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Chefinspektor Mason rühmte sich, überall und zu jeder Zeit schlafen zu können. Und es dauerte auch ziemlich lange, bis man ihn wach hatte, als das Polizeiauto Scotland Yard erreichte.
Michael Quigley dagegen war noch nie in seinem Leben so wach gewesen wie in dieser Nacht, und er brauchte den Kaffee nicht, der in das Büro des Chefinspektors gebracht wurde. Aber Mason wurde durch das Getränk wieder hellwach.
Er beschwerte sich immer darüber, daß ständig Schriftstücke auf ihn warteten, zu welcher Tages- oder Nachtzeit er auch in sein Büro kommen mochte. Auch jetzt lag wieder ein halbes Dutzend Protokolle auf dem Schreibtisch.
»Die können bis morgen warten«, meinte er geringschätzig.
Er sah die Notizen über die Telefongespräche durch, erfuhr aber nichts Neues. Von Brav war noch keine Meldung eingelaufen. Das Verhör in der Landorschen Wohnung fand erst sine Viertelstunde später statt.
Michael schaute auf seine Uhr. Es war zu spät, um noch zu Bett zu gehen, denn er wollte Janice in aller Frühe aufsuchen.
»Sie können später anrufen«, sagte Mason. »Ich sage Ihnen dann, was sich inzwischen ereignet hat. Übrigens muß ich wegen des Ringes wohl doch noch eine persönliche Rücksprache mit der jungen Dame haben. Aber ich will es ihr so leicht wie möglich machen. Vielleicht arrangieren Sie eine Zusammenkunft in der Stadt. Ich möchte sie nicht nach Scotland Yard bringen, weil sie sich sicher zu sehr darüber aufregen würde.«
Michael war ihm für dieses Zugeständnis dankbar; damit war ihm eine Sorge genommen, die ihn gequält hatte, seit er die Wahrheit über den Ring gesagt hatte.
»Für einen Polizeibeamten sind Sie wirklich äußerst höflich, Mason.«
»Ich bin in jeder Beziehung ein höflicher Mann.«
Mike schlenderte zum Embankment hinaus und dann die Northumberland Avenue entlang. Er erreichte Trafalgar Square und überlegte sich dort, ob er nicht doch nach Hause gehen und ein paar Stunden schlafen sollte. Oder sollte er noch seinen Klub aufsuchen, der bis vier Uhr geöffnet war?
Plötzlich fuhr ein Taxi in der Richtung nach Admiralty Gate mit rasender Geschwindigkeit an ihm vorbei. Mike erkannte aber trotzdem den Chauffeur; wenn der Wagen langsamer gefahren wäre, hätte er den alten Gregory Wicks angerufen.
»Wünschen Sie ein Auto, Mr. Quigley?«
Ein Polizist war an seine Seite getreten. Mike kannte die Beamten in diesem Bezirk ziemlich gut.
»Nein, danke.«
»Ich dachte, Sie wollten eben den Chauffeur anhalten. Diese Leute nehmen sich in der letzten Zeit allerhand Freiheiten heraus.«
Mike lachte.
»Das war aber ein alter Freund von mir. Ich glaube, Sie kennen Gregory Wicks auch?«
»O ja. Der Alte fährt wieder. Ich hatte ihn seit Monaten nicht gesehen, bis ich ihn endlich an der Ecke der Orange Street beobachtete. Er war auf seinem Führersitz eingeschlafen. Damals hat er eine gute Fahrt versäumt. Er sollte nämlich Mr. Gasso nach Scotland Yard bringen, der dort eine Aussage zu Protokoll geben wollte.«
Wenn man einen Polizisten zufällig mitten in der Nacht trifft, dann ist er meistens sehr gesprächig. Aber Mike war nicht in der Stimmung, sich auf endlose Unterhaltungen einzulassen. Plötzlich fiel ihm jedoch die geheimnisvolle Andeutung des verrückten Mannes in Gallows Alley ein.
»Der alte Gregory war also in jener Nacht hier in der Gegend?« fragte er.
»Er hielt ungefähr fünfzig Meter vom Howdah-Klub entfernt. Er fährt ja nie zu einer richtigen Haltestelle. Aber wir kennen den Alten und sehen ihm das nach. Wenn er irgendwo an einer Ecke hält und schläft, stören wir ihn nicht.«
Mike faßte einen schnellen Entschluß, rief das nächste Taxi an und fuhr nach Tidal Basin. Da Gallows Alley niemals schlief, konnte man dort vielleicht zur Nachtzeit mehr erfahren als im hellen Tageslicht.
*
Shale kam im gleichen Augenblick in Scotland Yard an, als telefonisch durchgegeben wurde, daß Inspektor Bray mit den beiden Landors unterwegs sei.
Mr. Mason lehnte sich in seinen Sessel: zurück und rieb sich befriedigt die Hände. Dann schickte er Shale fort, um Mr. Wender vom Erkennungsdienst zu holen.
Mr. Wender war ein kleiner, etwas untersetzter Herr mit einem dünnen, weißen Schnurrbart und einer großen Hornbrille. Er trug noch seinen Smoking, denn er war direkt aus dem Theater ins Amt gerufen worden, um persönlich die Anhaltspunkte zu prüfen, die sich bis jetzt ergeben hatten.
»Kommen Sie nur herein, Charlie«, sagte Mason. »Aber bevor wir uns über Wirbel, Inseln und Kreise bei Fingerabdrücken unterhalten, sollen Sie mir einmal verraten, was das ist.« Er nahm die kleine Glasröhre aus der Tasche und legte sie auf das Löschblatt der Schreibunterlage.
Wender nahm sie in die Hand und betrachtete sie.
»Ich weiß es nicht genau -- vielleicht Butyl-Ammonal. Ich habe schon öfter gesehen, daß es in solchen Packungen in den Handel kommt. Wo haben Sie das Ding her?«
Mason erzählte es ihm.
»Ich bin natürlich meiner Sache nicht sicher«, erwiderte Wender. »Vor allem müßte man den Geruch prüfen. Die Farbe stimmt. Was wollen Sie denn sonst noch wissen?«
»Haben wir irgendein Aktenstück über die Landors?«
Wender schüttelte den Kopf.
»Nein -- höchstens unter, einem anderen Namen. Diese Verbrecher wechseln ihre Namen ja nur zu gern. Hier sind die Resultate meiner Untersuchungen.« Er legte verschiedene Schriftstücke auf den Tisch.
»Haben Sie die Fingerabdrücke des Ermordeten?«
Mr. Wender suchte sie aus dem Stoß von Papieren heraus.
»Wer hat sie genommen?« fragte er.
»Ich«, gestand Shale ein.
»Ich habe sie nicht brauchen können. Ich meine die ersten. Ich mußte noch einen Mann ins Schauhaus schicken, um neue zu machen. Ihr jungen Leute seid doch viel zu gleichgültig und oberflächlich. Nicht einmal ordentliche Fingerabdrücke könnt ihr nehmen.«
Mason betrachtete die Karten mit den schwarzen Flecken, die ihm nichts sagten.
»Ist der Mann bekannt?« fragte er.
»Bekannt!« wiederholte Wender spöttisch. »Donald Arthur Bateman, alias Donald Arthur, alias Donald Mackintosh. Er hat mehr Pseudonyme und Künstlernamen als ein richtiger Filmstar!«
Mason runzelte die Stirn.
»Donald Arthur Bateman? Den Namen sollte ich doch kennen. Ich habe ihn doch wegen Einbruchs vor Gericht gebracht!«
»Wegen Betrugs«, verbesserte Wender. »Zwölf Monate Zuchthaus.«
Mason nickte.
»Stimmt -- es war Betrug. Er hatte jemand um dreitausend Pfund beschwindelt, und es handelte sich um Ankauf von Land. Das war ja seine Spezialität. Wegen Erpressung wurde er auch einmal verurteilt. Später ging er außer Landes.«
»Und starb dort -- wenigstens nach einer halboffiziellen Meldung. Hier, bitte.«
Mason las die Notiz vor:
»Als verstorben gemeldet in Perth, Westaustralien, 1933. Zweifelhaft. Man glaubt vielmehr, daß er nach Südafrika ging. -- Hm. Jetzt ist er aber wirklich tot!«
Er saß tief in Gedanken versunken, während er auf ein Schriftstück schaute.
»Erpressung, Betrug -- Betrug, Erpressung ... der Mann wußte sich zu helfen. Verheiratet war er natürlich auch ... wahrscheinlich ein dutzendmal. ›Ging nach Australien und arbeitete dort mit den Brüder Walter und Thomas Furse zusammen, die die Depositenkasse der South Australien Bank in Wumarra ausplünderten. War in dem Prozeß Kronzeuge und wurde außer Anklage gestellt. Walter Furse bekam acht, Thomas drei Jahre Zuchthaus. Walter war ein Gewohnheitsverbrecher; Thomas war erst einen Monat vor seiner Verurteilung nach Australien gekommen und wurde nach zwei Jahren auf Bewährung entlassen.«
Er hatte alles laut vorgelesen.
»Das ist unser Mann«, sagte Shale.
Mason achtete nicht auf den Einwurf und las noch die vertrauliche Mitteilung, die in kleiner Schrift zugefügt war.
»Während die Brüder Furse im Gefängnis saßen, verschwand Bateman mit der jungen Frau von Thomas.« Er sah auf. »Das ist Lorna. Walter Furse starb 1935 im Gefängnis. Thomas ist der Mörder, Lorna seine Frau, Bateman der Ermordete. Mir ist jetzt alles klar. Nur gut, daß wir das Motiv entdeckt haben! Was wissen wir nun von Tommy? Haben wir irgendwelche Akten aus Australien?«
Mr. Wender legte drei kartonierte Bücher auf den Tisch, von denen er eins wieder aufnahm.
»Wir haben alle möglichen Nachrichten«, sagte er selbstzufrieden. »Sehen Sie, hier: ›Streng vertraulich. Personalakten der Leute, die im Staate Victoria wegen schwerer Verbrechen verurteilt wurden. Herausgegeben von der Behörde‹ --«
Mr. Wender wandte schnell die Seiten um.
»Farrow, Felton, Ferguson, Furse -- hier haben wir's: ›Thomas Furse, siehe Band VI, Seite 13‹.«
Er schob Mason das Buch hin. Diese Zusammenstellung war viel interessanter als die meisten Blaubücher der Regierung, denn die Akten jedes einzelnen Mannes waren in Form einer kurzen und lesbaren Biographie abgefaßt.
Thomas Furse wurde in England von seinem Bruder erzogen. Wußte wahrscheinlich nichts von der ungesetzlichen Tätigkeit desselben, als er nach Australien kam. Furse war sicher ein angenommener Name (siehe W. Furse, Band VIII, Seite 7), und es ist möglich, daß er unter seinem eigenen Namen von seinem Bruder auf dessen Kosten erzogen wurde, obwohl er den Namen Furse annahm, als er nach Australien ging. Er heiratete Lorna Weston, die er auf der Ausreise kennenlernte. Nach seiner Verurteilung verschwand sie. Thomas wurde freigelassen ...
Mason las schweigend weiter und schloß dann plötzlich das Buch.
»Die Identität dieser Leute ist nun zweifelsfrei festgestellt Auch das Motiv genügt für jeden, der nicht vollständig auf den Kopf gefallen ist. Thomas geht nach Australien, einen Monat später wird er wegen Bankeinbruchs verhaftet und bekommt drei Jahre Zuchthaus. Donald Arthur Bateman geht als Kronzeuge frei aus und verschwindet mit Lorna. Thomas kommt nach England zurück und trifft auf irgendeine Weise gestern abend mit Donald zusammen. Nun müssen wir vor allem prüfen, ob Thomas Furse ein anderer Name für Louis Landor ist. Sollte das der Fall sein, dann ist das Problem gelöst.«
Es lagen noch ein paar andere Papiere auf dem Tisch, die er aufnahm.
»Was ist das?« fragte er.
Es war die große Fotografie eines Daumenabdruckes.
»Den haben wir auf der Rückseite der Uhr gefunden«, sagte Wender. »Harry Lamborn natürlich. So klar wie eine Visitenkarte. Er ist schon fünfmal verurteilt ...«
»Ich kenne seine Akten ganz genau«, unterbrach ihn Mason.
»Ein wunderbarer Abdruck«, erwiderte Wender.
»Sie sollten ihn einrahmen lassen, Charlie«, meinte Mason freundlich. »Ich danke Ihnen übrigens. Heute nacht brauche ich Sie nicht mehr.«
»Dann will ich nach Hause gehen und mich ins Bett legen.« Mr. Wender gähnte. »Wenn ich nicht jemand an den Galgen gebracht habe, war die Zeit verschwendet.«
»Sie bekommen eine Auszeichnung.«
»Ich weiß«, entgegnete Wender ironisch. »Und wenn ich meine Auslagen für einen Wagen vom Theater nach Scotland Yard aufschreibe, wird mir bei der Abrechnung erklärt, ich hätte im Autobus fahren sollen!«
Er war schon gegangen, als Inspektor Bray siegesbewußt eintrat.
»Ich habe die beiden Landors mitgebracht«, meldete er.
Mason schaute auf. Er hatte noch einmal die Biographie von Thomas Furse gelesen. Es war kein Alter angegeben, was er sehr bedauerte. Aber wenn er telegrafischen Melbourne anfragte, würde die Antwort am Morgen da sein.
»Haben Sie auch die Wohnung durchsuchen lassen?«
»Ich habe Elk damit beauftragt.«
Mason nickte.
»Nun, wie verhalten sich denn die beiden?«
»Ich weiß es nicht genau. Sicher hätte ich alles herausgefunden, aber unglücklicherweise ist Sergeant Elk ein wenig umständlich. Ich möchte mich ja nicht über ihn beschweren, aber man ist in einer peinlichen Lage, wenn ein Untergebener einem das Verhör gewissermaßen aus der Hand nimmt und einen als Luft behandelt!«
»Das macht er mit mir auch so.« Mason lachte behaglich. »Warum sollte er es also nicht mit Ihnen tun? Sie brauchen sich wahrhaftig nicht über ihn zu beklagen. Diese verdammten Vorschriften über die Führung von Verhören lassen einem so wenig Spielraum, daß es ganz gut ist, wenn man einen anderen Beamten hat, der sich nicht um sie kümmert. Man kann ihm dann später immer die Schuld in die Schuhe schieben. Bringen Sie die Leute herein!«
Mason lachte noch vor sich hin, als Bray gegangen war. Elk war einfach unverbesserlich, aber in seiner Art unbezahlbar. Er hatte entschieden Pech, daß er niemals das Examen bestand, das ihn zum Inspektor befördert hätte. Zum viertenmal faßte Mason den Entschluß, den Polizeipräsidenten dringend um Beförderung seines Untergebenen zu bitten.
Er erhob sich, als sich die Tür öffnete und Inez vor ihrem Mann das Zimmer betrat. Sie war gefaßter, als er erwartet hatte. Freundlich ging er ihr entgegen und gab ihr die Hand. Diese unerwartete und ungewöhnliche Begrüßung überraschte sie sehr.
»Es tut mir außerordentlich leid, daß Sie mitten in der Nacht hierherkommen mußten, Mrs. Landor«, sagte er liebenswürdig. »Ich hätte weder Sie noch Ihren Mann herbemüht, wenn es sich nicht um einen so ernsten Fall handelte. Auch die Beamten sind alle aufgeblieben und arbeiten fieberhaft, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.«
Er rückte persönlich einen Stuhl für sie zurecht, und Shale holte einen anderen für Mr. Landor.
»Ich hoffe, daß wir Sie nicht zu sehr beunruhigt haben. Aber bei solchen Fällen kommt es häufig vor, daß unschuldige Staatsbürger zu leiden haben.«
»Für mich ist es ja nicht so schlimm«, erwiderte Louis Landor, »aber meine Frau regt die Sache natürlich sehr auf.«
»Selbstverständlich. Das verstehe ich vollkommen«, erwiderte Mason zuvorkommend, setzte sich gleichfalls und sah Inspektor Bray an. »Was hat Ihnen denn nun Mr. Landor erzählt?«
Bray zog ein Notizbuch heraus. In der letzten Viertelstunde, während die beiden Landors in Scotland Yard warteten, hatte er mit größter Genauigkeit den Inhalt der Zeugenaussagen niedergeschrieben.
»Mrs. Landor kannte den Ermordeten, und Mr. Landor hat ihn ebenfalls oberflächlich gekannt. Die beiden Banknoten zu je hundert Pfund, die in der Tasche des Ermordeten gefunden wurden, hatte Mr. Landor in Form einer Anleihe Mr. Baterman gegeben. Diese Feststellung wurde allerdings erst gemacht, nachdem Mr. Landor ausdrücklich betont hatte, daß er Donald Bateman nicht kannte.«
Mason nickte. »Aber nachher hat er zugegeben, daß er ihn kannte?«
»Ja. Er sagte auch, daß er niemals in Tidal Basin gewesen sei. Mrs. Landor erklärte, der Ermordete sei vor Jahren eng mit ihr befreundet gewesen, doch habe sie ihn seit dieser Zeit nicht mehr gesehen. In der Wohnung fand ich einen Gürtel mit zwei Dolchmessern. Eins der Messer war noch vorhanden.« Er legte es auf den Tisch. »Das andere fehlt.«
Mason nahm es aus der Scheide und betrachtete die kleine Goldplatte mit dem Monogramm.
»L. L. -- das sind Ihre Anfangsbuchstaben?«
Landor nickte.
»Wo ist denn das andere Messer?«
Bray sah wieder in sein Notizbuch.
»Mrs. Landor gab an, es verloren zu haben. Beide Dolche erhielt ihr Mann als Preis bei einem Wettbewerb im Messerwerfen.« Er klappte das Buch geräuschvoll zu. »Das sind alle Aussagen.«
Mason machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Geben Sie zu, daß Sie diese Aussagen heute abend Inspektor Bray gemacht haben?«
Die beiden bejahten die Frage.
»Wollen Sie diese Aussagen noch irgendwie erweitern oder korrigieren?«
»Nein«, erklärte Louis Landor.
»Ich möchte noch darauf hinweisen«, bemerkte Bray, »daß er eine Beule im Gesicht hat. Er sagte, er habe sich an der Schranktür gestoßen, während Mrs. Landor erklärte, er sei auf der Straße gefallen.«
»Wollen Sie nicht eine Erklärung hierzu abgeben?« fragte Mason.
Mr. Landor atmete schnell.
»Nein, das möchte ich nicht tun.«
»Haben Sie etwas dagegen, daß ich noch einige Fragen an Sie stelle?«
Landor zögerte einen Augenblick.
»Nein«, erwiderte er dann mit gepreßter Stimme.
»Oder hat Ihre Frau etwas dagegen?«
Inez schüttelte den Kopf.
»Ich will es Ihnen so leicht wie möglich machen, denn ich begreife, daß es sehr aufregend für Sie ist. Waren Sie schon einmal in Australien?«
Zu seinem Erstaunen erhielt er sofort Antwort.
»Ja, vor vielen Jahren, als ich eine Weltreise mit meinem Vater machte. Ich war aber noch sehr jung.«
»Haben Sie damals oder an irgendeinem anderen Ort einen gewissen Donald Arthur Bateman getroffen, der ein früherer Sträfling war, wie ich zufällig weiß?«
Louis schüttelte den Kopf.
»Sie sagten, daß Sie niemals in Tidal Basin waren. Wenn ich Ihnen aber sage, daß Sie erkannt worden sind, als Sie in der Nähe der Endley Street mit Bateman aneinandergerieten -- wollen Sie es dann auch noch leugnen?«
Mason bluffte ihn mit dieser Frage nur, aber er hatte Erfolg.
»Nein -- ich würde es nicht leugnen.«
Mason strahlte.
»Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Es liegt keine Notwendigkeit vor, etwas zu verheimlichen. Nun vergessen Sie einmal, was Sie zu Mr. Bray gesagt haben, und wir: wollen es auch vergessen«, sagte er lächelnd. »Sie verbergen etwas, um sich oder Ihre Frau vor einer eingebildeten Gefahr zu schützen. Aber dadurch verwickeln Sie sich immer mehr in Widersprüche und machen sich nur des Mordes verdächtig. Also, wovor fürchten Sie sich denn eigentlich?«
Louis Landor vermied den Blick des. Chefinspektors.
»Wahrscheinlich halten Sie etwas zurück, was gar keine Bedeutung hat. Es ist aber sehr wichtig und bedeutungsvoll« -- Mason betonte jedes Wort und klopfte mit dem Finger auf den Tisch --, »daß ich genügend Material habe, um Sie des Mordes anzuklagen! Sie waren in Tidal Basin. Ein Messer wie dieses hier war die Mordwaffe. Die Scheide habe ich hier. Sie haben dem Ermordeten Geld gezahlt. Warum haben Sie das getan?«
»Sie wollen uns doch wohl nicht erzählen, daß Sie es aus reiner Menschenfreundlichkeit getan haben?« mischte sich Bray plötzlich ein, aber ein Blick Masons ließ ihn sofort wieder verstummen.
»Sie sind einem Erpresser in die Hände gefallen -- stimmt das?« fragte der Chefinspektor.
»Ja, das stimmt«, erwiderte Inez. »Das ist die reine Wahrheit. Ich kann es beschwören.«
»Das hatte ich mir gedacht. Bateman wußte etwas von Ihnen oder von Ihrer Frau. Vielleicht haben Sie irgendwie gegen das Gesetz verstoßen ...« Er machte eine Pause, als ob er eine Antwort erwartete.
»Ich bin nicht bereit, eine Erklärung zu geben«, sagte Louis schnell.
»Aber Sie sind bereit, auf der Anklagebank Platz zu nehmen und sich des vorsätzlichen Mordes beschuldigen zu lassen? Und Ihre Frau ist damit einverstanden?«
Sie schüttelte den Kopf, konnte aber kein Wort hervorbringen.
»Nun gut, Sie wurden also das Opfer eines Erpressers.«
»Ja«, hauchte Inez mit schwacher Stimme.
»Was hatten Sie denn getan? Haben Sie jemand ermordet oder beraubt?« Plötzlich änderten sich Masons Gesichtszüge, und er lächelte, was gar nicht am Platze zu sein schien. »Ach, jetzt weiß ich es -- Bigamie!«
»Nein«, sagte Louis.
»Dieser Bateman war Ihr Mann«, fuhr Mason fort und zeigte auf Inez. »Und er lebte noch, als Sie Ihren jetzigen Gatten heirateten. Ist das nicht richtig?«
»Ich dachte, er sei tot«, erwiderte sie leise, aber er hörte trotzdem jedes Wort. »Ich war meiner Sache ganz sicher, denn ich hatte es in der Zeitung gelesen und mir den Ausschnitt aufgehoben. Als ich ihn später wiedersah, erzählte er mir, er habe die Geschichte nur in die Welt gesetzt, um die Polizei von seiner Spur abzubringen. Ich schwöre, daß ich nichts davon wußte.«
Mason lehnte sich in seinen Stuhl zurück und steckte die Daumen in die Ärmellöcher seiner Weste.
»Auch Scotland Yard wußte es nicht, Mrs. Landor. Ich habe die Akten hier.« Er zeigte auf verschiedene Dokumente, die neben ihm lagen. »Wir haben einen Bericht aus Australien, daß er tot ist. Großer Gott, aber warum ängstigen Sie sich denn? Bigamie ist doch unter diesen Umständen kaum ein Vergehen! Sie werden irgendeine Geldstrafe bekommen und die Summe an die Armenkasse abführen müssen. Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?«^
Die Blicke der beiden Gatten trafen sich, und Louis nickte.
»Gestern«, sagte Inez.
»Sie hörten schon vor vier Tagen, daß er in London war«, bemerkte Bray. »Ihr Dienstmädchen sagte, daß Sie seit vier Tagen in gedrückter Stimmung gewesen seien.«
Sie zögerte.
»Sie können die Frage ruhig beantworten«, meinte Mason.
»Er schrieb -- ich konnte nicht glauben, daß er wirklich noch am Leben war.«
Und nun erzählte sie Einzelheiten. Bateman wußte, daß sie in guten Verhältnissen lebten, und verlangte Geld unter der Drohung, sie öffentlich der Bigamie zu beschuldigen. Er war ohne einen Cent in England angekommen. Andere Verbrecher hatten ihn an Bord um das letzte Geld betrogen. Aber er hatte glänzende Aussichten.
»Ja«, sagte Mason trocken, »ich kenne den Namen der Dame.«
Er setzte sich tiefer in seinen Stuhl und legte die Fingerspitzen zusammen, denn er kam jetzt zu dem schwierigsten Punkt des Verhörs.
»Er hat Sie also in Ihrer Wohnung aufgesucht -- wann war denn das?«
»Gestern.«
»Hat er Sie besucht, um das Geld zu holen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, das hatten wir ihm durch die Post geschickt.«
»Warum kam er dann? Um Ihnen zu danken?«
Sie antwortete nicht.
»War Ihr Mann nicht zu Hause?«
Sie schaute starr auf die gegenüberliegende Wand, und Mason sah, daß ihre Lippen zitterten.
»Wurde er -- zudringlich?«
Bray stand dicht neben ihr und fing sie auf, bevor sie umsank.
»Schon gut -- geben Sie ihr etwas Wasser zu trinken.«
Auf dem Kamin stand eine Karaffe, und Sergeant Shale goß ein Glas ein. Inez öffnete die Augen bald wieder, und ihr Mann hob sie in den Armsessel, den Bray für sie hinschob.
»Sie dürfen sie nichts mehr fragen«, sagte Landor. »Sie können alles von mir erfahren.«
»Ja, das glaube ich auch. Wann kamen Sie gestern in Ihre Wohnung? Nachdem Bateman mit Ihrer Frau gesprochen hatte?«
»Ich kam gleich darauf und begegnete ihm noch auf der Treppe. Aber ich wußte nicht, wer er war.«
»Fanden Sie Ihre Frau sehr aufgeregt? Hat sie Ihnen gesagt, was geschehen war?«
Er nickte.
»Und dann sind Sie ihm nachgegangen?«
»Ja«, entgegnete er trotzig.
»Mit einem Messer, das so aussieht wie dieses hier?«
Inez Landor sprang auf und stützte sich auf den Tisch.
»Das ist eine Lüge! Er ist ihm nicht mit einem Messer nachgeschlichen!« rief sie leidenschaftlich. »Donald hat es genommen -- er hat es mir abgenommen. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Ich versuchte, ihn zu töten, und riß das Messer von der Wand, weil ich ihn haßte wegen all der Jahre, die er mich gequält hat, wegen all des Elends, das ich erdulden mußte, seit er aus dem Gefängnis kam. Um meines kleinen Kindes willen, das durch seine Gemeinheit zugrunde ging!«
Ein tiefes Schweigen folgte. Mason konnte hören, wie schnell ihr Atem ging.
»Er hat Ihnen das Messer abgenommen?« sagte er schließlich.
»Ja; er sagte, er wolle es als Andenken aufbewahren. Er steckte es in die Scheide und nahm es mit. Wissen Sie, was er von mir verlangte? Ich sollte wieder mit ihm zusammenleben!« Ihre Stimme versagte.
Mason trat zu ihr, nahm Sie am Arm und drückte sie freundlich in den Sessel zurück.
»Nur ruhig, Mrs. Landor. Regen Sie sich nicht auf. Aber es ist sehr gut, daß Sie das alles gesagt haben.«
Dann wandte er sich an Louis.
»Sie folgten diesem Mann also nach Tidal Basin und hatten dort einen Zusammenstoß mit ihm. Wußten Sie, daß er das Messer in der Tasche hatte?«
»Ich hatte keine Ahnung davon, bis meine Frau es mir am Telefon mitteilte. Ich habe das Messer weder gesehen noch gebraucht.«
»Warum sind Sie denn davongelaufen?«
Louis machte eine Pause, bevor er antwortete.
»Ich dachte, ich hätte ihn getötet ... und meine Frau hatte mich dringend gebeten, ihn nicht anzurühren. Er war herzleidend.«
Mason nickte.
»Und trug deshalb Butyl-Ammonal bei sich?«
»Ja«, entgegnete Inez eifrig. »Eine kleine Ampulle, die er im Taschentuch zerdrücken konnte, um dann die Dämpfe einzuatmen. Er hatte es immer bei sich.«
Mason ging langsam im Zimmer auf und ab.
»Sie liefen davon und fanden eine offene Tür, die zu dem Gelände der Eastern Trading Company führte. Ich nenne sie die Biertür, aber das verstehen Sie natürlich nicht, und ich kann es Ihnen auch nicht erklären. Und das ist alles, was Sie von der Sache wissen?«
»Ja, das ist alles«, erklärte Landor mit fester Stimme.
»Sie haben kein Messer gezogen und kein Messer gebraucht?«
»Nein, ich schwöre es.«
»Haben Sie denn nicht den Lärm und den Auflauf gehört, als wir draußen vor dem Tor waren?«
»Nein. Ich suchte einen Ausweg aus dem Grundstück und habe es in der nächsten Stunde nicht wieder verlassen. Eine Zeitlang habe ich mich versteckt und ...«
In diesem Augenblick wurde die Tür heftig aufgerissen. Erstaunt starrte Mason auf den Mann, der im Eingang stand. Es war Sergeant Elk. Ein Teil seines Gesichtes war von weißen Bandagen bedeckt. Er stützte sich an der Wand und schaute Bray böse an.
»Was ist denn passiert?« fragte Mason bestürzt.
»Rühren Sie mich nicht an«, sagte Elk wütend, als Bray auf ihn zuging, um ihm zu helfen. Dann starrte er Inez an. »Haben Sie gehört, daß vor Ihrem Mann jemand in die Wohnung kam?«
»Ich glaube, ja.«
»Ganz richtig! Er hatte sich in der Wohnung versteckt, und als ich zurückkam, schlug er mich nieder. Aber er kann doch nicht ohne Schlüssel hineingekommen sein.«
»Wo sind denn Ihre Schlüssel?« fragte Mason.
»Ich habe sie verloren!« erwiderte Louis, »bei dem Streit mit Bateman. Ich habe sie erst vermißt, als ich in meine Wohnung kam. Erst da entdeckte ich, daß die Kette gerissen war, an der ich sie trage. Sehen Sie her.«
Er zeigte die goldene Kette, die seitlich aus seiner Tasche hing.
Elk ging schwankend durchs Zimmer zu Louis und legte die Hand auf seine Schulter.
»Hatten Sie Wertsachen in der obersten Schublade Ihres Schreibtisches -- etwa Geld?«
Landor starrte ihn an.
»Verschweigen Sie doch jetzt nichts mehr!« fuhr ihn Mason an. »Was war in der Schublade?«
»Geld, Pässe und Fahrkarten«, sagte Louis heiser. »Ich wollte morgen mit meiner Frau das Land verlassen.«
»Wieviel Geld war es denn?« fragte Elk.
Der Sergeant lachte hart auf.
»Und jetzt ist nichts mehr da! Alles verschwunden! Die Schublade ist aufgebrochen und das Geld herausgenommen worden. Und ich will Ihnen noch etwas erzählen, Mason.« Die vertrauliche Anrede ging unbeanstandet durch. »Der Kerl, der mich niedergeschlagen hat, war -- Weißgesicht! Bilden Sie sich ja nicht ein, daß ich phantasiere ...«
Mason unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung.
»Natürlich war es Weißgesicht. Es kann niemand anders gewesen sein. Das habe ich schon längst gewußt!«