Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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VI.

Kymon bemerkte jetzt, daß es Zeit sei, ins Bad zu gehen, und führte mich in ein Gemach, wo wir alles, was zu diesem Gebrauch nötig ist, bereit fanden. Als wir wieder angekleidet waren, begaben wir uns in die Wohnung Agathodämons zurück. Wir trafen ihn in einem kleinen Speisesaal an, wo er, in Erwartung unsrer Zurückkunft, sich von dem zu seinen Füßen sitzenden jungen Mädchen einen Orphischen Hymnus hatte vorlesen lassen. Als wir herein traten, fuhr er, ohne uns zu bemerken, fort, dem mit seelenvollen Augen an seinem Blicke hängenden Kinde den Inhalt des Gelesenen zu erklären. Bald darauf befahl er ihr das Essen aufzutragen, grüßte mich, und wiederholte seine Einladung zu einer Mahlzeit, die ich den strengsten Vorschriften der Hippokratischen Familie gemäß finden würde. »Du wirst dich, denke ich, nicht daran stoßen«, fuhr er fort, »daß ich mich in der kleinen Gesellschaft, worin ich hier, von der Welt abgesondert, wie auf einer unbewohnten Insel des Atlantischen Ozeans lebe, von allem Zwang der Hellenischen und Morgenländischen Sitten dispensiere. Ich betrachte die kleine Familie, die mir hierher gefolgt ist, als die meinige, und wir leben mit einander, als ob wir die einzigen in der Welt wären.«

Indem er dies sagte, trat Kymon mit seinem Weibe und der kleinen Apollonia herein; denn diesen Namen hatte er, seinem ehemaligen Herren zu Ehren, seiner Tochter beigelegt. Der Tisch wurde mit Brot, Gartengemüsen, Eiern, und verschiedenen Früchten der Jahrszeit besetzt. Die beiden Frauenspersonen setzten sich auf kleinen dreifüßigen Stühlen dem Alten gegenüber, ich und Kymon nahmen zu beiden Seiten auf Polstern Platz. Agathodämon aß wenig, trank Wasser, und beschloß seine Mahlzeit mit einem kleinen Becher unvermischten Weins von Thasos, worein er eine Art von äußerst leichtem Weizenbrot tunkte, welches von Kymons Gattin für ihn besonders zubereitet wurde. Er war sehr munter; und wiewohl er (nach Art alter Personen) beinahe allein sprach, so hätte ich ihm doch, deuchte mich, Tag und Nacht zuhören mögen; so geistvoll und unterhaltend war sein Gespräch, auch wenn der Gegenstand von geringer Wichtigkeit war. Schwerlich lebte jemals ein Sterblicher, der mehr gesehen, größere Reisen gemacht, und sich mehr Gelegenheiten, die Menschen kennen zu lernen, zu verschaffen gewußt hätte. Sein Gedächtnis in einem so hohen Alter würde ein Wunder geschienen haben, wenn nicht alles andre an ihm eben so außerordentlich gewesen wäre. Von allem, was er in seinem ganzen Leben gesehen, gehört, und getan hatte, schien er nichts verloren zu haben; alles stand, wie in einer unermeßlichen, wohl geordneten Bildergalerie, im richtigsten Zusammenhange des Orts, der Umstände und der Zeit, in seinem Kopfe, und es hing bloß von ihm ab, welches Bild oder welche Reihe von Bildern er hervor winken und gleichsam lebendig machen wollte. Kein Zug war verwischt, keine Farbe erloschen, keine Erinnerung durch die Länge der Zeit mit andern zusammen geflossen, oder unkenntlich gemacht. Sein Verstand zeigte sich immer eben so hell und unbewölkt, als sein Gemüt rein von Leidenschaft. Auf der Höhe, worauf er selbst stand, mußten ihm zwar die menschlichen Dinge, wenigstens alles, was den Gegenstand unsrer heftigsten Begierden, Sorgen und Mißhelligkeiten ausmacht, sehr klein und unbedeutend vorkommen; aber, anstatt von diesen Dingen bloß nach ihrem Verhältnis zu ihm selbst zu urteilen, dachte er sich immer, wo es nötig war, an die Stelle und gleichsam in die Seele der andern, sah die Idole ihrer Liebe oder ihres Hasses, ihrer Furcht oder ihrer Hoffnung mit ihren Augen an, und vermied dadurch nicht nur schiefe und unbillige Urteile über sie, sondern gewann auch desto mehr Gelegenheiten, durch Herablassung zu ihrer Vorstellungsart ihnen sowohl als der guten Sache, die sein Hauptzweck war, nützlich zu werden. Wiewohl er sich selbst von allen Arten von Vorurteilen los gewunden hatte, so erkannte er doch, – was so manche voreilige Weltverbesserer, zum größten Schaden derer, denen sie helfen wollten, nicht gesehen haben, – daß es wohltätige Vorurteile und schonenswürdige Irrtümer gibt, welche eben darum, weil sie dem morschen Bau der bürgerlichen Verfassungen, und, bei den meisten Menschen, der Humanität selbst zu Stützen dienen, weder eingerissen, noch unbehutsam untergraben werden dürfen, bis das neue Gebäude auf einem festern Grund aufgeführt ist. Diese Überzeugung allein (oder ich müßte mich sehr an ihm irren) war die Ursache jener mystischen Hülle, womit er sich, so lang' er unter den Menschen lebte, umgeben hatte, und welche bei einigen den Grund, bei andern den Vorwand der schiefen Urteile abgab, die man so häufig über ihn aussprechen hörte. Auch hatte er sie, seitdem er aus dem dumpfen Kreise der Wolken und Stürme in diese beinah ätherische Höhe gezogen war, von sich geworfen, und erschien mir, eben so wie seinem alten Vertrauten, in seinem eigenen Lichte. Indessen war doch, durch die lange Gewohnheit, noch immer eine Art von zartem durchsichtigen Nebel zurück geblieben, worin dieses Licht sich brach, und dadurch einen gewissen Schein um ihn verbreitete, der ihm dieses besser zu fühlende als zu beschreibende Etwas gab, womit er mich, so oft ich ihm nahte, zugleich anzuziehen und zurück zu drücken schien, und was mich beinahe wider meinen Willen nötigte, mich in der Gegenwart eines höhern Wesens zu glauben. – Dieses unnennbare Etwas in seinem ganzen Äußern und Innern war es hauptsächlich, was ich im Sinne hatte, lieber Timagenes, da ich dir gleich anfangs von meiner Darstellung so wenig versprach, daß es mir vielleicht gelingen könnte, wie weit ich auch unter meinem Urbilde bleibe, doch noch mehr zu leisten, als ich dich erwarten ließ.


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