Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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VII.

Als die Tageshitze zunahm, führte mich Agathodämon in seine Felsenwohnung. Die Natur und die Zeit hatten durch verschiedene größere und kleinere Aushöhlungen dem ehemaligen Besitzer vorgearbeitet, als er es unternahm, eine Wohnung für seinen Freund darin zurichten zu lassen. Wir traten in einen hohen und geräumigen Saal, der auf zwei Reihen Dorischer Säulen ruhte, und mit den Brustbildern der berühmtesten Weisen, Dichter, Redner, Staatsmänner und Künstler Griechenlands ausgeziert war. Eine der schmälern Wände nahmen verschiedene Schränke mit Büchern ein. Auf der längern Seite führte eine Tür in einen kleinen Speisesaal, und eine andere in etliche Schlafkammern und zum Aufenthalt der Hausgenossen. »Hier«, sagte Agathodämon, indem er mir die Bequemlichkeiten seiner Wohnung zeigte, »hier ist alles, wie du siehst, und noch mehr, als was ein Mann von sechsundneunzig Jahren bedarf, der sich an dem Schauspiel des menschlichen Lebens müde gesehen, und seine eigene Rolle ausgespielt hat. Für eine Grabhöhle ist hier alles räumig und gemächlich genug.«

»Du, Agathodämon, du sechsundneunzig Jahre?« rief ich mit einem Erstaunen, welches ihm an Unglauben zu grenzen schien.

»Was befremdet dich am meisten, (sagte er lächelnd) daß ich in einem so hohen Alter nicht gebrechlicher aussehe? oder, daß ich, mit einer solchen Leibesbeschaffenheit, ein so hohes Alter erreichen konnte?«

»Ein solches Alter, (erwiderte ich) bei einer Lebhaftigkeit und Stärke, welche von vielen, die kaum halb so viel Jahre zählen, beneidet werden dürften, zeugt unfehlbar von einer vortrefflichen Natur: aber ich müßte mich sehr irren, wenn nicht Weisheit und Enthaltsamkeit den größten Anteil an der Ehre hätten, die du der Menschheit auch in diesem Stücke machst. Ein Nestor war schon in den heroischen Zeiten der Ilias eine seltne Erscheinung; wie sollte sie in den unsrigen nicht unglaublich sein?«

»Ich meines Teils (versetzte der Alte) bin völlig überzeugt, es liege bloß an den Menschen selbst, daß ein Jahrhundert nicht das gewöhnliche Maß ihres Lebens ist. Wäre die Lebensweise, welcher ich dieses hohe und noch ziemlich kräftige Alter zu danken habe, allgemein, so würde man nichts leichter und bequemer finden, als so zu leben: aber in einer Zeit, wo man, um eine solche Lebensweise zu behaupten, mit der ganzen Verfassung des gesellschaftlichen Lebens und mit dem allgemeinen Beispiel beinahe in allem zu kämpfen hat, ist vielleicht nichts schwerer.«

»Um so eher wirst du mir zu gut halten, (sagte ich) wenn ich zu wissen begierig bin, wie du eine so unmöglich scheinende Sache bewerkstelligen könntest.«

»Die Antwort auf diese Frage führt uns mitten in die Geschichte, die ich dir versprochen habe«, erwiderte Agathodämon.

»Wie also, (versetzte ich) wenn du, wofern es dir nicht beschwerlich ist, sogleich den Anfang machtest, mich mit der Erfüllung dieses Versprechens zu begünstigen?«

»Sehr gern«, sagte er, indem er sich zwischen zwei Säulen den Bildern des Pythagoras und Diogenes gegenüber setzte, und mich neben ihm Platz nehmen hieß.

In diesem Augenblick trat die liebliche junge Nymphe wieder herein. Sie stellte einen kleinen Tisch, der mit zwei kristallnen Bechern unvermischten Weins von Naxos und einer sehr leichten Art von kleinen Weizenbroten besetzt war, vor den Alten hin, und trippelte eben so geräuschlos und schweigend, wie sie gekommen war, wieder davon.

»In meinen Jahren«, sagte Agathodämon, »bedarf die Natur öfters ein wenig Stärkung, und nähert sich hierin wieder dem Bedürfnis der ersten Kindheit. Auch dir, Hegesias, wird ein wenig reiner Wein wohl tun, zumal da du bei mir mit einer magern Mahlzeit vorlieb nehmen wirst. – Diese Libation den Grazien, unter deren Einfluß sich unsre neue Freundschaft angefangen hat!«

Ich folgte seinem Beispiele. Nach einer Viertelstunde kam das Mädchen wieder, den kleinen Tisch wegzutragen, und mein ehrwürdiger Wirt begann seine Erzählung folgendermaßen.


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