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Nur ein Mann in Gallows Alley hatte Gregorys Mieter gesehen. Als bekannt wurde, daß die Polizei jetzt verhören wollte, verschwanden die Leute wieder in ihren Häusern. Nur der halbverrückte Mann blieb auf der Straße.
»Habe ich Ihnen das nicht schon vorher gesagt?« schrie er, als er Mason sah. »Etwas stimmt nicht bei Gregory. Ich wußte es. Und ich wette, daß es Dr. Marford auch wußte. Aber der hätte ihn nicht verraten. Ist es wahr, daß sie den Doktor verschleppt haben? Jemand wird kaltgemacht, wenn sie ihm ein Haar krümmen ... alle Leute in Gallows Alley werden hinter ihm her sein und ihn hierherbringen ... dann stecken sie ihn in einen Keller und bringen ihn um.«
Der Mann grinste den Chefinspektor tückisch an.
»In diesem Fall komme dann ich und nehme mir die Leute vor, die das getan haben!« erwiderte Mason. »Und die sterben dann auch. Nein, ich weiß nicht, wer den Doktor fortgebracht hat.«
»Ich hörte, wie er um Hilfe schrie. Es war schrecklich. Und dann fuhr der Wagen fort«, flüsterte der Mann. »Wenn wir gewußt hätten, daß es der Doktor war, wären wir hinter ihm hergewesen.«
»Wer ist denn eigentlich der Mieter vom alten Gregory?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Er ist groß und schlank -- mehr weiß ich nicht. Ich habe ihn ein paarmal ins Haus gehen sehen, gewöhnlich nachts. Aber ich habe ihn niemals aus nächster Nähe betrachtet. Er hat nicht in dem Haus geschlafen -- der alte Gregory glaubte es wohl, aber es stimmte nicht.«
Das kam der Wahrheit so nahe, daß Mason sich jetzt doch geneigt fühlte, den Mann ernst zu nehmen. Aber der Alte sagte nichts mehr.
Inspektor Bray hatte wenigstens einen Vorzug: er konnte ausgezeichnet und schnell telefonieren. Bevor Mason die Klinik verließ, wußte Scotland Yard bereits alle Einzelheiten über das Taxi Nr. 93 458, besaß die genaue Beschreibung, kannte Farbe, Modell und die Richtung, in der der Wagen davongefahren war. Die Beamten waren auch darüber informiert, daß Dr. Marford entführt und daß der Chauffeur ein Untermieter von Gregory Wicks war.
Der Fernschreiber im Polizeipräsidium arbeitete unausgesetzt, um diese Neuigkeiten allen Revieren bekanntzugeben.
Als Mason wieder auf die Wache kam, fand er dort Lorna Weston vor. Aber sie war noch in einem so apathischen Zustand, daß sie nicht fähig war, eine Aussage zu machen. Sie wiederholte nur immer wieder, daß sie mit dem Chefinspektor sprechen müsse. Mason wunderte sich, daß man sie in dieser Verfassung aus dem Krankenhaus entlassen hatte, und übergab sie der Obhut der Wärterin. Dann erkundigte er sich bei Bray, ob neue Berichte eingelaufen seien.
»Nein, aber ich glaube, ich halte es jetzt nicht mehr aus. Ich muß mich legen. Schließlich bin ich doch auch nur ein Mensch.«
»Nein, das sind Sie nicht«, erwiderte Mason scharf. »Sie sind Polizeibeamter und noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden im Dienst. Auf jeden Fall müssen Sie noch weitere vierundzwanzig Stunden die Augen aufhalten. Die ersten achtundvierzig Stunden sind das schlimmste, nachher wacht man schon von ganz allein.«
»Ich nehme an, daß dieser Kerl das Auto direkt in die Themse gefahren hat ...«
»Ja, ja, das glaube ich auch. Vielleicht ist er auch ins Britische Museum gefahren. Sie können ja dort anfragen.«
Inspektor Bray dachte darüber nach.
»Nein, ich glaube doch nicht, daß er ins Britische Museum --«
Mason zeigte zur Tür. Es war ihm unmöglich, Inspektor Brays Gegenwart noch länger zu ertragen.
Er ging wieder in das kleine Büro des Inspektors, wo jetzt die verschiedenen Gegenstände auf dem Tisch lagen, die man in dem Zimmer von Gregorys Untermieter gefunden hatte. Da stand ein großer Zinnkasten, halb gefüllt mit Platinschmuck, aus dem die Steine herausgebrochen waren. Als Mason in ihm herumkramte, fand er noch allerhand Werkzeuge, wie sie sonst nur Goldschmiede und Juweliere brauchen. Weißgesicht hatte also stets die Steine aus den Schmucksachen gelöst, die ihm bei seinen verschiedenen Raubüberfällen in die Hand fielen. Es war merkwürdig, daß er das Platin nicht verkauft hatte. Er mußte sich sehr sicher gefühlt haben unter dem Schutz des alten Gregory, dessen allbekannte Ehrlichkeit die beste Empfehlung für ihn selbst war.
Man hatte den Raum auch nach Schußwaffen abgesucht und vorsichtshalber in der Personalbeschreibung vermerkt, daß der Mann vielleicht einen Revolver bei sich trüge. Aber nirgends fand sieh eine Bestätigung dieser Vermutung. Man entdeckte weder Patronen noch Patronenschachteln, und außer dem blutigen Dolchmesser war keine Waffe im Zimmer zu finden.
In einer Schublade stießen die Beamten auf eine Pappschachtel mit weißen Baumwollhandschuhen und einem Dutzend, weißer Tücher, in die Löcher für die Augen geschnitten waren. An allen Tüchern waren Gummibänder befestigt, und der Rand war mit Fischbein verstreift, so daß man sie bequem anlegen konnte.
Weißgesicht schien gut versorgt zu sein. Er besaß auch noch zwei lange, schwarze Umhänge, die anscheinend aus dem Ausland stammten, und drei Paar Gummischuhe. Aber das Merkwürdigste war eine Holzpistole. Sie war so gut nachgeahmt, daß selbst Mason sich täuschen ließ, bis er sie in die Hand nahm, und die Imitation erkannte.
Er war davon überzeugt, daß Weißgesicht keine anderen Waffen besaß und daß er auch bei seinen Überfällen diese Scheinpistole benützt hatte.
*
Elk war in dem anderen Zimmer halb eingeschlafen, als Mason eintrat.
»Wissen Sie, woran ich gerade dachte?«
»Was, Sie denken auch?« brummte Mason. »Na, schießen Sie los.«
»Selbst wenn wir Weißgesicht fangen, weiß ich jemand, durch dessen Aussagen er entlastet wird. Man kann es betrachten, wie man will, es kommt immer auf das gleiche hinaus. Wir können ihn nicht überführen, solange Lamborn bei seinen blödsinnigen Aussagen bleibt.«
»Ach ja!« Mason verzog das Gesicht. »Das ist doch der Taschendieb! Hm!«
Er dachte einige Zeit nach.
»Sie haben ganz recht, Elk«, sagte er schließlich. »Bei der Aussage, die der Kerl gemacht hat, wird eine Verurteilung kaum möglich sein. Immerhin könnten sich ja die Geschworenen unseren Standpunkt zu eigen machen, aber man kann sich nicht darauf verlassen.«
»Die Geschworenen hören auf alle Leute, nur nicht auf die Polizei. Diese Menschen haben überhaupt keinen Verstand ...«
»Wir wollen nicht weiter darüber reden«, wehrte Mason ab.
Er nahm einen Schlüssel von der Wand und ging durch den Korridor zu Lamborns Zelle, hob die Klappe hoch und schaute hinein. Der Mann lag auf seiner Pritsche und hatte zwei Decken über sich gezogen. Er war wach, und bei dem Geräusch wandte er den Kopf.
»Hallo, Lamborn, haben Sie gut geschlafen?« fragte der Chefinspektor.
Der Gefangene blinzelte ihn an, richtete sich dann aber auf.
»Wenn es überhaupt noch ein Gesetz in diesem Lande gäbe, dann wären Sie schon längst ohne Pension entlassen worden für all das, was Sie mir angetan haben!«
»Haben Sie sich noch nicht beruhigt?«
Mason schloß die Tür auf.
»Kommen Sie heraus und trinken Sie Kaffee mit mir.«
»Das tue ich nicht -- ich weiß, daß die Polizei schon viele Leute vergiftet hat«, erwiderte Lamborn argwöhnisch.
»Ein bißchen Strychnin tun wir immer hinein -- aber das ist nicht gefährlich.«
Mason führte den Mann durch den langen Korridor zu einem kleinen Zimmer. Als Lamborn das verbundene Gesicht Elks sah, grinste er vergnügt.
»Hallo, haben Sie eins an den Ballon gekriegt?« fragte er. »Manchmal werden also doch stille Gebete erhört. Ich hoffe, daß Sie nicht ernstlich verletzt sind, Mr. Elk?«
»Sie meinen natürlich gerade das Gegenteil«, erwiderte Elk. »Setzen Sie sich, Sie armseliger Halunke!«
»Ich wünsche wirklich nicht, daß Sie schon das Zeitliche segnen -- Blumenkränze sind augenblicklich ziemlich teuer.«
Lamborn ließ sich, immer noch grinsend, auf einem Stuhl nieder, und als der Kaffee gebracht wurde, füllte er sich die halbe Tasse mit Zucker.
»Na, haben Sie den Mörder nun erwischt?« fragte er vergnügt.
»Sie haben wir ja gefaßt, Harry«, erwiderte Mason ebenso.
Lamborn brummte.
»Sie können mir nicht das geringste nachweisen. Höchstens wenn Sie Ihren Beamten wieder befehlen, Meineide zu leisten. Wenn Sie dann ein halbes Dutzend Ihrer Kreaturen als Zeugen aufmarschieren lassen, können Sie alles beweisen. Aber es gibt noch einen Gott im Himmel!«
»Wo haben Sie denn das Deklamieren so schön gelernt?«
Lamborn zuckte die Schultern.
»Wenn ich im Gefängnis bin, lese ich immer Gedichtbücher. Man hat länger daran, weil man es nicht so genau versteht.«
Er schlürfte seine Tasse leer, setzte sie geräuschvoll auf den Tisch und neigte sich dann zu Mason hinüber.
»Sie haben nicht die geringste Aussicht, daß Sie mir etwas beweisen können. Das habe ich mir schon die ganze Zeit in meiner Zelle überlegt.«
Mason sah ihn an und lächelte mitleidig.
»In dem Augenblick, in dem Sie anfangen zu denken, Harry, haben Sie das Spiel schon verloren. Das können Sie ebensowenig wie eine Kuh das Seilspringen. Dazu sind Sie nicht geboren. Übrigens habe ich gar nicht die Absicht, Ihnen den Mord nachzuweisen.« Mason sprach jetzt sehr ernst, und es gelang ihm dadurch, auf Lamborn Eindruck zu machen; »Ich will weiter nichts erreichen, als daß Sie die Wahrheit sagen. Glauben Sie denn, ich würde mir soviel Mühe machen, um einen kleinen Taschendieb ins Gefängnis zu bringen? Seien Sie doch vernünftig, Harry. Ein Chefinspektor von Scotland Yard kommt doch nicht nach Tidal Basin und opfert seine Nachtruhe, um einen so belanglosen Menschen wie Sie zu überführen! Das wäre ja gerade so, als ob man ein Kriegsschiff aufbieten würde, um einen kleinen Fisch totzuschießen!«
Lamborn konnte sich dieser Logik nicht verschließen.
»Ja, das wäre natürlich sehr komisch«, sagte er.
»Komisch? Einfach lächerlich! Ich muß doch irgendeinen Grund haben, wenn ich die Wahrheit von Ihnen hören will, und ohne Grund verspreche ich Ihnen doch auch nicht, daß ich keine Anklage gegen Sie erheben will. Nehmen Sie doch Ihren Verstand zusammen und sagen Sie mir, warum ich mir soviel Mühe geben sollte, wenn nichts dahintersteckte!«
Lamborn vermied es, ihn anzusehen.
»Es kommt mir wirklich komisch vor«, wiederholte er.
»Dann lachen Sie doch wenigstens«, brummte Elk.
Lamborn achtete aber nicht auf ihn. Er legte die Stirn in Falten und schaute auf die Tischplatte. Offenbar dachte er tief nach, um zu einem Entschluß zu kommen.
»Nun gut, Chef, die Wette gilt«, sagte er nach einer Weile. Er streckte die Hand aus, und Mason ergriff sie. Mit diesem Händedruck schlossen sie einen Vertrag.
»Ich habe seine Taschen geleert -- das gebe ich zu. Ich sah, wie er umfiel und hielt ihn für betrunken. Als ich zu ihm kam, wunderte ich mich fast zu Tode, daß es ein so vornehmer Herr war.«
»Er lag auf der Seite und hatte das Gesicht von der Laterne abgekehrt -- stimmt das?« fragte Mason.
Lamborn nickte.
»Nun erklären Sie mir einmal ganz genau, wie Sie es machten -- einen Augenblick.«
Er rief Inspektor Bray.
»Legen Sie sich einmal auf den Boden«, sagte er zu ihm. »Ich möchte den Fäll rekonstruieren.«
Bray warf einen bezeichnenden Blick auf Elk.
»Der Sergeant kann sich doch nicht hinlegen, wenn er eine Verletzung am Kopf hat«, fuhr Mason den Inspektor ärgerlich an.
Bray kniete umständlich nieder und legte sich auf den Boden. Lamborn trat zu ihm und zeigte, wie er es gemacht hatte.
»Also, es war so. Ich öffnete seinen Mantel -- sehen Sie, so und dann steckte ich meine Hand in die innere Tasche ...«
»Links oder rechts?« fragte Mason.
»Links. Dann habe ich seine Uhr genommen -- ich mache das immer mit dem kleinen Finger -- sehen Sie, so.«
Seine Hände bewegten sich schnell, und im nächsten Augenblick hielt er Mr. Brays Brieftasche in den Fingern. Als er sie herauszog, fiel die Fotografie eines hübschen Mädchens auf den Boden. Bray nahm sie rasch auf und steckte sie wieder ein.
»Und dabei ist der Mann verheiratet«, sagte Elk entrüstet. Bray wurde rot.
»Schon gut, stehen Sie wieder auf«, befahl Mason.
Er nahm ein Blatt Papier und schrieb schnell einige Zeilen nieder. Als er fertig war, reichte er Lamborn das Schriftstück, der es durchlas und unterzeichnete.
»Warum wollten Sie das denn nun wissen?« fragte er. »Was hat das mit dem Mord zu tun?«
Mason lächelte.
»Das können Sie alles in den Abendzeitungen lesen -- ich werde dafür sorgen, daß Ihre Fotografie veröffentlicht wird. Lassen Sie den Mann frei, Bray, und ziehen Sie die Anklage zurück. Lamborn, morgen früh müssen Sie zum Polizeigericht kommen, aber Sie brauchen nicht auf der Anklagebank Platz zunehmen.«
»Sie ist das einzige, was er von den Polizeigerichten bisher kennengelernt hat«, erklärte Elk im Brustton der Überzeugung.
Lamborn reichte dem Chefinspektor und Elk verzeihend die Hand.
»Noch eins, Harry«, sagte Mason. »Sie bekommen Ihre Sachen alle zurück, natürlich mit Ausnahme des zusammenlegbaren Stemmeisens, das wir in Ihren Taschen gefunden haben. Ich habe es Ihnen. noch nicht gesagt, aber eigentlich wollte ich auch noch eine Anklage wegen versuchten Einbruchs gegen Sie erheben. Nun kann man Ihnen ja gratulieren, daß Sie mit einem blauen Auge davongekommen sind!«
Lamborn sah zu, daß er schleunigst auf die Straße kam. Zu Hause legte er sich ins Bett, aber er mußte immer noch über Masons sonderbares Verhalten nachdenken. Vergebens bemühte er sich, eine Erklärung dafür zu finden, daß man ihn auf freien Fuß gesetzt hatte. Er wurde an den Methoden der englischen Polizei irre.