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17

Sobald sich Lamborn entfernt hatte, rief Mason Michael Quigley.

»Sagen Sie, was macht denn eigentlich die junge Dame, die Sie kennen, in der Klinik?«

»Sie ist Krankenschwester und, ich glaube, auch Marfords Sekretärin«, erwiderte Michael überrascht. »Sie wollen sie doch nicht etwa noch heute nacht aufsuchen?« fügte er ängstlich hinzu.

Mason war sich noch nicht klar.

»Es wäre wohl das beste. Irgend jemand müssen wir doch mitteilen, daß der Doktor entführt wurde -- ich meine, jemand, der in der Klinik Bescheid weiß. Außerdem kann sie uns wahrscheinlich helfen.«

»In welcher Weise denn?« fragte Michael argwöhnisch.

»Wenn Sie glauben, daß ich sie mitten in der Nacht aufwecken will, um sie einmal im Negligé zu sehen, dann irren Sie sich. Ich habe nur den einen Wunsch, das Verbrechen aufzuklären, und vor allem muß ich wissen, wer Marfords Freunde sind und ob er Feinde hat. Ich wüßte nicht, wer mir das sonst sagen könnte. Sie kann es, weil sie mit ihm zusammengearbeitet hat. Elk hat sogar den Eindruck, daß er sich in gewisser Weise in sie verliebt hatte.«

»Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe«, entgegnete Michael wütend. »Ich glaube, er hat sich noch nicht zweimal nach ihr umgesehen.«

»Einmal genügt schon für die meisten Männer«, meinte Mason. »Wollen Sie mit mir hingehen und mich der Dame vorstellen?«

»Janice -- ich meine Miss Harman -- wird aber sehr erschrecken«, sagte Mike.

»Nennen Sie sie ruhig Janice. Das klingt viel freundlicher. Ja, sie wird natürlich einen Schrecken bekommen. Marford ist ein Mensch, dem man unwillkürlich Sympathie und Zuneigung entgegenbringt.«

»Hat man seine Leiche schon gefunden?«

Mason schüttelte den Kopf.

»Er ist sicher nicht tot -- trotz der Blutspuren. Wäre er tot gewesen, so hätte ihn Weißgesicht nicht mitgeschleppt.«

Die Bury Street war wie ausgestorben, als das Auto vor Janices Wohnung hielt, und es dauerte eine Viertelstunde, bis sie den Portier geweckt hatten. Mason zeigte seinen Ausweis, und die beiden stiegen zum ersten Stock hinauf. Das Dienstmädchen hatte einen sehr festen Schlaf, und Janice hörte das Klingeln zuerst. Im Morgenrock eilte sie zur Tür.

Mike stellte Mason vor, und sie führte die beiden in das Wohnzimmer. Etwas erstaunt fragte sie nach dem Grund ihres Kommens.

»Ich fürchte, ich bringe Ihnen eine unangenehme Nachricht, Miss Harman«, begann Mason. Er sprach so niedergeschlagen und traurig, daß sie glaubte, er wolle ihr von der Ermordung Batemans erzählen.

»Ich weiß schon alles«, erwiderte sie schnell. »Mr. Quigley hat es mir mitgeteilt. Wollen Sie wegen des Ringes noch etwas fragen? Ich habe ihn ...«

Mr. Mason schüttelte den Kopf und unterbrach sie.

»Nein. Ich wollte Ihnen mitteilen, daß Dr. Marford verschwunden ist.«

Sie sah ihn entsetzt an.

»Sie meinen -- es ist doch nichts passiert?«

»Ich hoffe nicht.«

Michael hatte den Chefinspektor bisher zwar für einen sehr gediegenen, aber im allgemeinen trockenen und phantasielosen Beamten gehalten. Er war daher sehr erstaunt, als Mason mit knappen, gutgewählten Worten seine Geschichte äußerst gewandt und interessant erzählte, ohne eine wichtige Tatsache auszulassen. Janice hörte ihm gespannt zu. Der Vorfall, von dem er berichtete, erschreckte sie zwar nicht so sehr wie der Tod Batemans, aber dafür schmerzte es sie um so tiefer, denn Marford war für sie das Ideal eines aufopfernden, selbstlosen Menschen gewesen.

»Das Traurige ist, daß wir nichts über den Doktor und seine Freunde wissen. Wir haben keine Ahnung, Wo wir mit unseren Nachforschungen beginnen sollen. Sie waren doch seine Sekretärin ...«

»Nein, das war ich nicht. Ich habe nur manchmal die Abrechnungen für die Klinik und für das Erholungsheim gemacht. Auch bei den Vorbereitungen für die Gründung des Tuberkuloseheims in Annerford habe ich geholfen.« Janice erzählte von den Plänen des Doktors, in Annerford eine Lungenheilstätte für die kranken Kinder von Tidal Basin einzurichten.

Mason nickte.

»Sie kennen doch die Patienten der Klinik, Miss Harman? Ist jemand darunter, der etwas gegen den Doktor hat? Oder hatte er besondere Freunde unter seinen Angestellten -- Mann oder Frau?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Er beschäftigte nur wenige Leute. Eine ältere Krankenschwester und gelegentlich eine oder zwei Helferinnen. In Eastbourne hatte er auch nur eine ältere Dame und eine Helferin. Er war immer bemüht, die Klinik und das Erholungsheim zu vergrößern, und er wußte sehr wohl, daß das Personal nicht ausreichte. Aber bei seinen geringen Mitteln konnte er nicht mehr Leute einstellen.«

»Hatte er denn keinen Vertrauten unter seinen Angestellten in der Klinik, in Eastbourne oder in Annerford?«

Sie lächelte.

»In Annerford bestimmt nicht. Nein, ich wüßte niemanden. Er hatte keine Freunde. Sie glauben doch nicht, daß ihm ein Unfall zugestoßen ist?«

Mason erwiderte nichts darauf.

»Hatte Donald Bateman eigentlich Freunde?« fragte er.

Sie dachte nach.

»Ja. Er sprach von einem Herrn, den er von Südafrika her kannte, aber er nannte niemals seinen Namen. Der einzige andere Mensch, den er zu kennen schien, war Dr. Rudd.«

Mason schaute sie groß an.

»Wissen Sie das bestimmt?«

Sie nickte und erzählte ihm, wie sich Bateman benommen hatte, als Rudd an jenem Abend in Begleitung mehrerer junger Damen ins Restaurant gekommen war.

»Das gibt allerdings zu denken. Wo konnte er nur Rudd kennengelernt haben? Ich kann mir schon vorstellen, wie er dort aufgetreten ist -- ich meine, der Doktor. Aber das ahnte ich allerdings nicht -- hm!«

Er schaute lange Zeit nachdenklich auf den Teppich.

»Ja«, sagte er plötzlich. »Natürlich. Ich verstehe jetzt, warum er Dr. Rudd nicht begegnen wollte.« Er warf Michael einen Blick zu. »Wollen Sie bei Miss Harman zum Frühstück bleiben?«

Mike schaute ihn vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf.

»Dann gehen Sie am besten nach Tidal Basin und warten dort in der Wache auf mich. Ich fahre nur noch nach Scotland Yard, um ein paar Angaben zu vergleichen. In einer Stunde bin ich bei Ihnen.«

*

Weißgesicht wartete geduldig bis Tagesanbruch. Er hatte sich umgekleidet und war nun sicher, daß er kein Aufsehen erregen würde, wenn er mit den anderen Fahrgästen im Autobus saß. Ein paarmal sah er sich nach seinem Gefangenen um, fand ihn aber jedesmal in friedlichem Schlaf.

Er trat ins Freie hinaus. Aus der Ferne drangen die Geräusche des Straßenverkehrs zu ihm. Bestimmt kontrollierte die Polizei schon seit Stunden jedes Auto, das die Stadt verlassen wollte. Die Londoner Polizei besaß intelligente Beamte, die sich alle Vorteile zunutze machten, und es war nicht nur schwer, sondern auch gefährlich, gegen sie zu arbeiten. Weder verachtete Weißgesicht die Polizei, noch fürchtete er sie. Es bestand nur geringe Wahrscheinlichkeit, daß er entkommen konnte, aber er wollte doch jede Gelegenheit ausnützen.

Niemand, der gesucht wurde und von dem man eine Fotografie besaß, hatte jemals England verlassen können. Vielleicht war es doch dem einen oder anderen gelungen, aber die Polizei gab solche Ausnahmen niemals zu.

Gefahren bedeuteten ihm nichts. Er bereute keine Tat seines Lebens, am wenigsten, daß er Donald Bateman ermordet hatte. Vielleicht wäre Walter nicht damit einverstanden gewesen, aber er selbst fühlte Befriedigung und Genugtuung über seine Handlungsweise.

Der arme, alte Gregory! Dem Doktor wollte er noch Wasser und ein paar Keks zur Erfrischung zurechtstellen. Er bedauerte nur eins, aber daran wollte er nicht denken. Wenn er sein Leben aufgeben mußte, war er dazu bereit. Und mit dem Leben gab man auch alle seine Pläne, Hoffnungen und Wünsche auf.

Langsam ging er wieder ins Haus zurück. Er hatte sich eben rasiert, als er Schritte im Gang hörte. Der Doktor war also doch schon wieder zu sich gekommen! Das hatte er allerdings nicht vorausgesehen. Er trat auf die Türe zu, aber im gleichen Augenblick öffnete sie sich, und Mason kam ihm entgegen. Er hatte den Hut ins Genick geschoben.

»Ich war so frei, durch ein Fenster einzusteigen. Die meisten stehen ja offen«, sagte er. »Und außerdem verhafte ich Sie!«

»Selbstverständlich«, erwiderte Weißgesicht. Seine Stimme zitterte nicht. »Den Doktor finden Sie nebenan. Es ist ihm nichts passiert.«

Er streckte die Hände aus, aber Mason schüttelte den Kopf.

»Handschellen sind heutzutage altmodisch geworden. Haben Sie eine Pistole bei sich?«

»Nein.«

»Dann wollen wir gehen«, sagte Mason höflich, nahm seinen Gefangenen am Arm und führte ihn in die Dämmerung hinaus.

Im Freien hielt er einen Augenblick an, um seine Leute zu beauftragen, sich um den Doktor zu kümmern. Dann brachte er Weißgesicht zum Polizeiwagen.

»Man hat Sie nicht gesehen, aber man hat Sie gehört«, erklärte er.

Weißgesicht lachte.

»Ein Auto, das ganz langsam fährt, macht natürlich zuviel Spektakel«, erwiderte er leichthin.


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