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22

In der Kabine der ›Seabreaker‹ lag Verity Bell. Sie fühlte sich noch sehr schwach, lächelte aber zufrieden, als sie die Augen aufschlug. Comstock saß neben ihr. Der Dampfer hatte die Fahrtrichtung geändert und fuhr jetzt den Strom hinauf. Gold, der neben dem Kapitän auf der Brücke stand, sprach kein Wort. Er hatte alle Küstenstationen benachrichtigt und war gespannt, ob es noch gelingen würde, das Motorboot aufzuhalten. Auch die französischen und belgischen Küstenstationen waren bereits alarmiert.

Draußen heulte ein starker Nordwestwind.

Verity hatte Comstock schon seit einiger Zeit aus halbgeschlossenen Augen betrachtet, noch bevor er merkte, daß sie wieder zum Bewußtsein gekommen war. Sie sah die harten Linien, die der Gefängnisaufenthalt in sein Gesicht gezeichnet hatte, las aber auch Befriedigung und Erleichterung in seinem Blick.

Was sollte nun werden? Sie war bereit, auch der schlimmsten Möglichkeit entschlossen entgegenzutreten. Was mochte ihr die Zukunft bringen? Irgendeine Lösung mußte man finden – so oder so.

Mit einem Lächeln öffnete sie die Augen.

»Nun?« fragte sie freundlich.

»Du warst wohl sehr überrascht, mich hier wiederzusehen?« begann er. Eine merkwürdige Scheu hielt ihn davon ab, sie bei ihrem Namen zu nennen.

»Nein«, erwiderte sie ruhig.

Ein langes Schweigen trat ein.

»Mein Onkel ...«, fuhr sie schließlich fort, »ist er – tot?«

Comstock Bell nickte traurig.

»Ich habe es befürchtet«, sagte sie leise. »Er war so gut zu mir.« Ihre Augen standen voll Tränen. »Jetzt bin ich –« sie brach ab und weinte fassungslos.

»Du wolltest sagen, daß du jetzt ganz allein bist.« Comstock Bell nahm ihre schlaff herabhängende Hand in die seine. »Und doch hast du kein Recht dazu – wir sind verheiratet.«

Sie sah ihn bedrückt an.

»Es wäre mir lieber gewesen, du hättest es jetzt nicht erwähnt«, erwiderte sie traurig. Ihr Blick ging an ihm vorbei. »Was ist das schon für eine Ehe, die wir führen!«

Er nickte. Es war totenstill im Raum, nur das gleichmäßige Stampfen der Maschinen ließ ab und zu die Fensterscheiben erzittern.

»Du hast recht«, entgegnete er schließlich. »Aber glaubst du denn, eine Scheidung wäre der einzige Weg für uns? Sicher, du wärst damit einverstanden, weil du denkst, ich wollte dich wieder loswerden ... Denkst du das denn wirklich?«

Sie wurde rot.

»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete sie leise. »Und doch, ich kann nicht einfach deine Frau bleiben, nur weil ich einmal Gelegenheit hatte, dir zu helfen. Reden wir doch ganz offen darüber – schließlich ist es uns beiden klar, daß wir einander nicht aus Liebe geheiratet haben. Du hast mich schon öfter gefragt, warum ich überhaupt mit dieser Ehe einverstanden war. Nun, als ich erfuhr, daß du für Willetts ins Gefängnis gehen wolltest, um euer beider Schuld zu sühnen, dachte ich mir, daß auch ich meinen Teil dazu beitragen könnte. Anstelle meines Onkels wollte auch ich etwas gutmachen ... Und jetzt, jetzt muß ich daran denken, daß einmal eine Zeit kommen könnte, in der ich mich richtig in jemand verliebe ...«

Sie senkte den Blick, doch er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und sah sie voll an.

»So darfst du nicht reden! Vielleicht haben wir uns nicht geliebt, als wir uns heirateten – inzwischen ist aber viel Zeit vergangen, und ich wußte schon im Gefängnis, daß ich nicht mehr ohne dich leben kann. Du sagst, es könnte sein, daß du dich einmal verliebst – willst du dich nicht in mich verlieben?« Sie erwiderte nichts, mußte aber doch ein wenig lächeln.

»Du hast ein großes Risiko für mich auf dich genommen«, fuhr er mutiger geworden fort. »Willst du noch ein wenig mehr riskieren – daß du dich in mich verliebst, wenn du dich einmal verliebst?«

Sie sah ihn lange an, dann drückte sie fest seine Hand.

»Ja, ich will es tun.«

*

In der Nordsee kämpfte sich ein Motorboot durch einen Sturm voran, der dauernd heftiger wurde.

Die drei Männer an Bord taumelten hin und her. Helder und Tiger Brown hielten beide krampfhaft das Steuerruder umklammert.

»Schauen Sie sich die Wellen an! Das Wetter wird immer schlimmer!« brüllte Brown. Der Sturm riß ihm die Worte vom Mund.

Helder schüttelte grimmig den Kopf.

»Wir sind alle drei keine Seeleute – wenn es so weitergeht, bleibt uns nichts übrig, als umzudrehen.«

Das Motorboot zitterte in allen Fugen, als eine mächtige Welle den Bug in einen gischtenden Schaumberg verwandelte.

Verzweifelt schaute Helder zurück. Am Horizont sah er gerade noch den gelben Lichtstreifen des Leuchtschiffes, das sie an der Themsemündung passiert hatten.

Eine neue Welle traf das Boot von der Seite, so daß es sich schwer überlegte. Es hatte keinen Sinn, sie konnten die Fahrt über den Kanal jetzt nicht wagen.

»Wir müssen umkehren«, sagte Helder achselzuckend. »Am besten, wir versuchen irgendeine einsame Stelle an der Küste anzulaufen. Die Themse wieder hinaufzufahren, wäre viel zu gefährlich. – und in vier Stunden wird es hell.«

Tiger Brown und Clinker nickten schweigend. Es blieb ihnen keine andere Wahl.

Das Glück war ihnen wenigstens so weit günstig, daß es ihnen gelang, eine verhältnismäßig versteckte Bucht zu finden, in der sie eine Landung wagen konnten. Um fünf Uhr morgens knirschte der Kiel des Bootes im Sand.

»Was soll aus dem Kahn werden?« fragte Tiger Brown.

Helder zögerte; er trennte sich nicht gern von dem Boot, das für ihn fast die letzte Hoffnung darstellte, England unbemerkt zu verlassen. Aber dann machte er sich klar, daß es im Laufe des Tages doch von der Küstenwache entdeckt werden würde. Er mußte das Boot opfern.

Sie drehten es mühsam mit dem Bug zur See, laschten das Steuer fest und stellten den Motor auf volle Fahrt. Nach wenigen Minuten war es ihren Blicken hinter einem Regenvorhang entschwunden. Stumm sahen sie ihm nach.

Helder und seine Begleiter waren bis auf die Haut durchnäßt. Niedergeschlagen machten sie sich auf den Weg landeinwärts. Kein Mensch begegnete ihnen, und nach einer halben Stunde erreichten sie das Dorf Little Clacton.

Hier trennten sie sich. Jeder von ihnen hatte in der Brieftasche eine Geldsumme, die ein kleines Vermögen darstellte.

»Wohin gehen Sie?« fragte Brown.

»Nach London«, entgegnete Helder. »Vielleicht gelingt es mir, mich doch noch zum Kontinent durchzuschlagen.«

»Gut. Wir werden uns zunächst einen Schlupfwinkel suchen. Auf Wiedersehen in Amerika – oder im Kittchen.«

Helder kehrte ihnen den Rücken und machte sich auf den Weg zur Bahnstation. Wieder blieb ihm sein altes Glück treu – als er dort ankam, verließ eben ein Güterzug den Bahnhof in Richtung Colchester. Er lief nebenher und schwang sich mit letzter Kraft auf einen der Güterwagen.

Seine Zähne klapperten vor Kälte, doch er achtete nicht darauf. Würde ihm die Flucht gelingen?

Wenn der Zug unterwegs nicht anhielt, mußte er in einer Stunde in Colchester sein. Und es war ziemlich unwahrscheinlich, daß er auf kleineren Stationen haltmachte.

Er hatte mit seiner Vermutung recht; nach nicht allzulanger Zeit stand der Zug vor einem Haltesignal außerhalb von Colchester. Vorsichtig sprang er aus dem Wagen, ging querfeldein und erreichte ohne Zwischenfall die Stadt.

Einige Leute, die auf dem Weg zu ihren Arbeitsstätten waren, begegneten ihm. Der Morgenwind blies heftig, und Helder war bis auf die Knochen durchfroren. Die Leute würden aussagen, daß sie ihn hier gesehen hatten.

Etwas später traf er einen Mann, der rasch ausschritt und dabei ein Liedchen pfiff. Helder hielt ihn an.

»Entschuldigen Sie ...«, begann er.

Der Mann wartete und betrachtete Helder argwöhnisch.

»Wollen Sie sich etwas verdienen?« fragte Helder.

»Sicher«, sagte der Mann. Aber es klang nicht gerade begeistert.

»Ich hatte eine Havarie an meinem Motorboot«, erzählte Helder. »Mußte landen und fünf Meilen querfeldein gehen. Was ich brauche, ist eine Unterkunft und trockene Kleider.«

»Es gibt genug Hotels in der Stadt«, antwortete der Mann brummig.

Helder zerstreute seine Bedenken.

»Ich möchte aber in kein Hotel gehen. Man soll nicht wissen, daß ich hier bin. Ich habe meine Gründe dafür. Irgendwelche trockene Kleider genügen mir.«

Er zog seine Brieftasche heraus und zeigte dem Mann zwei Fünfpfundnoten.

»Kommen Sie mit in meine Wohnung«, sagte dieser, plötzlich höflicher geworden.

Er führte Helder ein Stück zurück in eine kleine Nebenstraße zu einem einzeln stehenden Haus. Sie traten ein, und Helder wurde in ein Wohnzimmer geführt.

»Ich sage rasch meiner Frau Bescheid. Sie wird bestimmt einen passenden Anzug für Sie finden.«

Der Raum war nicht geheizt, aber Helder fühlte sich hier behaglich im Gegensatz zu seinem Aufenthalt im Eisenbahnwaggon und auf freiem Feld. Der Mann kam nach einiger Zeit mit einem Bündel Kleider unter dem Arm zurück, die er auf dem kleinen Sofa ausbreitete.

»Bitte suchen Sie sich aus, was Sie brauchen. Meine Frau macht gerade eine Tasse Tee für Sie.«

Er ging wieder hinaus, und Helder zog rasch einen noch recht gut erhaltenen Anzug an, den ihm der Mann gebracht hatte.

Helder sah in seiner neuen Kleidung vollkommen verändert aus. Der Anzug paßte besser, als er gedacht hatte. Er band sich noch einen wollenen Schal um den Hals, und man konnte ihn nicht mehr von einem gewöhnlichen Arbeiter unterscheiden. Seine Brieftasche und die anderen kleinen Gegenstände, die in seinem eigenen Anzug steckten, nahm er heraus und suchte noch einmal alle Taschen durch, um nicht später der Polizei einen Hinweis zu geben. Inzwischen brachte die Frau den Tee und machte Feuer an.

»Ich möchte nicht, daß über die Sache gesprochen wird«, sagte Helder zu dem Mann. »Man glaubt allgemein, ich sei in London, und es wäre mir unangenehm, wenn bekannt würde, daß ich mich hier in der Gegend herumtreibe.«

Der Mann nickte und zwinkerte verschmitzt mit den Augen.

»Sie können sich auf mich verlassen«, erwiederte er. »Was soll mit Ihren Kleidern geschehen?«

»Die können Sie behalten.«

Helder trank Tee und aß zwei dicke Scheiben Toast.

Es war inzwischen hell geworden, und er ging rasch zum Bahnhof und löste eine Arbeiterfahrkarte nach Romford. Dort stieg er in einen Vorortzug Richtung London.

Um acht Uhr kam er auf dem Liverpool-Street-Bahnhof an. Die Straßen waren von Arbeitern bevölkert, die zu den Fabriken strömten.

Es war ihm klar, daß er die City möglichst vermeiden mußte; er ging also in östlicher Richtung weiter und kaufte in einem Laden für Gebrauchtwaren einen dicken Mantel und einen Hut, wie er sie früher nie getragen hatte. Auf Umwegen erreichte er New Cross, die Station, auf der die Personenzüge in Richtung Dover halten.

Wieder hatte er Glück. Es war alles einfacher, als er gedacht hatte. Er war auf einmal todmüde von den Anstrengungen der vergangenen Nacht.

Bis Ashford schlief er ein wenig und stieg dann aus dem Zug, der hier einige Minuten Aufenthalt hatte. Er aß am Eisenbahnbüfett eine Kleinigkeit und kaufte sich rasch eine Zeitung.

Es war die neueste Morgenausgabe, die mit großen Schlagzeilen von dem Ende der Fälscherbande berichtete.

Helder biß die Zähne zusammen, als er seinen Namen las. Und dann erschrak er – das Motorboot war von einem Küstenwachschiff aufgefischt worden, und die Polizei kombinierte richtig, daß die drei Verbrecher wieder aufs Festland zurückgekehrt waren.

Alle Zugs wurden überwacht, sämtliche Kanalhäfen kontrolliert – jetzt war seine Lage katastrophal.

Während er versuchte, zu einem Entschluß zu kommen, hielt ein Zug nach London vor seiner Nase. Er faßte es als einen Fingerzeig des Schicksals auf und stieg ein, obwohl er wußte, daß der Zug erst am Waterloo-Bahnhof halten würde.

Seine ganze Hoffnung bestand darin, daß die Polizei ihre Aufmerksamkeit wahrscheinlich eher auf die Züge konzentrierte, die nach den Küstenstationen fuhren.

Das Glück blieb ihm treu. Der Bahnhof wurde zwar von einem halben Dutzend Kriminalbeamten bewacht, aber keiner entdeckte ihn.

Mit der Untergrundbahn fuhr er quer durch London und erreichte High Gate. Hier kaufte er verschiedenes ein, vor allem einen Koffer und einen zweiten Anzug. Mit diesen Sachen fuhr er wieder nach Südlondon zurück und stieg dort in einen Vorortzug Richtung Sydenham. In einem leeren Eisenbahnabteil wechselte er seine Kleider und veränderte mit einer dicken Hornbrille sein Aussehen so sehr, daß man ihn kaum wiedererkennen konnte.

Wentworth Gold und ganz Scotland Yard waren ihm auf den Fersen. Er wußte, daß seine Chancen hundert zu eins standen.

Am Nachmittag um fünf Uhr wurden Tiger Brown und Clinker in Brentford verhaftet. Bei ihrem Verhör kam wenig heraus, was die Polizei nicht schon wußte. Natürlich hatten sie keine Ahnung, wohin Helder flüchten wollte.

»Ich möchte wetten, daß er in London war«, erklärte Gold. »Wir müssen jetzt nur aufpassen, daß er sich nicht wieder bis zur Küste durchschlägt.«

Helder ging sehr geschickt vor. Er benützte nie einen Schnellzug, sondern entfernte sich durch kleine Fahrten mit Vorortzügen immer weiter von der Hauptstadt. Mit einem Bummelzug erreichte er Reading, führ dann nach Fishguard und kam gerade Zur rechten Zeit in diesem Hafenort an, um noch den Dampfer nach Irland zu erreichen.

Wieder erkannte ihn niemand, als er an Bord ging. Zwei Kriminalbeamte, die die einsteigenden Passagiere beobachteten, wendeten gerade im richtigen Moment ihren Verdacht einem völlig unbescholtenen Reisenden zu.

Dann aber ließ Helder das Schicksal, das ihm bisher immer noch weitergeholfen hatte, endgültig im Stich. Die Art und Weise, wie er verhaftet wurde, waren ein Witz, den jeder spaßig fand – außer Helder selbst.

Gold wurde in den frühen Morgenstunden durch ein Telegramm geweckt, das ihm von Scotland Yard gesandt worden war. Es lautete kurz: »Helder in Queenstown verhaftet.«

Gold nahm den nächsten Zug und traf am Vormittag in der Hafenstadt ein. Auf der Polizeiwache wurde er bereits erwartet, und man führte ihn sofort in eine Zelle, in der Helder mit resigniertem Gesichtsausdruck auf einer Pritsche hockte.

»Na, Gold, jetzt haben Sie mich also doch erwischt!«

Gold nickte.

»Ich habe es Ihnen vorausgesagt.«

Helder lachte bitter.

»Hat man Ihnen schon erzählt, wie man mich verhaftete?«

»Nein«, entgegnete Gold erstaunt. Er wunderte sich, daß der Gefangene ausgerechnet darauf zu sprechen kam. Helder lehnte sich zurück, steckte die Hände in die Taschen und sah an Gold vorbei auf die Gitterstäbe des Fensters.

»In einem Reisebüro kaufte ich mir eine Schiffskarte nach Amerika«, sagte er. »Unter den Banknoten, mit denen ich bezahlte, war auch eine Fünfpfundnote. Mein Geld war echt, und ich dachte schon, ich hätte es geschafft, als man mir die Schiffskarte aushändigte – doch an der Tür verhaftete mich ein Kriminalbeamter.«

»Nun ja, man hat Sie sicher erkannt«, meinte Gold.

»Nein, das war es nicht«, entgegnete Helder mit erstickter Stimme. »Aber die Fünfpfundnote, mit der ich bezahlte, war gefälscht.«

»Aber Sie haben doch niemals Fünfpfundnoten gefälscht!«

»Nein, das ist es ja gerade. Gefälscht hat sie irgendein anderer – ein Stümper! Und ich habe sie zufällig in die Hand bekommen!«


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