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13

Michael Quigley war bisher weder bei Tag noch bei Nacht allein durch Gallows Alley gegangen, und er stand zögernd am Eingang der Gasse. Er hatte ein sonderbar unheimliches Gefühl, das er sonst nicht kannte. Vergeblich sah er sich nach einem Polizisten um, dem er sich hätte anschließen können. Er wünschte jetzt, daß er wenigstens den Chauffeur seines Taxis zurückgehalten hätte.

Und doch unterschied sich die Gasse kaum von anderen. Es gab Tausende solcher Straßen in jeder großen Stadt. Schließlich beruhigte sich Mike bei dem Gedanken, daß die Bewohner jetzt wohl doch schlafen mußten, wenn es auch eine feststehende Redensart von Mr. Mason war, daß sie niemals schliefen. Aber der Chefinspektor neigte manchmal zu Übertreibungen.

Mike schaute an der Fassade der Marfordschen Klinik empor. Im oberen Stockwerk standen die Fenster auf -- wahrscheinlich lag das Schlafzimmer des Arztes dort. Er hatte eigentlich die schwache Hoffnung gehabt, daß der Doktor noch wach sein würde.

Schließlich nahm er alle Energie zusammen und trat in die dunkle Gasse. Es war totenstill, und aus keinem Fenster schimmerte Licht. Der Wind oder ein Mensch mit bösen Absichten hatte die Gaslaterne am hinteren Ende der Straße ausgelöscht, und Mike mußte sich an den Wänden der Häuser entlangtasten. Nach kurzer Zeit blieb er plötzlich stehen, und ein panischer Schrecken packte ihn. Er hörte ein qualvolles Stöhnen, das in einem, langen Schmerzenslaut endete.

Woher kam dieser Ton? Er sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Noch einmal klang das Stöhnen unheimlich durch die Stille der Nacht; es schien aus der Nähe zu kommen. Mike wartete und war fest entschlossen, die Sache aufzuklären, aber es wiederholte sich nicht mehr. Statt dessen hörte er ein leises Gekicher, das ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb.

»Gehen Sie weiter, Sie Zeitungsreporter!« sagte eine heisere Stimme. »Es tut Ihnen niemand etwas.«

Mike erkannte den Mann jetzt an der Stimme, obwohl er ihn nicht sehen konnte. Es war der Verrückte, mit dem Mason vor ein paar Stunden gesprochen hatte.

»Ratten sind wir? Augen wie Ratten sollen wir haben? Ich habe es schon gehört -- ich höre alles!«

Michael ging in der Richtung, aus der die Stimme kam, und bemerkte verschwommen eine dunkle Gestalt, die an einer Mauer lehnte.

»Ich weiß, wohin Sie gehen«, flüsterte der Verrückte. »Sie wollen sehen, was bei dem alten Gregory nicht stimmt -- das ist sehr schlau von Ihnen, sehr schlau! Sie sind noch gescheiter, als Mason.« Plötzlich faßte er Mike am Mantel, und der junge Mann mußte alle Selbstbeherrschung zusammennehmen, um sich nicht loszureißen. »Ich will Ihnen etwas sagen.« Das Flüstern wurde vertraulicher. »Den Polizeidoktor haben sie nicht gefunden. Sie sind schon die ganze Nacht mit ihren Booten auf dem Fluß und haben den ganzen Schlamm durchsucht -- aber sie haben ihn nicht gefunden.« Der Alte lachte wieder, bis er einen Hustenanfall bekam, »Alle Polizisten und Wachtleute in Tidal Basin suchen nach dem alten Rudd! Halten Sie ihn für einen guten Arzt? Ich nicht. Ich würde ihn niemals um Rat fragen. Machen Sie sich doch einen Scherz mit den Leuten auf der Wache und erzählen Sie ihnen, daß er in einem Omnibus liegt!« Er ließ Mikes Mantel los. »Blaugesicht schläft auf der Treppe des alten Gregory. Blaugesicht -- nicht Weißgesicht!«

Wieder hörte Quigley das lange, gurgelnde Lachen, das durch Husten erstickt wurde. Angewidert ging er weiter, bis er zum Haus Nr. 9 kam. Der Schläfer, den er vorher gesehen hatte, saß tatsächlich noch auf den Stufen vor Gregory Wicks' Wohnung. Er kauerte noch in derselben Stellung und schnarchte regelmäßig.

Michael wagte nicht, den gleichen Weg zurückzugehen, den er gekommen war. Er ging auf die andere Seite, fand aber trotzdem den Verrückten am Eingang der Gasse wieder.

»Der alte Gregory ist zurück -- schon seit einer Viertelstunde. Ein alter Mann wie er sollte eigentlich nicht mehr Chauffeur spielen. Und ich bin der einzige, der weiß, warum er das nicht tun sollte! Dr. Marford weiß es allerdings auch, aber der verrät seine Patienten nicht.«

Dr. Marford stand in dem Ruf, Geheimnisse zu kennen, die anderen Leuten die Haare hätten zu Berge stehen lassen, wenn sie nur davon gehört hätten.

»Was stimmt nicht, bei dem alten Gregory Wicks? Das frage ich Sie.«

Mit diesen Worten verschwand der alte Mann geräuschlos in der Dunkelheit. Entweder ging er auf Strümpfen, oder seine Füße waren nackt, denn man hörte keinen Laut, als er sich bewegte. Er wirkte so gespenstisch und unheimlich, als ob er der böse Geist dieser verrufenen Gasse wäre.

Aber Mike hatte wenigstens etwas durch ihn erfahren, was er gern wissen wollte: Gregory war zurückgekommen, und zwar vor einer Viertelstunde. Langsam ging er zur Polizeiwache und sprach dort mit dem Sergeanten.

»Nein, Dr. Rudd haben wir noch nicht gefunden. Die Strompolizei ist eifrig auf der Suche. Es besteht ja immer noch die Möglichkeit, daß er vielleicht nach dem Westen gegangen ist. Er hat eine Wohnung in der Nähe von Langham Place, und dort taucht er am Ende noch auf. Mr. Mason ist übrigens auf dem Weg hierher, wenn Sie ihn sprechen wollen.«

»Warum kommt er denn zurück?« fragte Mike überrascht.

Aber der Sergeant konnte oder wollte ihm keine Antwort geben.

Mike fühlte sich erleichtert, denn er brannte darauf, mit dem Chefinspektor zu sprechen.

»Persönlich mache ich mir keine Sorgen um Rudd«, meinte der Sergeant. »Er ist ein merkwürdiger alter Kauz. Wie alt er eigentlich ist, weiß ich gar nicht. Aber wenn einer Geld hat, sollte er sich nicht in dieser Gegend herumtreiben.«

»Hat er denn Geld?«

»Eine Unmenge. Eine seiner Patientinnen ist gestorben und hat ihm ihr ganzes Vermögen vermacht. Wenn er ein besserer Arzt wäre, würde sie wahrscheinlich noch leben«, fügte er sarkastisch hinzu. Er hielt die Hand vor den Mund und gähnte. »Ja, Säcke voll Geld hat der Mensch. Treibt sich die ganze Nacht in den Klubs herum. Ich weiß es von meinen Kollegen, die immer dorthin geschickt werden. Da sieht man wieder einmal: Alter schützt vor Torheit nicht.«

Nach einiger Zeit erschien Mason mit Bray und Shale. Er war in der besten Stimmung und sah so frisch aus, als ob er eben nach einem erquickenden Schlaf aufgestanden wäre. Mike begrüßte er in seiner jovialen Art. Aber als er die Meldung des diensttuenden Sergeanten erhielt, schwand das Lächeln aus seinem Gesicht.

»Was, Rudd ist immer noch nicht aufgetaucht?« fragte er bestürzt.

Den Polizeiarzt hatte er ganz und gar vergessen. Lange Zeit sprach er nicht, sondern stand vor dem Kamin und wärmte sich die Hände.

»Übrigens regt mich das nicht so auf, wie es eigentlich sollte«, sagte er schließlich. »Rudd ist ein komischer Mensch, und ich ärgere mich mehr über ihn als über alle andern, obwohl ich es mir hoffentlich nicht merken lasse. Aber ich glaube wirklich nicht, daß man sich über sein Verschwinden beunruhigen solltet«

»Ich habe Ihnen aber eine Mitteilung zu machen, die Sie beunruhigen wird«, sagte Mike.

Der Chefinspektor sah ihn scharf an.

»Das klingt ja beinahe wie eine Drohung. Nun gut. Können wir in ein anderes Zimmer gehen, Bray?«. -- Der Inspektor sah mißvergnügt drein, weil er nicht zu. der Besprechung eingeladen wurde. Er konnte diese Zeitungsreporter, die sich mit der Aufdeckung von Verbrechen beschäftigten, nicht leiden, und er machte auch keine Anstrengung, seine Abneigung zu verbergen. Die Antipathie war aber gegenseitig, denn die Reporter schrieben in. ihren Artikeln seinen Namen absichtlich falsch, oder sie erwähnten ihn überhaupt nicht.

Hinter der verschlossenen Tür des Büros enthüllte Mike dem Chefinspektor seine geheimsten Vermutungen.

»Ich habe auch schon daran gedacht«, entgegnete Mason, der gespannt zugehört hatte. »Ich will Sie nicht schulmeistern, Mike, oder den Versuch machen, mir Ihre Verdienste anzueignen, aber der alte Gregory Wicks ist wirklich ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Ich bin nämlich in dieser Gegend geboren, aber das brauchen Sie niemand weiterzuerzählen. Gregory hat die besten Personalakten sämtlicher Chauffeure Londons -- er hat alle Fundsachen ehrlich abgeliefert wie kein anderer.«

»Hinkt er nicht?« fragte Michael.

Mason runzelte die Stirne.

»Ja«, sagte er langsam. »Er wurde einmal von seinem Führersitz auf die Straße geschleudert. Natürlich hinkt er! Merkwürdig, daß ich das vergessen hatte«, meinte er.

»Sie sagten mir, daß der Mann, der Mrs. Westons Wohnung durchsuchte, ebenfalls hinkte.«

»Ja. Ich hatte die beiden allerdings noch nicht in Verbindung gebracht. Aber Gregory Wicks kommt doch überhaupt nicht in Frage!« Mason lachte. »Der Gedanke ist wirklich absurd! Der Mann ist sechsundsiebzig Jahre alt und hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen.«

»Aber der Verrückte in Gallows Alley hat doch gesagt, daß etwas nicht stimmt bei ihm?«

Mason rieb sein Kinn.

»Es gibt viele verrückte Leute, die Theorien aufstellen«, sagte er etwas anzüglich. »Nein, Sie meine ich nicht damit, Michael.«

»Wie wäre es denn, wenn wir einmal den Doktor fragten?«

»Marford? Den kann ich doch nicht mitten in der Nacht aus dem Bett holen, damit er mir die zusammenhanglosen Angaben eines Verrückten bestätigt? Und glauben Sie vielleicht, daß er mir Auskunft über seinen Patienten geben würde? Dazu können Sie einen Arzt niemals zwingen, höchstens wenn er als Zeuge vor Gericht vereidigt wird. Aber auch dann muß man noch sehr vorsichtig sein, weil durch das Berufsgeheimnis gewisse Grenzen gezogen sind. Die Ärztekammer macht sofort einen Heidenspektakel, wenn man etwas zu sehr ins Detail geht.«

»Sie können ihn aber doch unter irgendeinem anderen Vorwand aufwecken«, meinte Michael. »Vielleicht kann er uns beider Suche nach Rudd behilflich sein.«

Mason vergrub die Hände tief in den Hosentaschen und klapperte nervös mit losem Silbergeld.

»Der Mann, der in Mrs. Westons Wohnung war, hinkte tatsächlich, wenn die Frau von gegenüber die Wahrheit gesagt hat. Und nun fällt mir auch ein, daß Weißgesicht immer gehinkt hat. Das stand in den ersten Personalbeschreibungen, die über ihn ausgegeben wurden. Er benützte ein Motorrad -- Michael, das erledigt eigentlich Ihre Theorie.«

»Motorradfahrer sind immer gesehen worden, wenn irgendwo ein Einbruch verübt wurde. Aber niemand kann einen Eid darauf leisten, daß das auch wirklich die Räuber waren. Bedenken Sie auch, daß Motorräder nach einer gewissen Stunde abends unbedingt auffallen müssen! Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß sich Weißgesicht als Chauffeur eines Wagens davonmachte?«

»Aber es ist doch höchst unwahrscheinlich, daß Gregory zum Verbrecher wurde, nachdem er fünfzig Jahre lang einer der ehrlichsten Chauffeure war. Er hat sich. Geld gespart, hat keine Verwandten und Freunde, trinkt und raucht nicht. Niemals hat er etwas Unehrliches in seinem Leben getan. Nein, Michael, ich werde Ihnen sagen, wer Weißgesicht ist -- Tommy Furse!«

»Und wer, zum Donnerwetter, ist Tommy Furse?« fragte Mike erstaunt.

»Das erfahren Sie, wenn die Geschichte genügend durchgekocht ist. Im Augenblick heizen wir erst den Herd an.« Er erhob sich rasch. »Ich werde den Doktor anrufen und ihm sagen, daß ich ihn sprechen möchte. Ach, Bray kann das auch erledigen.«

Er öffnete die Tür, rief nach dem Inspektor und gab ihm den Auftrag.

»Sagen Sie ihm, daß ich sehr ängstlich wegen Dr. Rudds geworden bin und ihn deswegen aufsuchen mochte.«

Bray entfernte sich.

»Darf ich mitkommen?« fragte Mike.

»Ja, Sie können mich begleiten. Aber Sie warten besser draußen. Bei einem offiziellen Besuch kann ich Sie nicht gut mitnehmen.«

»Er liebt mich auch nicht besonders«, erwiderte Mike und dachte daran, wie kühl sich Dr. Marford immer gegen ihn benommen hatte.

Als Mason mit Bray und Shale in der Klinik ankam, fand er Marford angekleidet. Der Arzt erzählte ihm, daß er überhaupt noch nicht zu Bett gekommen und eben erst von einem Krankenbesuch zurückgekehrt sei.

»Wegen Dr. Rudd mache ich mir keine großen Sorgen. Ich habe übrigens noch einmal im Krankenhaus vorgesprochen, um zu sehen, ob Mrs. Weston wieder zu sich gekommen ist. Aber da sie schlief, hielt es der Arzt für besser, sie nicht zu stören.«

»Wann wird sie wohl in der Lage sein, eine Aussage zu machen?«

»Wahrscheinlich morgen früh.«

Der Doktor holte eine Whiskyflasche, einen Siphon und Gläser aus einem Schrank und stellte sie auf den Tisch.

»Mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten. Ich halte die Getränke nur für meine Gäste im Haus. Persönlich trinke ich nach zehn nichts mehr.«

Über den Verbleib Rudds wußte er auch nichts.

»Er kommt bestimmt wieder zum Vorschein«, meinte er. »Und ich prophezeie Ihnen, daß er dann Kopfschmerzen hat und ein paar Tage Urlaub nimmt.«

»Was hat er denn Ihrer Meinung nach gemacht?«

»Das will ich lieber nicht sagen.«

»Sie scheinen überhaupt sehr verschwiegen zu sein, Doktor.« Mason schenkte sich einen Whisky-Soda ein. »Soviel ich gehört habe, könnten Sie die Hälfte der Bewohner von Gallows Alley an den Galgen und die andere Hälfte lebenslänglich ins Zuchthaus bringen!«

»Wenn ich das könnte, würde ich es tun. Sie dürfen mir glauben, daß ich mich nicht zu diesen entsetzlichen Menschen hingezogen fühle.«

»Aber Gregory Wicks haben Sie doch gern?«

Ein Schatten glitt über das Gesicht des Arztes.

»Ja, den habe ich gern«, sagte er bedächtig.

»Er ist einer der anständigsten Leute, die in dieser Gegend wohnen«, begann Bray.

»Was ist eigentlich mit ihm los? Sie behandeln ihn doch?« fragte Mason.

Dr. Marford lächelte schwach.

»Ich behandle viele Leute, aber ich sage niemals etwas über sie, selbst wenn mich Polizeibeamte ausfragen.«

»Aber es ist doch etwas Besonderes mit ihm?« bestand Mason.

Der Doktor nickte.

»Man kann nicht sechsundsiebzig Jahre alt werden, ohne daß sich gewisse körperliche Beschwerden einstellen. Es treten Schwächen ein, für die es keine Medizin gibt. Das sind eben Alterserscheinungen. Ich bin immer erstaunt, wenn ich höre, was er bei seinen Jahren noch alles leistet. Und niemals habe ich ihn wirklich krank oder traurig gesehen. Er hat die lauteste Stimme im ganzen Bezirk, und ich kann bezeugen, daß er noch ein gefährlicher Gegner beim Boxen ist, denn ich habe den Mann behandelt, den er neulich knockout geschlagen hat. Aber warum interessieren Sie sich eigentlich so sehr für ihn?« Er warf Mason einen forschenden Blick zu. »Ich glaube fast, Sie sind gar nicht hergekommen, um mit mir über Dr. Rudd zu sprechen, sondern um etwas über Gregory Wicks zu erfahren. Es lebt hier ein Halbverrückter -- seinen Namen habe ich vergessen, aber er war früher Schuhputzer. Er hat eine fixe Idee über Gregory. Sooft ich durch Gallows Alley gehe, hängt sich der Mensch an mich und erzählt mir, daß mit Gregory Wicks etwas nicht in Ordnung sei -- vielleicht hat er Sie auch belästigt?«

Mason war verlegen. Es behagte ihm nicht, daß er durchschaut wurde.

»Gewiß -- er hat auch mit mir darüber gesprochen. Aber Sie halten mich doch hoffentlich nicht für so wenig intelligent, daß ich Sie mitten in der Nacht störe, um Sie deshalb auszufragen? Nein, ich interessiere mich nun mal für den alten Gregory.«

Dr. Marford saß hinter seinem Schreibtisch. Er hatte die Arme verschränkt und sah sehr müde aus.

»Dann fragen Sie ihn am besten selbst. Es tut mir leid, aber ich möchte nichts über ihn sagen. Es ist nicht nur eine Frage des Berufsgeheimnisses. Wenn ein höherer Polizeibeamter ein schweres Verbrechen aufzuklären hat, nehme ich darauf keine Rücksicht. Aber ich kann mir wirklich nicht denken, daß der arme, alte Gregory etwas Unrechtes getan haben könnte. Außerdem bin ich ihm auch persönlich verpflichtet.«

»Ist mit seinem Gesicht etwas nicht in Ordnung?«

Marford zögerte.

»Ja, so könnte man es vielleicht ausdrücken.« Er hob den Blick langsam zu Mason. »Sie wollen doch nicht etwa sagen« -- seine Lippen zuckten --, »daß der alte Mann mit Weißgesicht identisch ist?«

»Nein, das behaupte ich keineswegs«, entgegnete Mason schnell und vorwurfsvoll. »Ich bin nur neugierig. Dieser verrückte Mensch ist mir auf die Nerven gefallen -- ich gebe es zu. Ich werde Gregory am Morgen selbst fragen. Ich hätte es schon heute nacht getan, wenn ich nicht diesen Betrunkenen hätte stören müssen, der seit Mitternacht auf seiner Treppe schläft.«

»Ist es ein Mann mit einer roten Nase?« fragte Bray interessiert. »Den habe ich schon Öfters dort beobachtet. Ich gehe oft allein durch Gallows Alley -- das heißt, mehr oder weniger allein. Es ist ein betrunkener Mann mit einer roten Nase ...«

»Ich habe mir seine Nase nicht angesehen«, erwiderte Mason eisig. »Wahrscheinlich ist sie davon rot geworden, daß er sich um Dinge kümmerte, die ihn nichts angingen.«

»Meinen Sie?« fragte Bray, und Sergeant Shale wunderte sich über den geringen Verstand seines Vorgesetzten.

»Glauben Sie, daß jeder Mann, der eine Leinenmaske vor dem Gesicht trägt, ein Verbrecher ist?« fragte Marford ruhig. »Das tun Sie natürlich nicht, dazu sind Sie viel zu vernünftig. Ebensowenig glauben Sie, daß alle Chinesen schlechte Menschen sind. Ich frage Sie das, weil der Mann, von dem wir früher sprachen, heute abend hierherkommt.« Er schaute auf seine Uhr. »Und zwar in weniger als zehn Minuten.«

»Weißgesicht?« fragte Mason verblüfft.

»Er telefonierte kurz vor Ihrer Ankunft.«

»Sagen Sie, Dr. Marford«, mischte sich Bray wieder ein, »wie ist denn dieser Mann gekleidet, wenn er zu Ihnen kommt?«

Marford überlegte einen Augenblick.

»Gewöhnlich trägt er einen langen, schwarzen Mantel und einen dunklen, weichen Filzhut.«

»Ist der Hut schwarz?« fragte Bray eifrig.

»Möglich. Ich habe mich niemals genau darum gekümmert.«

»Warum kommt er denn so früh am Morgen?« fragte Mason.

»Er sagte, er wäre schon früher gekommen, wenn nicht so viele Polizisten auf der Straße gewesen wären. Ich berichte Ihnen genau, was er mir erzählte. Es spricht nicht gerade für ihn, daß er sich vor der Polizei fürchtet, aber er ist überempfindlich und zeigt sich nicht gerne.«

»Von wo aus hat er Sie denn angerufen?«

»Das weiß ich nicht.«

Der Doktor ging zu dem großen Fenster, zog den Vorhang beiseite und schaute auf die Straße hinaus.

»Dort draußen steht jemand. Ist das auch ein Polizeibeamter? Ach nein, es ist der junge Zeitungsreporter, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sagen Sie ihm doch, daß er hereinkommen soll.«

Mason gab Shale einen Wink, und dieser ging hinaus, um Michael Quigley einzulassen.

»Ich muß Sie aber darauf aufmerksam machen, daß Sie nicht alles schreiben dürfen, was Sie hören«, ermahnte ihn Mason. »Sie müssen diskret sein. Und in dieser Beziehung kann ich mich ja auf Sie verlassen.«

»Um was handelt es sich denn?«

»Um Weißgesicht«, erklärte Mr. Bray und räusperte sich verlegen, als ihn Masons Blick traf.

»Ja, es handelt sich um jemand, der ein weißes Tuch vor dem Gesicht trägt, um einen Mann, der hier und sonstwo schon gesehen worden ist. Ich glaube, Sie sind ihm im Howdah-Klub begegnet. In den nächsten Minuten wird er hier sein. Er wird allerdings nicht gern mit so vielen Leuten zusammentreffen wollen«, wandte er sich an Marford, »aber Sie sehen doch ein, daß ich ihm einige Fragen stellen muß.«

Der Doktor beschäftigte sich mit einer Quarzlampe, die er mitten ins Zimmer rückte. Er nickte.

»Ich kann nur wiederholen, daß der Mann sehr scheu ist. Aber wenn ich schon jemand im Interesse der Justiz betrügen soll, so kann ich das ja schließlich auch mit ihm tun. Ich bin allerdings auf eine solche Handlungsweise nicht sehr stolz.«

Er rückte die Lampe näher an den Schreibtisch und schaltete sie ein. Ein grüner Lichtkreis erschien auf dem Boden, in dem sich die Schatten der anderen Lichter rötlich färbten. Marford drehte die Lampe wieder aus und erklärte, daß sie nicht an das elektrische Netz angeschlossen sei, sondern einen eigenen Akkumulator habe.

»Ich muß Sie noch darauf aufmerksam machen«, sagte er, »daß der Mann eventuell nicht hereinkommen will. Das letztemal fiel es mir schon sehr schwer, ihn dazu zu überreden.«

»Welchen Weg kommt er gewöhnlich?«

»Über den Hof und durch den hinteren Gang zu dieser Tür.« Er zeigte auf den Ausgang neben dem Medizinschrank. »Er gibt immer ein besonderes Klingelzeichen -- zweimal lang und zweimal kurz. Das habe ich selbst so mit ihm vereinbart. Wenn er von Ihnen etwas sieht oder hört, werde ich ihn niemals hereinbringen.«

Mason ging zur Tür und drückte die Klinke herunter. Sie war verschlossen. Als alle aufs höchste gespannt waren, klingelte plötzlich das Telefon. Marford nahm den Hörer ab.

»Ja, Dr. Marford ist am Apparat ... es geht ihr besser? Das freut mich ... ja, er ist hier ... gewiß!« Er reichte Mason den Hörer. »Mrs. Weston hat ihr Bewußtsein zurückerlangt. Sie möchte zur Polizeiwache kommen, um mit Ihnen zu sprechen.«

Mason lauschte einige Zeit und gab nur einsilbige Antworten. Als er den Hörer auflegte, sah er sehr nachdenklich aus.

»Ich glaube, das war Elk. Ich habe ihn an der Stimme erkannt. Sie will mich tatsächlich auf der Wache sprechen. Ich möchte nur wissen, ob ich Elk noch rechtzeitig herbringen könnte. Er würde sich sehr für Weißgesicht interessieren, denn er ist ihm heute abend schon einmal begegnet.«

»Vielleicht ist noch Zeit --«, begann Marford, als plötzlich« eine schrille Glocke ertönte.

Zweimal lang, zweimal kurz.

Die Anwesenden sahen sich betroffen an.

»Jetzt kommt also Weißgesicht?« fragte Mason mit heiserer Stimme. Mechanisch faßte er nach seiner Hüfttasche. Bray beobachtete es mit Genugtuung. Es war also wahr, daß der Chefinspektor stets eine Feuerwaffe bei sich trug. Michael Quigley überlief ein Schauder, als Mason seine Anordnungen traf.

»Bray und Shale -- hinter die Vorhänge! Michael, Sie gehen besser in die Diele. Ich selbst verstecke mich hinter dem Schreibtisch, wenn Sie nichts dagegen haben, Dr. Marford.«

»Und was soll ich tun?« fragte der Arzt.

»Lassen Sie ihn herein. Das genügt. Ich werde schon dafür sorgen, daß er nicht wieder hinauskommt. Aber Sie können uns helfen, indem Sie die Tür sofort wieder hinter ihm zuschließen.«

Marford nickte. Er schloß auf und öffnete die Tür langsam.

Mason sah von seinem Versteck aus, daß er lächelte.

»Guten Abend -- wollen Sie nicht hereinkommen?«

Er trat auf den Gang hinaus, und sie konnten ihn nicht mehr sehen. Sie hörten Stimmen, vermochten aber nicht zu verstehen, was gesprochen wurde. Die eine Stimme klang so undeutlich, als ob jemand hinter einer Maske spräche.

»Aber mein Verehrter, ich habe Ihnen niemals versprochen, daß ich ganz allein sein werde«, hörten sie Marford sagen.. »Sie brauchen sich doch nicht zu fürchten -- kommen Sie herein.«

Mason hielt vor Spannung den Atem an. Plötzlich wurde die Türe zugeschlagen und von außen ein Riegel vorgeschoben.

»Hilfe! Hilfe!« schrie Marford im nächsten Augenblick. »Mason -- Mason -- um Himmels willen, helfen Sie mir!«

Dann gellte ein furchtbarer Schrei durch das Haus, der ihnen das Blut in den Adern erstarren ließ.

Mason sprang sofort auf, aber als er die Tür fast erreicht hatte, ging das Licht aus. Aus dem Korridor hörten sie schwache Geräusche, als ob dort ein Handgemenge im Gange wäre.

»Bray, gehen Sie schnell zur Haustür -- Shale, begleiten Sie den Inspektor.«

Aber die beiden fanden die Zimmertür von außen verschlossen und konnten sie nicht öffnen, so sehr sie sich auch abmühten.

In der Dunkelheit konnten sie sich nur schwer zurechtfinden. Mason ergriff einen Stuhl und schlug damit gegen die Türfüllung. Plötzlich fiel Bray die Quarzlampe ein. Er suchte nach dem Schalter, fand ihn, und das gespensterhafte grüne Licht erschien wieder auf dem Fußboden. Sie konnten jetzt jedenfalls genügend sehen, um die Türfüllung einzuschlagen. Bray faßte durch die Öffnung und zog den Riegel zurück, aber es zeigte sich, daß die Tür weiter unten noch einmal gesichert war. Es dauerte noch einige Minuten, bis auch die dritte Füllung zusammenbrach.

Mason eilte zuerst in den Gang hinaus, sah aber niemand mehr. Die Tür am Ende stand weit offen -- aber auch im Hof war kein Mensch zu entdecken.

»Hier sind Blutspuren«, sagte er. »Marford ist verschwunden. Können Sie nicht die Lampe herausbringen?«

Shale mühte sich mit der Quarzlampe ab, und es gelang ihm unter großer Anstrengung, sie auf den Gang hinauszubringen. An den Wänden und auf dem Fußboden des Ganges zeigten sich unregelmäßige Flecken. Der Doktor und der Angreifer waren verschwunden.


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