Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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III.

»Du erinnerst dich vermutlich, Hegesias, daß ich dir gestern sagte, es hätte sich schon in der ersten Morgenröte meiner Jünglingsjahre eine Art von Ehrgeiz – wenn anders dieser Trieb nicht einen bessern Namen verdient – mächtig in mir erhoben, dem weder die Meinung andrer von mir, noch mein eigenes Bewußtsein habe genug tun können. In der Tat überwältigte von dieser Zeit an ein heftiges Verlangen, der größte und beste, der unabhängigste und ohne fremden Beistand durch sich selbst mächtigste aller Menschen zu sein, alle andere Triebe und Leidenschaften der Jugend in mir, und mehrere Jahre lang war die Bearbeitung meiner selbst zu diesem großen Zweck das Hauptgeschäfte meines Lebens. Was für Wege ich dazu eingeschlagen, wie ich mir ein Ideal, aus Pythagoras und Diogenes zusammen gesetzt, zum Muster vorgestellt, durch welche Übungen und Angewöhnungen ich dahin gelangt, diesem Vorbilde ziemlich nahe zu kommen, und wie ich schon zu Ägä den ersten Grund zu einer neuen Art von Pythagorischem Orden gelegt, davon habe ich dir gestern bereits ausführlich genug gesprochen. Das, was in der Folge der Hauptzweck dieses Ordens wurde, lag damals noch in einer Art von Nebel vor mir. Mein erster Plan ging noch nicht weiter, als mich mit einer kleinen Anzahl gleich gesinnter Jünglinge zu gemeinschaftlicher Vervollkommnung unser selbst zu vereinigen, in der Absicht, uns dadurch zu irgend einer großen wohltätigen Einwirkung auf die Menschheit tüchtig zu machen, welche wir, in Vergleichung mit dem, was der Mensch nach unsrer Idee sein sollte, so tief unter ihre ursprüngliche Würde und Bestimmung herab gesunken sahen, daß ihr nur durch ganz außerordentliche Mittel geholfen werden könnte. Wie wir dabei zu Werke gehen müßten, war uns noch nicht klar; unsre Begriffe, Aussichten und Entwürfe konnten damals nicht anders als unbestimmt, schwebend und träumerisch sein, da es uns, bei unsrer Jugend und beschränkten Lebensweise, noch zu sehr an praktischer Kenntnis der wirklichen Welt, und an einem hellen Überblick des Zusammenhangs der menschlichen Dinge fehlte. Aber eben darum war uns, als ob wir ein unendliches Werk vor uns liegen sähen, und mit der eben so unendlichen Kraft, die wir in uns fühlten, gleichsam eine neue Welt zu erschaffen hätten.

Die ersten, die sich mit mir hierzu verbanden, waren Jünglinge von sehr lebhaftem Gefühl und feuriger Einbildungskraft, voll enthusiastischer Liebe zu allem was schön und gut ist, edel und großherzig, mehr zum Handeln als zum Denken aufgelegt, geschickter einen Plan ausführen zu helfen als zu erfinden, und übrigens mir mit desto unbegrenzterer Anhänglichkeit zugetan, da sie eine Obermacht des Genius in mir zu erkennen glaubten, die mich, ungeachtet der zwischen uns festgesetzten Gleichheit, unvermerkt zum Haupt unsers Ordens und zur Seele aller seiner Unternehmungen machte. In der Tat war ich der einzige unter ihnen, dessen Kopf kalt und hell genug zu diesem Amte war: und da ich den gemeinschaftlichen Hauptzweck, ohne selbstsüchtige Nebenabsichten, mit rastloser Tätigkeit verfolgte, und mich der Vorzüge meiner Natur über sie immer mit Bescheidenheit und Nachsicht bediente; so erwarb ich mir, schon von jener Zeit an, das Vertrauen und die Liebe meiner Brüder in einem so hohen Grade, daß mir in der Folge vielleicht nichts, was ich durch sie hätte ausführen wollen, unmöglich gewesen wäre.

Von meinem ersten Ausfluge zu den Orphikern in Samothrake kennst du bereits das merkwürdigste. Die Aufschlüsse, die ich während eines Aufenthalts von mehrern Jahren unter diesen Eingeweihten erhielt, trugen nicht wenig bei, den Plan meines eignen Ordens, der sich inzwischen immer in meinem Kopfe fortorganisierte, zur Reife zu bringen. Meine Kenntnis von dem Zustande der Welt, unter der übermütigen Herrschaft der verderbtesten aller Menschen, nahm in dieser Zeit beträchtlich zu; und die Kluft zwischen dem, was meine Zeitgenossen waren, und der Höhe, welche mir dem Menschengeschlecht erreichbar schien, deuchte mir jetzt so ungeheuer, daß Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, dazu gehörten, sie auszufüllen, um dahin gelangen zu können, was ich und meine Freunde, einige Jahre zuvor, in unsrer jugendlichen Unerfahrenheit etwa für das Werk zweier Generationen hielten.

Durch die Eroberungen Alexanders des Großen und die Griechischen Dynastien in Syrien und Ägypten, die sich aus den Trümmern seines eben so schnell verschwundenen als entstandenen Reichs erhoben, waren Griechische Bildung und Kunst zugleich mit der Sprache der Musen an den Orontes und Nilus verpflanzt worden; und die darauf folgende, alle andere Mächte verschlingende Herrschaft der Römer, hatte die Gesetze der stolzen Göttin Roma über den Erdkreis verbreitet: aber den Völkern war weder an Wohlstand noch Sittlichkeit etwas beträchtliches dadurch zugewachsen. Die Blut verschwendenden Kriege und die räuberischen Triumphe der Scipionen und Marcelle, Marius und Sylla, der Luculle, Pompejen und Cäsarn, zerstörten immer mehr, als sie wieder herstellten; und wie Augustus endlich der erschöpften Welt eine längere Ruhe schenkte, als sie seit undenklichen Zeiten genossen hatte, wurde diese Ruhe selbst, durch die Bedingungen, unter welchen sie ihr zu Teil wurde, der Menschheit nachteiliger, als alle Drangsale der vorigen Erschütterungen. Griechen und Römer hatten zwar überall, wohin sie ihre Kultur brachten, auch ihre verderbten Sitten mitgebracht: aber während des langen Kampfes, den die letztern mit allen übrigen Völkern, und endlich unter sich selbst, um Obermacht und Alleinherrschaft kämpften, erhielt dieser nur selten auf kurze Zeit unterbrochne Kriegsstand die Menschheit doch immer in einer beständigen Tätigkeit und Anstrengung aller Kräfte, die jenem Verderbnis, im Ganzen wenigstens, die Waage hielt. In Zeiten der Not und Gefahr gilt ein Mensch was er ist, und sogar die Tugend wird ihm zum Verdienst angerechnet, weil man ihrer bedarf; man schätzt sie, nicht weil sie Tugend, sondern insofern sie zuweilen eine nützliche Sache ist. Der Drang der Umstände spannt alle Triebfedern, setzt alle Räder in Bewegung, eröffnet alle Hülfsquellen der Menschheit. Große Männer kommen zum Vorschein, und kämpfen, auf entgegen stehenden Parteien, um Vaterland, Freiheit und Selbsterhaltung, oder um Ruhm, Oberherrschaft und Beute. Große Tugenden halten großen Lastern noch das Gegengewicht; wer nicht handeln kann, lernt leiden; und wer des Leidens müde ist, wird durch die Verzweiflung selbst zur Tätigkeit angespornt. In solchen Zeitläufen ist es unmöglich, daß die Menschheit ganz unter sich selbst herab sinke; auch stellt uns die Geschichte der zwei letzten Jahrhunderte vor August große und vortreffliche Männer aller Arten in Menge auf. Aber sobald die zermalmende Keule der Römischen Alleinherrschaft alles, was noch empor ragte, niedergeschmettert hatte, und die Willkür eines Einzigen das höchste Gesetz wurde, welches alle andern in bloße Netze und Schlingen verwandelte; sobald der Römer die zahllosen und größten Teils reichen Provinzen des neuen Kaiserreichs bloß als unerschöpfliche Quellen für die unersättliche Raubgier und die übermütigen Ausschweifungen eines zuvor nie erhörten Luxus betrachtete: – von diesem unseligen Zeitpunkt an, sank das menschliche Geschlecht von Stufe zu Stufe mit immer zunehmender Geschwindigkeit, und würde noch tiefer gesunken sein, wenn nicht neuerlich ein Regent von großen Eigenschaften und festem Charakter an das Steuerruder gestellt worden wäre, und dem reißenden Strom des Verderbens, eine Zeit lang wenigstens, Einhalt täte.«

Hier hielt Apollonius inne, um, wie es schien, seine Gedanken wieder um Einen Punkt zu sammeln, und nach einer kleinen Weile fuhr er wieder fort: »Ein Hauptzeichen des Jahrhunderts, das ich nun beinahe durchlebt habe, ist eine fast allgemeine Erschlaffung und Stumpfheit des Geistes; die natürliche Folge teils der ehemaligen Überspannung, teils der Sklaverei und Unterdrückung der Völker des Römerreichs; wozu noch unter den höhern Klassen die mehr als Sybaritische Üppigkeit kommt, die den meisten schon in dem Alter des Genießens selbst eine so klägliche Schwäche aller Organe zugezogen hat, daß sogar die kleine Kraftanwendung, ohne welche kein Genuß möglich ist, für sie zur Herkulischen Arbeit wird. Wo sollten die kaum noch vegetierenden Seelen solcher Menschen die Kraft hernehmen, zwei Gedanken fest genug zu halten, um sie drei Augenblicke lang mit einander vergleichen zu können?

Das auffallendste Symptom dieser traurigen Paralysierung aller Verstandeskräfte zeigte sich mir in jenem Zeitpunkte meines Lebens an der außerordentlichen Stimmung der Menschen zur religiösen Schwärmerei. Eigentlich gab es damals, in Hinsicht auf Religion, nur zwei Hauptklassen: Spötter und erklärte Atheisten, oder überglaubige Andächtler und fanatische Nympholepten. Wer das eine nicht war, war sicher das andere. Aber, was man kaum glauben sollte, wenn die tägliche Erfahrung es nicht so häufig zeigte, dieselben Menschen, die das Dasein einer göttlichen Weltregierung leugneten, ihrer eignen Seele die geistige Natur absprachen, und, wie andere Tiere, mit dem Tode aufzuhören hofften, glaubten an Magie und Astrologie, ließen sich und andern die Nativität stellen, hielten sich eigene Chaldäer und Traumdeuter, und trugen Amulette am Hals und talismanische Ringe an den Fingern. Bei den Andächtlern hingegen hatten die alten Götter beinahe alles Ansehen verloren; ihre Tempel verfielen, ihre Orakel waren verlassen, auf ihren Altären wuchs Gras; jedermann wählte sich irgend einen neumodischen Gott, mehr zum Günstling als zum Patron; Äskulap verdrängte seinen Vater Apollo, Sabatius den Bacchus, Anubis den Merkur, Serapis sogar den Jupiter. Allenthalben zogen vorgebliche Priester der Isis und der Syrischen Göttin in den Dörfern umher, und besteuerten den Aberglauben des unwissenden Landvolks. Kurz, nie war der Glaube an Orakel und Theurgie, der Eifer für fremde Gottesdienste, die Begierde sich in neuen Mysterien initiieren zu lassen, so allgemein gewesen: und alles dies in einer Zeit, wo, unter der heillosen Regierung der Cäsarn und ihrer Stellvertreter, alle Arten von Lastern und Verbrechen im Schwange gingen, Tugend nur noch als Larve brauchbar war, und, einen Rest von äußerlicher Anständigkeit ausgenommen, alle Spur von Sittlichkeit und Humanität aus der Welt verschwunden zu sein schien.

Ich würde dirs nicht verdenken, Hegesias, wenn dir das Unternehmen, in so tief herab gesunknen Menschen das erstorbene Gefühl der Würde ihrer Natur wieder aufzuwecken, widersinnig und beinahe lächerlich vorkäme.« – »Wenn ein solches Wunder möglich wäre«, erwiderte ich, »so müßte es einem Agathodämon gelungen sein.« – »Wir wollen sehen«, versetzte er lächelnd, wie man einem Kinde zulächelt, das mit einer klugen Miene etwas kindisches gesagt hat. »Wenigstens gibt es Fälle, wo es erlaubt, ja sogar Pflicht ist, das unmöglich scheinende zu versuchen.

Überhaupt wird dir die Sache begreiflicher werden, wenn du verschiedene Zeitpunkte annimmst, in welchen mein Plan sich nach und nach ausbildete, bis er endlich die Gestalt gewann, welche mir dem Bedürfnis der Zeit die angemessenste schien. Denn selten, oder vielleicht noch niemals, hat ein Sterblicher, dem eine große Idee bei seinem Werke vorschwebte, das wirklich hervorgebracht, was er machen wollte. Als ich den ersten Grund zu meinem Orden legte, sah ich die Welt noch mit den Augen und der Phantasie eines jungen Mannes von dreißig Jahren, der sie nur stückweise, von unten und in der Nähe sieht. Zwar ward ich schon damals beinahe alles gewahr, was ich viele Jahre später sah; aber es erschien mir in einem sanftern Lichte, mit minder scharfen Umrissen und minder grellen Farben. Ich glaubte noch durch die bloße Macht eines großen Beispiels und den vereinigten Einfluß einer Anzahl vortrefflicher Menschen Wunder tun zu können. Ich stellte mir vor, was Pythagoras ehemals in den verderbten Republiken Ober-Italiens gewirkt hatte. Mit einer verhältnismäßig größern Anzahl würdiger Gehülfen, die ich im ganzen Umfang des Römischen Reichs zusammen zu bringen hoffte, würde mir, (dacht ich) wenn auch in längerer Zeit, vielleicht im Großen gelingen, was Er im Kleinen zu Stande brachte. Aber ich hatte die Verschiedenheit der Zeit und aller übrigen Umstände nicht mit in den Anschlag gebracht, und so zeigte sichs bald genug, daß ich falsch gerechnet hatte. Indessen wär es doch vielleicht besser gewesen, mich auf meinen ersten Plan einzuschränken. Wir würden freilich keine merkliche Veränderungen in der Welt bewirkt haben; aber im Einzelnen wäre doch immer manches Gute geschehen, manches Böse gehoben, vermindert oder verhütet worden. Gewiß ist der sicherste und harmloseste Weg, uns um die Menschheit verdient zu machen, wenn wir es im Stillen tun, ohne weit greifende Anstalten und ein künstlich zusammen gesetztes Maschinenwerk, dessen Wirkungen wir nicht immer in unsrer Gewalt behalten. Aber für die Kraft, die ich in mir fühlte, und – wiewohl ich damals aus reinen Beweggründen zu handeln glaubte – für meinen Stolz, war dies nicht genug. Selbst das musterhafteste Beispiel der Weisheit und Tugend, von einigen hundert durch die ganze Welt verstreuten Sokraten gegeben, und mit gelegentlichen Belehrungen und Zurechtweisungen, in der Manier jenes berühmten Atheners, unterstützt, würde, so deuchte mich damals, der Welt nicht mehr Licht und Wärme mitteilen, als die still funkelnden Sterne der ersten und zweiten Größe, die den Himmel in einer heitern Nacht so prächtig zieren, und dem denkenden Betrachter einen so herzerhebenden Anblick gewähren, aber doch alle zusammen nicht so viel Wirkung auf unsern Planeten hervorbringen, als der kleinste Abschnitt der Mondsscheibe.

Ich änderte also meinen Plan, als ich mich durch den Aufenthalt unter den Orphikern überzeugt zu haben glaubte, daß ich die Menschen meiner Zeit auf keine andre Weise mächtig bearbeiten könne, als indem ich unmittelbar auf die einzige Seite, wo ihnen noch beizukommen wäre, auf ihre religiöse Stimmung, wirkte, und ihren Hang zum Wunderbaren und Übernatürlichen zu ihrer moralischen Besserung, ja sogar – wie man erfrorne Glieder durch Schnee wieder aufwärmt – als ein Heilmittel gegen ihren Aberglauben selbst, zu benutzen suchte.

Wie ich bei den Orphikern nach und nach dahin gekommen, mir diese Art von wohltätiger Täuschung nicht nur als unschuldig, sondern als den zweckmäßigsten, oder vielmehr einzig möglichen Weg, meine Absicht zu erreichen, vorzubilden, hast du gestern schon gehört. Um diese Zeit war es, da ich mich entschloß, den Charakter eines Verbesserers und Wiederherstellers der Religion und der Sitten öffentlich anzunehmen, in dieser Absicht die verschiednen Provinzen der Römischen Welt zu durchwandern, und mich in den größern Städten, nach Maßgabe der Umstände, lange genug aufzuhalten, um mir eine Anzahl Anhänger zu verschaffen, aus welchen ich die verschiedenen Grade meiner geheimen Gesellschaft nach und nach organisieren könnte.«

Während dieser Erzählung hatte mich Apollonius zu einer Seite seiner Einsiedelei geführt, die mir noch unbekannt war. Ein langer Gang von dicht belaubten Platanen, der sich an einer unabsehbaren, schroffen und buschichten Felsenwand hinzog, brachte uns durch eine unmerkliche Krümmung bis zur Hinterseite seiner Wohnung, welche hier eine auf Dorischen Säulen ruhende hohe Vorhalle bildete. Sie war zur Rechten und Linken von blühenden Gebüschen umgeben, und mit bequemen Sitzen versehen, von welchen man, durch eine allmählich sich erweiternde Öffnung in der Felsenwand, eine entzückende Aussicht über die See hatte, die das Vorgebirge, die Widderstirne genannt, anspült. Hier nahmen wir Platz, und mein ehrwürdiger Wirt ließ mir Zeit, mich an der hohen Schönheit dieser überraschenden Szene zu ergetzen. Eine Weile darauf kam auch die kleine Nymphe aus einer verborgenen Tür mit ihrem Frühstück hervor, und bediente uns wie gestern; und nachdem sie wieder verschwunden war, fuhr Apollonius in seinem Diskurse folgendermaßen fort.


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