein furchtbarer Tumult entstand im Haus, das Suffiele, die schon lang spionirt hatte, war bald bei der Hand, und berichtete, wie gestern Abend »im Dämmer« ein fremder Herr die Jungfer Ricke zu sprechen begehrt habe, und wie er, so viel sie von weitem habe sehen können, ganz »zweifelhaftig« (verzweifelt) mit ihr gethan habe. An ihrer Beschreibung erkannte man alsbald den Ferdinand, und der Gedanke an eine Entführung versetzte die ganze Familie in maßlose Empörung. Der Student fluchte, daß in dem Nest kein Reitpferd zu haben sei, er wollte sie bald eingeholt haben und blutig die Schmach seines Hauses rächen; der Pfarrer sprach davon, die zwei dürren Schimmel einspannen zu lassen, die ihm ein bußfertiges Beichtkind zur Hochzeitreise geliehen, und so den Flüchtigen nachzusetzen; die Mama lief mit der Blondenhaube umher, die sie verkehrt auf hatte, und berief die ganze Nachbarschaft zu Rath und Hülfe.
Da gab der benachbarte Bäcker an, er habe vor Tag ein Frauenzimmer mit einem Herrn dem Thorthurm zulaufen sehen. Nun ging der Mama ein Licht auf: »So sind sie am Ende nur bis zur Base Thurmbläserin geflüchtet!« – Die Thurmbläserin, eine Verwandte der Frau Protzel, war eine ehrwürdige alte Frau, deren eingefallene Wangen und bescheidene Haltung sehr im Contrast standen mit dem Namen, den man ihr beilegte, weil sie als Wittwe des vormaligen und Mutter des jetzigen Stadtzinkenisten die kleine Wohnung auf dem Thurm bewohnte, von dessen Altan alle Sonntage durch ihren Sohn und dessen fünf musikalische Sprößlinge eine volltönende Choralmusik geblasen wurde.
So klimmte also die erschütterte Familie, mit Ausnahme des Bräutigams, die Thurmtreppen hinan. Die Frau Base Thurmbläserin, eine gar rechtschaffene Frau, war auch bereits auf und empfing sie sehr verlegen, ihre Tochter war gleichfalls verblüfft, sie erwiderten aber auf die hastigen Fragen, sie wüßten nichts und hätten Niemand gesehen. – Die beiden Herrn begannen indessen ohne weitere Umstände eine Hausdurchsuchung – kein sehr großartiges Unternehmen in dem beschränkten Lokal. Bald wurde denn auch die zitternde Ricke unter dem Bette der Frau Base hervorgezogen; schwieriger war es, den Rechtspraktikanten aufzufinden; endlich entdeckte man ihn in einem Möbel, dessen Namen nicht wohl genannt werden kann und das wegen der Bauverhältnisse des Thurms hier in so großartigen Dimensionen vorhanden war, daß es sogar dem ziemlich hochgewachsenen Juristen zum Schlupfwinkel dienen konnte. Der Entdeckte versuchte durch ein äußerst martialisches Gesicht seine etwas mißliche Situation zu heben, ward aber mit einem solchen Hagel von Vorwürfen und Lamentationen überschüttet, daß er, davon eingeschüchtert, endlich erklärte, wenn Ricke den Pfarrer ihm vorziehe, so trete er zurück. Die arme Ricke ließ sich durch die Drohungen des Vaters und den Jammer der Mutter bald bewegen, mit in's Haus zurückzukehren. Der Bräutigam empfing sie ohne Vorwürfe, und der Manewel sollte sein Werk an dem ziemlich verstörten Kopf der Braut beginnen; aber inmitten seiner Arbeit sprang sie immer wieder auf: »Nein, ich kann nicht, ich kann von dem Ferdinand nicht lassen!«
Inzwischen hatte sich der Herr Helfer in der Kirche eingefunden, in welcher bereits eine ziemliche Anzahl schaulustiger Frauenzimmer versammelt war, auch übte auf der Orgel der Schulmeister mit dem fähigern Theil der Schuljugend ein Hochzeitlied ein – aber kein Brautpaar erschien. Endlich ward der Meßner als Bote ausgesandt. Die Frau Mama vertröstete ihn, sie kommen bald. Der Bräutigam stürzte in Ricke's Zimmer, deren Toilette noch lange nicht vollendet war, und beschwor sie, nun doch sich zu entschließen und zu eilen – vergeblich! Der Meßner erschien zum zweitenmal mit ziemlich brummigem Ton. Das Volk harrte auf der Straße; ich war damals noch ein Kind und war nebst meinen Geschwistern eine Stunde früher aufgestanden, um doch auch den Hochzeitzug zu sehen. Wir guckten uns fast die Augen aus – kein Brautpaar. Endlich erscholl die Kunde, es werde nichts aus der Hochzeit, die Ricke wolle schlechterdings den Pfarrer nicht.
Das Volk zerstreute sich, der Herr Helfer ging nach Haus, die Jungfrauen und die singende Jugend zogen sich zurück, im Hause Protzel stieg aber der Tumult und die Verwirrung auf den höchsten Grad. Ricke ergriff den Ausweg, beständig zu heulen und zu schreien; die Mama schlug sich auf ihre Seite und suchte sie in Schutz zu nehmen; der Bräutigam bestellte seine Pferde, rannte indeß verzweifelt umher und stieß den Kopf gegen die Wand, zum Glück aber mit vorgehaltenen Händen; der Sohn putzte Pistolen, um sich mit dem Ferdinand zu schießen, welcher gefährliche Plan jedoch nicht ausgeführt wurde; Papa Protzel wetzte ein Transchirmesser und erklärte, er wolle zuerst Frau und Tochter, dann sich selbst erstechen, vergaß aber wieder die blutdürstigen Gedanken über dem Anblick des verzierten Hochzeitschinkens, der mit den Namenszügen des Brautpaars geschmückt war, und zu dessen Zerlegung das geschliffene Messer eben geschickt war.
Der Bräutigam fuhr ab. Was er und seine Gemeinde für Gesichter gemacht, als ihm eine Deputation derselben entgegen kam, mit der singenden Schuljugend und einem bekränzten Hammel, der die Inschrift trug:
Weil unsere Frau Pfarrerin ist so brav, So bringen wir ihr ein junges Schaf. |
davon schweigt die Geschichte und es kam keine Kunde darüber nach M.
Die Familie Protzel verweilte nicht mehr lange in dem Städtchen; ungünstige Vermögensverhältnisse veranlaßten den Mann, sein neuerbautes Haus zu verlassen und einen andern Wohnort zu wählen.
Die arme Ricke aber hatte ein trauriges Geschick. Für den Rechtspraktikanten hatte, scheint es, nur die Aufgabe Reiz gehabt, sie noch am Hochzeitmorgen im Sturm zu erobern; als sie sein unbestrittener Besitz war, verlor sie Reiz und Werth für ihn. Durch allerlei Intriguen brachte er sie in Verdacht eines Liebesverhältnisses mit seinen Bruder, und ergriff diesen Vorwand, sich gänzlich von ihr loszumachen. Der Bruder aber hatte auch nicht Lust, sie zu übernehmen, und so blieb das arme Kind sitzen, verlassen und vergessen; man hat in M. nichts mehr von ihr gesehen.
Seither ging aber in M. der Geistliche zu einer Trauung erst dann in die Kirche, wenn das Brautpaar bereits zur Stelle war, und noch lange war das unterbrochene Hochzeitfest ein Gegenstand gründlicher Erörterungen und Besprechungen in allen Cirkeln des Städtchens.