Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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II.

Wenn du alles, was ich dir bisher von diesem in seiner Art einzigen Manne gesagt habe, zusammen nimmst, Hegesias, so dürfte es dir leicht von allen seinen Wundern das wunderbarste scheinen, wie er – erst ziemlich lange nach seinem Tode, und nach einem so schmählichen Tode – das Haupt einer bereits sehr zahlreichen, durch die ganze Römische Welt ausgebreiteten, geheimnisvollen, religiösen Sekte, die allen bestehenden Religionen den Krieg ankündigt und den Untergang droht, habe werden können. Ich muß dir also, bevor ich weiter gehe, noch von einem höchst sonderbaren Umstande seiner Lebensgeschichte sprechen, der, wie unglaublich er dir auch vorkommen mag, doch seine völlige historische Richtigkeit zu haben scheint, und dir sowohl etwas, das mir gestern entfiel und worüber du nicht wenig zu stutzen schienst, begreiflich machen, als das so eben erwähnte Problem seiner Auflösung merklich näher bringen wird.

Erinnerst du dich noch, daß ich das Institut der Christianer, oder vielmehr das Werk seines ersten Urhebers, mit einem allmählich aus einem zarten, aber lebenskräftigen Keim empor wachsenden gewaltigen Baume verglich, und dann hinzu setzte: er stehe unter dem Schutz eines mächtigen Genius. Du selbst wirst, wie ich kaum zweifle, an diesen Genius glauben, wenn du Geduld hast, mir noch weiter zuzuhören.«

Ich. »Du scherzest, Apollonius. Wer wollte dir nicht Tage lang zuhören, zumal nachdem du seine Erwartung so hoch gespannt hättest, wie jetzt die meinige?«

Apollonius. »So wisse also, daß der wichtigste Teil der Geschichte meines Helden sich erst mit seinem Tode anfängt. Das glaubwürdigste von dieser unglaublichen Begebenheit, so weit ich ihr auf die Spur kommen konnte, beruht auf folgenden Umständen. Er hatte in der Nacht, da das so genannte Synedrion zu Jerusalem sich seiner Person bemächtigte, und an dem darauf folgenden Morgen bis zur dritten Tagesstunde, da er gekreuziget wurde, an Leib und Gemüt schon so viel gelitten, daß diese letzte, durch verschiedene Umstände noch mehr geschärfte Marter binnen sechs Stunden die Kräfte seines zart organisierten Körpers (wie groß man sie auch, verhältnismäßig, in einem vollkommenen Gesundheitszustande bei einem von allen Arten der Verderbnis immer frei gebliebenen Manne von fünfunddreißig Jahren annehmen mag) aufs äußerste erschöpft haben mußte. Genug, er selbst glaubte, einige Augenblicke vor einer todähnlichen Ohnmacht, die ihn überfiel, den Tod selbst zu empfinden, und befahl mit lauter Stimme seinen Geist in die Hände seines Vaters. Da er unmittelbar darauf sein Haupt neigte und kein Zeichen des Lebens mehr gab, glaubte man, er sei verschieden; und einer seiner heimlichen Anhänger, ein Mann von Ansehen und Vermögen, eilte was er konnte, sich die Erlaubnis, den Leichnam vom Kreuz abzunehmen und noch vor Sonnenuntergang zu begraben, von dem Römischen Prokurator zu erbitten. Weil es gewöhnlich einen und mehrere Tage ansteht, bis ein mit dieser peinvollen, aber langsamen Todesart belegter Mensch endlich verschmachtet, so wollte Pilatus nicht glauben, daß er schon tot sein könnte, machte aber doch keine Schwierigkeit, die begehrte Erlaubnis zu erteilen. Einige gute Weiber von der Familie des Gekreuzigten und einer seiner Freunde hatten indes in aller Eile die zu Einbalsamierung des geliebten Leichnams nötigen Spezereien zusammen zu bringen gesucht; da aber der Sabbat, an welchem den Juden bekannter Maßen jede Art von Arbeit oder Beschäftigung ein todwürdiges Verbrechen ist, im Anbruch war, so hatte der besagte Freund kaum noch so viel Zeit, den Leichnam in Leinewand zu wickeln und in einem neuen, noch nie gebrauchten Begräbnisgewölbe beizusetzen, das in einem, nahe am Ort der Kreuzigung gelegenen, vermutlich ihm zugehörigen Garten, in einen Felsen gehauen war. Die Feinde des Gekreuzigten hatten indes, aus Furcht, seine Anhänger möchten den Leichnam stehlen, und dann unter das Volk aussprengen, er sei, seiner Vorhersagung gemäß, wieder lebendig aus dem Grabe erstanden, bei Pilatus ausgewirkt, daß er den großen Stein, womit die Öffnung des Grabes zugeschlossen worden war, versiegeln und das Grab von einigen Römischen Soldaten bewachen ließ. Es schien nun unmöglich, daß der Gekreuzigte, wofern auch sein geglaubter Tod nur ein Scheintod gewesen wäre, jemals lebendig aus einem so wohl verwahrten Grabe hätte heraus kommen können: aber siehe da, ein zwar ganz natürliches, aber auch so ganz zur rechten Zeit, wie gerufen, sich einstellendes Ereignis, das auf einmal alle Vorsichtsanstalten der boshaften Juden zu nichte macht! In der Nacht zwischen dem Sabbat und dem nächst folgenden Tage sprengt ein plötzliches Erdbeben das Grabmal und den Begrabenen zugleich auf, und verjagt die erschrocknen Wächter. – Der Totgeglaubte erwacht, geht hervor, zeigt sich noch an demselbigen Tage einigen, und in den folgenden vierzig Tagen nach und nach allen seinen in Traurigkeit über die Vernichtung ihrer glänzenden Hoffnungen versunkenen Vertrauten, überzeugt sie aufs vollkommenste daß er lebe, ißt und trinkt mit ihnen, gibt ihnen neue Aufschlüsse über alles, was ihnen vorher an ihm unverständlich und unerklärbar war, weihet sie zu Boten des Reichs Gottes an alle Völker der Erde ein, und, nachdem er sie zum Abschied auf einen Berg unweit Jerusalem versammelt hat, gibt er ihnen seine letzten Befehle, segnet sie, und wird von einer Wolke vor ihren Augen gen Himmel aufgehoben.«

Ich. »Wunderbar genug, und beinahe mehr, als man einem Arzt und Naturforscher zu glauben zumuten darf. Indessen dünkt mich, ich sehe eine Möglichkeit den Genius der Mühe, die er bei dieser Begebenheit so gefällig auf sich genommen haben soll, zu überheben; was, wenn ich nicht irre, in jedem Falle, wo wir uns mit einer natürlichern Erklärungsart behelfen können, unsre Schuldigkeit ist. Vergib mir, ehrwürdiger Apollonius, wenn mein Zweifel an einer Sache, die ein Mann wie du für wahr gelten zu lassen scheint, ein wenig unbescheiden klingt. Aber sollte dein Held wirklich von allen täuschenden Mitteln zu seinem, wenn du willst, edeln und wohltätigen Zweck so frei gewesen sein, wie du annimmst, oder sich nicht wenigstens durch ein leidendes Verhalten zu den Täuschungen bequemt haben, die von seinen Freunden ihm zu Liebe veranstaltet wurden? Wie wenn einige geheime, oder nur selten, gleichsam im Vorbeigehen, sichtbar werdende Agenten in seine Geschichte verflochten wären? Der vornehme und reiche Mann z. B. der so große Eile hatte, seinen Freund vom Kreuz abzunehmen –«

Apollonius. »Ich erinnere mich jetzt, daß er Joseph von Arimathia hieß, und ein Mitglied des Jüdischen Senats war.«

Ich. »Ich gestehe, dieser wackere Mann ist mir ein wenig verdächtig, wiewohl mein Verdacht ihm bei mir zur größten Ehre gereicht. Wahrscheinlich kam es auch ihm nicht glaublich vor, daß sein unglücklicher Freund, aller Anscheinungen des Todes ungeachtet, wirklich tot sei. Daher seine Eile, ihn vom Kreuz abzunehmen und in das, zu gutem Glück, in seinem Garten bereit stehende Grab zu schaffen, aus Furcht, daß er etwa zu früh wieder zu sich selbst kommen, und seine Bemühungen ihn zu retten dadurch vereiteln möchte. Dies vorausgesetzt, ist zu vermuten, daß dieser Joseph auch Mittel gefunden haben wird, die Römische Wache gefällig zu machen, und den Begrabenen, nachdem er ihn wieder zu sich selbst gebracht und gestärkt, auf die eine oder andere Weise in Sicherheit zu bringen.«

Apollonius. »Nach deiner Hypothese wären die Wächter am besten bei diesem Handel gefahren. Denn die Geschichte sagt: ›Nachdem die Auferweckung des Gekreuzigten ruchtbar zu werden angefangen, hätten seine Feinde und Mörder den Wächtern heimlich viel Geld gegeben, daß sie sagen sollten, sie wären eingeschlafen, und die Anhänger des Nazareners hätten sich indessen ihres Vorteils ersehen und den Leichnam auf die Seite gebracht.‹ – Sie wären also von beiden Parteien bezahlt worden, von der einen, zu schlafen, und von der andern, sich selbst anzuklagen, daß sie geschlafen. Indessen will ich über deine Mutmaßung nicht mit dir hadern, lieber Hegesias; wiewohl es dir schwer fallen dürfte, sie mit einigen, nicht von mir erwähnten Nebenumständen dieser wunderbaren Begebenheit in Übereinstimmung zu bringen. Genug, daß die Hauptsache, mit ihren wesentlichsten Umständen, unleugbar, ja schon allein durch die Existenz des Christianism hinlänglich erwiesen ist; so wichtig waren die Folgen dieser Auferstehung (was auch ihre Ursache gewesen sein mag) sowohl für den Stifter selbst als für seine Anhänger.

Dies verdient eine genauere Erläuterung, wozu ich dich um Geduld und Aufmerksamkeit bitten muß; denn ich kann nicht umhin, meiner Gewohnheit nach, etwas weit auszuholen.


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