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Auf der Polizeiwache waren noch keine neuen Nachrichten eingetroffen, als Michael Quigley dort hinkam. Um sich die Zeit zu vertreiben, ging er in den Straßen auf und ab und kam auch wieder zu dem Schauplatz des Mordes. Schließlich wandte er sich nach Gallows Alley, um vielleicht dort Neuigkeiten zu erfahren. Sofort kam der verrückte Mann wieder auf ihn zu.
»Hören Sie zu«, rief er Michael an. »Ich habe Ihnen etwas zu erzählen.«
»Sagen Sie mir zunächst einmal, wie Sie heißen.«
Der Alte lachte.
»Ich habe keinen Namen. Meine Eltern haben vergessen, mir einen zu geben. Aber die Leute nennen mich hier meistens Shoey, weil ich früher Stiefel geputzt habe.«
»Was wollten Sie mir denn erzählen?«
»Er hat den Doktor weggebracht«, flüsterte der Mann in vertraulichem Ton.
»Wer -- Weißgesicht?«
Shoey nickte heftig.
»Ich weiß jetzt alles. Er hat ihn in seinen Wagen gelegt, unten auf den Boden, als er fortfuhr. Niemand hat es gewußt.« Er lachte wieder, als ob er den größten Witz erzählt hätte. »Mason weiß nichts davon. All die klugen Beamten von Scotland Yard wissen es nicht -- darüber muß ich lachen!«
Der Chefinspektor hatte Mike schon gesagt, daß dieser merkwürdige Mensch manchmal ein klareres Urteil hatte als alle vernünftigen Leute.
»Elk weiß es.« Shoey tippte Michael mit dem Zeigefinger an, »Der ist gescheiter als alle anderen zusammen. Ich wette, daß er es schon die ganze Zeit gewußt hat, aber er behält alles für sich, bis er die Beweise dafür hat. Bray sagt das auch, aber der hat nicht mehr Verstand als ein Schaf.«
Auf dem Gehsteig kam ihm jemand entgegen.
»Das ist er«, flüsterte der Verrückte und schlich sich weg.
Bray war noch so weit entfernt, daß es Michael fast unmöglich erschien, ihn schon zu erkennen. Der Inspektor ging spazieren, um seinen Ärger zu vergessen.
»Sobald diese Geschichte vorüber ist«, beschwerte er sich bei Mike, »muß ich doch einmal mit Mason sprechen. Mason sollte das wirklich nicht tun. Sie verstehen doch, Quigley, daß ein Mann von meinem Rang auf seine Stellung sehen muß. Und wie kann ich das tun, wenn wichtige Verhöre meinen Untergebenen überlassen werden?«
»Was macht Elk denn jetzt?«
Michael brauchte nicht erst zu fragen, gegen wen sich der Unwille des Inspektors richtete.
»Mason ist ein guter Kerl«, fuhr Bray fort, »einer der besten Leute in der ganzen Polizei. Wenn Sie jemals Gelegenheit haben, machen Sie ihm doch eine Andeutung, daß ich Ihnen das gesagt habe. Ich wäre Ihnen dafür wirklich zu großem Dank verpflichtet, Quigley. Sie brauchen ja nicht unsere ganze Unterhaltung wiederzuerzählen, aber diese eine Bemerkung können Sie so zufällig einmal einfließen lassen. Er gibt sehr viel auf das, was Sie sagen. Aber Elk beurteilt er vollkommen falsch. Er denkt sich natürlich nichts bei diesen Dingen. Ich sagte ihm, daß ich die Frau verhören wolle, sobald sie sich soweit erholt habe, daß sie sprechen könne aber nein, Elk mußte das Verhör übernehmen! Elk kennt sie allem Anschein nach. Aber ich frage Sie, Quigley, ist es notwendig, eine Person zu kennen, wenn man sie verhört? Bin ich vielleicht Lamborn offiziell vorgestellt worden? Das ist übrigens auch so ein Skandal -- den haben sie ohne weiteres entlassen!«
Michael langweilte sich bei diesen endlosen Tiraden und schlug vor, wieder auf die Wache zu gehen. Sie kamen in einem interessanten, für Brav allerdings peinlichen Augenblick dort an, denn Lorna Weston hatte sich entschlossen, zu sprechen.
Sie hatte nicht in das kleine Büro des Inspektors kommen wollen und saß im Wacht-Raum. Elk hatte ihr gegenüber Platz genommen, und Shale hatte seinen Block aufgeschlagen, um ihre Aussagen mitzustenographieren.
»Also, Sie sind Lorna Weston, die Frau von ...?«
Sie wollte gerade antworten, als Mason schnell hereinkam. Ihm folgten zwei Detektive, und zwischen ihnen ging der Mann, den der Chefinspektor verhaftet hatte.
Lorna Weston sprang auf und starrte den Gefangenen an, der sich wenig aus seiner Verhaftung zu machen schien. Er schaute ruhig um sich, und nichts deutete darauf hin, daß er sich fürchtete.
»Da steht er -- das ist er!« rief sie laut und zeigte auf ihn. »Das ist der Mörder! Du hast ihn getötet -- du hast gesagt, daß du es tun wolltest, wenn du ihm begegnetest! Und nun hast du es getan!«
Mason betrachtete Weißgesicht interessiert, aber der Mann schwieg.
»Nicht meinetwegen hast du ihn gehaßt, und weil er mich entführt hat, sondern deines Bruders wegen, der im Gefängnis saß.«
»Ja, das ist richtig«, erwiderte er einfach. »Und wenn Bateman von den Toten wieder auferstände, und ich frei wäre, so würde ich ihn noch einmal töten.«
»Hören Sie doch!« schrie sie. »Das ist mein Mann -- Tommy Furse!«
»Nenne mich doch bei meinem wirklichen Namen -- Thomas Marford!« Er wandte sich lächelnd an Mason. »Sie brauchen diese Frau nicht zu verhören. Ich kann Ihnen alles sagen, was Sie zu erfahren wünschen, und ich werde alles aufklären, was Sie noch nicht wissen.«
Michael Quigley stand wie zu Stein erstarrt. Er konnte weder sprechen noch sich rühren. Marford war der Täter! Dieser ruhige, stille Mann ... Weißgesicht ... Mörder ... Bankräuber ... Er glaubte zu träumen, und doch war alles unerbittliche Wahrheit.
Marford bewahrte seine Fassung. Er spielte mit seiner Uhrkette und sah halb belustigt, halb mitleidig auf die Frau, die er einmal geheiratet hatte. Am allerwenigsten schien er an seine eigene Lage zu denken:
»Ich hoffe, daß das Abenteuer keine nachteiligen Folgen für Dr. Rudd hat«, meinte er. »Ich deutete Ihnen ja schon früher an, daß er mit Kopfschmerzen davonkommen wird. Er hat die ganze Nacht in meiner Garage gelegen, denn ich mußte ihn aus einem sehr stichhaltigen Grund aus Ihrem Gesichtskreis entfernen. Er behauptete doch, eine Theorie zu haben, und die war für mich sehr gefährlich, besonders da er soviel schwätzte und nicht gerade allzuviel Verstand besaß. Er war nämlich der Ansicht, daß nur eine Person Bateman getötet haben könne -- und zwar ich. Er hielt die ganze Sache für einen großen Spaß, aber für mich konnte sie sehr unangenehm werden. Als er auf seinem Weg zur Wache in meinem Büro vorsprach und mir das erzählte, erkannte ich sofort die Gefahr. Und ich erkannte auch, daß meine Lebensarbeit in der Klinik, in dem Erholungsheim an der See und in Annerford damit abgeschlossen war. Wie haben Sie eigentlich den Weg nach Annerford gefunden? Aber vielleicht wollen Sie mir das nicht sagen. Also, es wurde mir klar, daß ich mich nun unter allen Umständen in Sicherheit bringen mußte.«
Als er sich umsah, begegnete er Elks Blick und schüttelte traurig den Kopf.
»Es tut mir leid, daß ich Sie zu Boden schlagen mußte, Elk. Sie waren der letzte, dem ich ein Leid antun wollte.«
Zu Masons größter Überraschung grinste Elk den Doktor freundlich an.
»Es macht nichts. Von Ihnen habe ich es gern angenommen. Ich bin Ihnen deshalb nicht böse«, sagte er freundlich.
»Sie waren ein gefährlicher Gegner«, erwiderte Marford mit einem leichten Lächeln. »Aber ich konnte Ihnen nicht einen Whisky-Soda mit einem kleinen Schlafmittel vorsetzen wie etwa Dr. Rudd. Der war auf der Stelle erledigt. Ich gab ihm dann noch eine Spritze und brachte ihn in die Garage. Später fürchtete ich, er könnte mich durch sein Stöhnen verraten. Vielleicht haben Sie es auch gehört. Aber nun quält mich vor allem eine Frage -- wie geht es dem alten Gregory? Hat er es sehr schwer genommen?«
Marford sprach zwar fließend, aber doch irgendwie gehemmt, als ob er einen Zungenfehler hätte. Mason bemerkte zum erstenmal, daß der Mann ein wenig lispelte.
»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie meine Aussagen gleich protokollieren lassen«, fuhr der Doktor fort.
Mason nickte.
»Ich muß Sie auf die Bedeutung Ihrer Angaben aufmerksam machen, Dr. Marford -- ich nehme an, daß Sie Ihr medizinisches Examen tatsächlich abgelegt haben?«
»Ja, ich habe mein Diplom. Sie können mir viel vorwerfen, aber nicht, daß ich ein Kurpfuscher bin. Sie können sich darüber Gewißheit verschaffen -- in meinem Sprechzimmer finden Sie alle Papiere.«
»Trotzdem muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß alles, was Sie jetzt sagen, bei Ihrem Prozeß gegen Sie verwandt werden kann.«
»Das weiß ich wohl.«
Marford sah zu seiner Frau hinüber. Sie war näher an ihn herangetreten und warf ihm einen haßerfüllten Blick zu.
»Dafür kommst du an den Galgen!« sagte sie atemlos. »Wie freue ich mich, daß dich die gerechte Strafe erreicht!«
»Warum nicht?« fragte er kühl, wandte sich um und folgte Mason in das kleine Büro des Inspektors.
»Eine anhängliche Frau«, war die einzige Bemerkung, die er über diesen leidenschaftlichen Ausbruch machte. »Die Treue, die sie ihrem unglücklichen Freund beweist, ist beinahe rührend. -- Aber ich kann mich immer noch nicht beruhigen, daß ich dem armen Gregory so geschadet habe.«
Mason zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit dieser Worte. Wer Thomas Marford auch sonst sein mochte, auf keinen Fall war er ein Heuchler.
Der Chefinspektor bot ihm ein Glas Wasser an, aber der Doktor lehnte es ab, setzte sich an den Tisch und bat nur, das Fenster zu öffnen, weil die Luft in dem Raum verbraucht war.
»Sind Sie fertig?« fragte er.
Sergeant Shale nickte. Er hatte einen neuen Stenogrammblock vor sich liegen und hielt den Bleistift schreibbereit in der Hand.