Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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III.

Ich hatte nun das Alter erreicht, wo ich mich, wie der junge Herakles des Prodikos, entscheiden sollte, was für einen Weg durchs Leben ich einschlagen wollte. Es bedurfte keiner langen Überlegung, um mit mir selbst einig zu werden, daß ich zu keiner gewöhnlichen Beschäftigung berufen sei, und zu keiner Rolle tauge, wozu Geldgier, oder Hang zu einem wollüstigen Leben, oder die gemeine Art von Ehrsucht, die durch Ehrenstellen und glänzende Dienstbarkeit zu befriedigen ist, den großen Haufen zu bestimmen pflegt. Ich wollte in einem großen Kreise wirken: aber unter solchen Weltbeherrschern, wie Cäsar Augusts erste Nachfolger waren, würde jede Hoffnung, durch unmittelbaren Einfluß auf sie selbst, oder durch Verwaltung eines Teils ihrer höchsten Gewalt, der Menschheit nützlich zu werden, Torheit gewesen sein; wenn es auch einem frei gebornen Hellenen aus einer unbekannten Stadt in Kappadozien möglich gewesen wäre, sich durch Verdienste einen Weg zu den ersten Stellen des Reichs zu öffnen. Hellenische Sklaven oder sklavische Römer, Kinäden, Histrionen, Kuppler, Elende, die das schändlichste zu leiden und zu verüben fähig waren, hatten von der Regierung der Römischen Welt Besitz genommen; und wer anders, als ihres gleichen, hätte sie zu verdrängen, oder ihnen nachzufolgen, wünschen können?

Freilich gab es auch eine Menge von Ämtern und Würden im Umfang der Hellenischen Welt, zu welchen meines gleichen sich hinauf schwingen konnten; nur mußte es auf jedem andern, als dem Wege des Verdienstes, geschehen. Wer in jenen Zeiten reine Grundsätze und Sitten, als einen Titel zu solchen Stellen, hätte anführen wollen, würde für einen aus dem Monde herab gefallenen Menschen angesehen worden sein. Fügte sichs auch einmal durch einen sonderbaren Zufall, daß ein Mann von solchem Charakter irgend eine Rolle im gemeinen Wesen zu spielen bekam: so fand er bald genug, daß ihm keine andre Wahl übrig bleibe, als entweder seine Grundsätze aufzuopfern, oder selbst das Opfer derselben zu werden. Aber (sagte ich zu mir selbst) warum denn von äußerlichen Bestimmungen erwarten, was ich im Leben sein soll? Die Natur selbst hat mir meine ganze Bestimmung schon gegeben, da sie mich zu einem Menschen machte: wenn ich dies bin, Alles bin, was die Idee des Menschen in sich faßt, was könnt ich edleres und größeres zu sein verlangen? Je tiefer die Verderbnis ist, zu welcher ich meine Zeitgenossen herab gesunken sehe, je geringer die Menschheit in ihrer eigenen Schätzung, und je verächtlicher sie in den Augen ihrer Unterdrücker ist: desto nötiger ist es, daß Menschen aufstehen, welche die Würde ihrer Natur zu behaupten wissen, und in ihrem Leben darstellen, was für ein erhabenes, unabhängiges und viel vermögendes Wesen ein Mensch bloß dadurch sein kann, daß er alle seine Anlagen entwickelt und alle seine Kräfte gebrauchen gelernt hat.

Von dem Augenblick an, da mir dieser Gedanke in seinem ganzen Umfang klar geworden war, füllte er auch meine ganze Seele aus. Er allein beschäftigte im Wachen und Schlafen meinen Verstand und meine Einbildungskraft. Innigst glaubte ich zu fühlen, daß meine ganze Bestimmung von dieser einfachen Formel umschrieben werde: ›sei so frei und tätig, so groß und gut, als du durch dich selbst sein kannst!‹ – und innigst fühlte ich, daß nur das unaufhaltsame Streben nach dieser Vollkommenheit den stolzen Wunsch, keinen höhern über mir zu sehen, befriedigen könne. Was blieb mir nun übrig, als unverzüglich Hand ans Werk zu legen? Denn von nun an mußte ich, so zu sagen, mein eignes Werk sein. Ich selbst mußte die wesentliche Form meiner Natur ausbilden, den Zweck meines Lebens fortsetzen, und in allem meinem Tun und Lassen mein eigner Oberherr, Gesetzgeber und Richter sein.

Ich erlasse dir, Hegesias, um deine Geduld nicht zu sehr zu ermüden, den größten Teil der Betrachtungen, die ich in diesem entscheidenden Zeitpunkte meines Lebens anstellte, um dir nur die Resultate davon zu geben, die (wie ich glaube) einem Manne von deinem Scharfsinn hinlänglich sind, da sie dich von selbst auf die Wege hinweisen, worauf ich zu ihnen gelangte.

Von Zeit zu Zeit waren in den vergangenen Jahrhunderten einzelne Menschen aufgetreten, die ich mir, bei diesem für mich so wichtigen Geschäfte, zu Mustern nehmen konnte. Ich kannte sind schätzte sie alle; aber vorzüglich ragten, in meinen Augen, aus allen andern Pythagoras und Diogenes hervor. Indem ich stückweise durchdachte, was jeder von ihnen gewesen war, sah ich, daß jeder in einigen Stücken über, in einigen unter dem andern, gewesen war. Aber wenn ich die Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit des Diogenes mit den tiefern Kenntnissen und der Würde des Pythagoras, und mit der Macht über die Gemüter, die sich dieser zu verschaffen wußte, vereinigen könnte, dann, dacht ich, würde ich eine Höhe erreichen, welche noch von keinem Sterblichen erstiegen worden; – und dies deuchte mir ein Ziel, das mit allen nur ersinnlichen Aufopferungen nicht zu teuer erkauft würde.

Du siehest, Hegesias, wie viel daran fehlte, daß mein Verlangen nach Vollkommenheit rein genannt werden konnte: aber ich entschuldige nichts, wie ich nichts verschönere. Ich versprach dir nichts, als mich ehrlich darzustellen, wie ich war, wie ich wurde, und wie ich bin. Ich sage dir was ich selbst davon weiß, und kann dich nur alsdann betrügen, wenn ich unvermerkt von mir selbst betrogen würde. Höre also, wenn du Lust dazu hast, wie ich es anfing, das hohe Ziel zu erringen, das ich mir vorgesteckt hatte.


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