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21

Auf einer verlassenen Strecke der Cambridge Road mußte Helder die Geschwindigkeit seines Wagens abbremsen. Vor sich auf der Straße sah er ein Auto, das offensichtlich Panne gehabt hatte. Mit dem Vorderteil stand es quer zur Fahrbahn, so daß Helder gezwungen war, einen Bogen um das Hindernis zu machen und ganz langsam zu fahren. Seine Scheinwerfer leuchteten dabei in das Innere des Wagens – einer Frau direkt ins Gesicht, die allein auf dem Rücksitz saß; offensichtlich war der Chauffeur fortgegangen, um Hilfe zu holen.

Die Frau war Mrs. Bell.

Helder bremste scharf, sprang aus dem Wagen und riß die Tür des andern Autos auf. Soviel Glück hatte er nicht erwartet.

»Sie werden mich begleiten müssen, Mrs. Bell«, sagte er hastig.

Sie gab ihm keine Antwort, sondern schaute schnell die Straße entlang, ob niemand in der Nähe sei, den sie um Hilfe bitten konnte. Weit und breit war kein Mensch zu entdecken. Ihr war klar, daß sie sich in großer Gefahr befand.

Helder hielt bereits die Tür seines Wagens auf und befahl ihr mit einer drohenden Geste, einzusteigen.

»Ich fahre auf keinen Fall mit Ihnen«, erklärte sie entschlossen.

»Steigen Sie sofort ein!« schrie Helder wütend.

Sie schrak zurück, aber er packte sie roh am Arm und zerrte sie in den Wagen.

»Nehmen Sie Mrs. Bell in die Mitte«, befahl er seinen Begleitern, »und wenn sie schreit, dann bringen Sie sie zum Schweigen!«

Der Wagen fuhr an den ihm entgegenkommenden Fahrzeugen in einem Höllentempo vorbei. Spät am Abend erreichten sie London. Helder vermied die verkehrsreichen Gegenden und suchte seinen Weg hauptsächlich durch die stillen Vororte. Er fuhr immer weiter nach Osten, bis die Stadt wieder hinter ihnen lag und sie durch das Flachland von Essex kamen.

Helder hatte sich schon seit langer Zeit auf eine Flucht vorbereitet. Er kaufte und mietete an allen möglichen Orten kleine Landhäuser, denn er kannte den Wert eines sicheren Schlupfwinkels.

Zehn Meilen von Barking entfernt zieht sich ein öder, flacher Landstrich bis an die Flußufer hin. Einige düster aussehende Fabriken, ein Flugplatz und große Kohlenlager befanden sich an der Flußseite.

Helder lenkte seinen Wagen dorthin. Er schien den Weg genau zu kennen.

»Hier steigen wir aus«, sagte er plötzlich.

Es war kein Haus in der Nähe zu entdecken. Sie schienen die einzigen lebenden Wesen in dieser feuchten, unwirtlichen Gegend zu sein. Verity konnte nur noch die aufgeschichteten Kohlenhaufen sehen. Einen Augenblick fürchtete sie für ihr Leben.

Helder packte sie am Arm und zog sie hinter sich her.

»Es geschieht Ihnen nichts, wenn Sie vernünftig sind«, flüsterte er.

Sie ließen das Kohlenlager links liegen und gingen ungefähr eine Viertelstunde lang über unebenes Gelände; Verity stolperte mehrmals.

In der Dunkelheit erkannte sie schließlich die Umrisse eines niedrigen Gebäudes, das dicht am Wasser stand.

Einen Augenblick machte sich Helder an dem Vorhängeschloß zu schaffen, dann öffnete er die Tür des Schuppens und schob sie vor sich her in das Innere. Ein schwacher Geruch von Öl und Petroleum schlug ihr entgegen.

Helder knipste eine Taschenlampe an, und sie sah nun, daß sie sich in einem geräumigen Bootshaus befand. In der Mitte stand ein großes Motorboot auf einer Gleitbahn, die direkt ins Wasser führte. Die Ausfahrt war durch ein Tor versperrt.

Helder sah sie triumphierend an.

»Das ist mein Rettungsboot«, sagte er. Er schien auf einmal wieder guter Stimmung zu sein. »Es wartet darauf, mich vor dem allgemeinen Schiffbruch zu retten. Ich glaube, es ist jetzt höchste Zeit, daß wir dieses Land verlassen.«

Seine beiden Begleiter betrachteten das große, starke Fahrzeug mit lebhaftem Interesse.

Besonders Tiger Brown zeigte sich beeindruckt von der klugen Voraussicht seines Chefs.

»Es ist ein gutes Boot. Ich habe es mit ausreichenden Vorräten auch für eine längere Fahrt versorgt«, bemerkte Helder. Er öffnete das Tor, das zum Fluß führte, und sie konnten die dunkle Wasserfläche sehen.

»Einsteigen«, sagte er dann und zeigte auf eine Leiter, an einer Wand des Bootshauses hing.

Brown holte sie, lehnte sie gegen das Heck des Motorboots und stieg hinauf. Helder wandte sich an Verity und zeigte nach oben.

»Ich denke nicht daran, mit Ihnen zu gehen!« rief sie ängstlich. »Machen Sie, was Sie wollen – ich bleibe hier.«

»Sie werden es sich noch überlegen, Mrs. Bell. Glauben Sie, daß ich Lust habe, Ihrem Mann im Chelmsford-Gefängnis zu begegnen?«

Sie wurde blaß und taumelte einige Schritte zurück.

Helder lachte triumphierend.

»Das haben Sie nicht gedacht, daß ich Ihr Geheimnis kenne, wie? Und verlassen Sie sich darauf, ich werde nicht davor zurückschrecken, den Gebrauch davon zu machen, den ich für richtig halte. Was meinen Sie, wie sich das ›Post Journal‹ über einen kleinen Artikel von mir freuen würde! Also – ersparen Sie sich und Ihrem Mann diese Blamage und fügen Sie sich meinen Anordnungen.«

»Mein Mann ist unschuldig«, sagte sie leise. »Er ist für jemand anders ins Gefängnis gegangen.«

Helder verbeugte sich spöttisch.

»Natürlich, wie Sie wollen! Das behaupten die meisten Leute, die hinter Gittern sitzen. Und jetzt – einsteigen! Aber ein wenig schnell, wenn ich bitten darf.«

Sie wußte, daß weiterer Widerstand zwecklos war. Wenn sie ihm nicht gehorchte, würde er das Geheimnis, das sie mit so viel Opfern und Mühe gehütet hatte, der Öffentlichkeit preisgeben.

Verzweifelt sah sie sich nach den Begleitern Helders um, aber sie wußte, auch von dort war keine Hilfe zu erwarten. Die beiden hatten jetzt nur einen Wunsch – zu entkommen.

Mühsam faßte sie sich und kletterte die Leiter hinauf. Helder folgte dicht hinter ihr.

Oben löste Helder sofort die Sperren, die das Boot an seinem Platz festhielten. Rasch glitt es auf den leicht geneigten Holzschienen, auf denen es ruhte, ins Wasser. Gleich darauf begann der Motor dumpf zu rattern, und mit spritzender Bugwelle fuhren sie stromabwärts, der offenen See zu.

Clinker war nach vorne gegangen, und Tiger Brown stand am Steuer. Helder blieb mit Verity allein in der kleinen hinteren Kabine. Er knipste das Licht an und ging auf Verity zu, die entsetzt vor ihm zurückwich.

»Wie wäre es, wenn wir ein wenig miteinander plauderten?« fragte er höhnisch. »Schließlich könnten Sie mir erzählen, ob Sie in Ihrer jungen Ehe glücklich sind oder nicht.«

Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt und sah ihn verächtlich an. Ihr Blick brachte ihn in Wut. Wie damals in seinem Büro war er nahe daran, jede Selbstkontrolle zu verlieren.

Mit einer raschen Bewegung knipste er das Licht aus und versuchte sie zu fassen. Doch sie stand bereits am anderen Ende der Kabine.

»Wenn Sie mir zu nahe kommen, springe ich über Bord.«

»Keine Angst«, entgegnete er zynisch. »Sie sind mir viel zu wertvoll, als daß ich nicht ganz besonders um Ihr Wohlergehen besorgt wäre. Comstock Bell wird ganz bestimmt dumm genug sein, eine anständige Summe als Lösegeld für Sie zu bezahlen.«

Während der letzten Worte hatte er sich ihr im Dunkeln leise genähert. Bevor sie ausweichen konnte, war er mit einem Satz bei ihr und packte sie an den Schultern. Sie schrie laut um Hilfe.

»Halten Sie den Mund!« zischte er sie wütend an.

»Lassen Sie mich in Ruhe«, schrie sie, so laut sie konnte. Sie hoffte, daß wenigstens Tiger Brown oder Clinker hereinschauen würden.

Es wurde ihm jetzt selbst unbehaglich, und er ließ sie wieder los.

»Machen Sie sofort das Licht an« – sie nützte ihren Erfolg aus.

Tatsächlich ging er zum Schalter, und im nächsten Augenblick war die Kabine wieder hell erleuchtet. Außer sich vor Aufregung wandte sie ihm den Rücken zu und schaute durch das kleine Fenster auf den Strom hinaus – plötzlich fuhr sie zusammen.

»Gott sei Dank«, flüsterte sie, »die ›Seabreaker‹.«

Er war neben sie getreten und sah zu seinem Schrecken einen kleinen Dampfer, der mit höchster Fahrt direkt auf sie zu hielt. Einen Augenblick lang war er fassungslos, und diesen Moment benützte sie. Bevor er sie festhalten konnte, war sie durch die Kabinentür gerannt und an die Reling gestürzt. Er konnte sie zwar noch einholen, doch mit der Kraft der Verzweiflung riß sie sich los und sprang ins Wasser.

Fluchend stand er an der Reling, doch dann sah er die Lichter des Dampfers immer näher kommen – es blieb ihm nichts übrig, als so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

Tiger Brown, der das Steuer für einen Augenblick Clinker übergeben hatte, kam gerade auf ihn zu.

»Was ist denn los, zum Teufel?« fragte er.

Helder stieß ihn zur Seite.

»Schnell, wir müssen das Letzte aus der Maschine herausholen. Wenn wir die belgische Küste vor Tagesanbruch erreichen, haben wir es geschafft!«

Nach fünf Minuten drehte er sich wieder um und atmete erleichtert auf. Der Zwischenraum zwischen ihrem Boot und dem verfolgenden Schiff wuchs von Sekunde zu Sekunde, denn die ›Seabreaker‹ hatte beigedreht. Helder zweifelte nicht daran, daß man Boote aussetzte, um nach Verity Bell zu suchen.


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