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Jose folgte ihrem Vater langsam, aber als sie in die Halle kam, war er bereits verschwunden. Sie ging zu ihrem Zimmer hinauf, verschloß die Tür und zog ein einfaches Kleid an. Nun war sie endgültig entschlossen, das Geheimnis des inneren Parks zu lösen. Aus einer Schublade ihres Frisiertisches nahm sie einen kleinen Revolver und lud ihn.
Nachdem sie ihn in die Tasche gesteckt hatte, drehte sie das Licht aus, öffnete die Fenstertür ihres Schlafzimmers und trat auf den Balkon hinaus. Es bestand die Möglichkeit, daß ihr Vater zu Hause blieb; gedämpftes Licht drang aus seinem Arbeitszimmer, als sie ihre Wache begann. Nach einer Stunde wurde es dunkel, und wenige Minuten später sah sie ihn auf dem Pfad, der zu dem inneren Park führte. Rasch ging sie durch ihr Schlafzimmer, eilte die Treppe hinunter und lief aus dem Haus. Sie hielt sich auf dem Rasen, der ihre Schritte fast unhörbar machte. Gleichzeitig fand sie auch Deckung in dem nahen Gebüsch.
Sie verlor ihn aus dem Auge, als er in dem Laubwerk untertauchte, das die Mauer verbarg. Aber sie hörte, wie er den Schlüssel in die Tür steckte. Gleich darauf schlug die Tür zu, und nun konnte Jose es wagen, vorzudringen. Sie hatte diese Tür schon oft besichtigt, aber noch nie daran gedacht, die Anordnungen ihres Vaters nicht zu befolgen.
Die Mauer war mindestens dreieinhalb Meter hoch. Jose hatte jedoch ihre Vorbereitungen getroffen. Fünfzig Schritte rechts von der Tür befand sich ein dichtes Gebüsch. Aus diesem Gesträuch zog sie eine leichte Leiter heraus, stellte sie gegen die Mauer und erreichte ohne Schwierigkeiten die Krone. Dann zog sie die Leiter nach oben und ließ sie auf die andere Seite hinunter.
Als sie unten angelangt war, ging sie zu der inneren Seite der Tür. Von dort führte ein Pfad zu dem unbekannten Tempel. Es war unbedingt notwendig, daß sie wieder den Rückzug zu ihrer Leiter fand, und nachdem sie sich die Umgebung genau eingeprägt hatte, machte sie sich furchtlos an die Durchführung ihrer Expedition.
Der Weg war gut zu erkennen, und der Mond schien hell genug, um ihr das Anknipsen der Taschenlampe zu ersparen, die sie mitgenommen hatte.
Bald erreichte sie den Tempel und blieb bei dem seltsamen Anblick stehen. Es war ein kleines, schönes Gebäude, das sich im Stil an den Tempel der Athene anlehnte.
Armer Pluto! dachte sie und lächelte. Obwohl es sich um eine grauenvolle Geschichte handelte, hatte sie von Anfang an die humorvolle Seite der Sache gesehen. »Ausgerechnet in dem Tempel der Athene mußt du verehrt werden!«
Es war niemand zu sehen, und nirgends zeigte sich Licht in dem Gebäude. Offenbar hielt man es nicht für notwendig, eine Wache auszustellen. Geräuschlos ging sie über den Rasen und stieg die Stufen zu der Säulenvorhalle hinauf.
Die verhältnismäßig große Holztür stand offen, und Jose schlich auf Zehenspitzen hinein. Gleich darauf stand sie einem schweren Samtvorhang gegenüber. Durch eine Ritze drang Licht nach außen. Sie trat dicht heran und lugte hindurch.
Durch eine Reihe von Säulen sah sie einen Altar, auf dem eine goldene Statue leuchtete; aber ihre Aufmerksamkeit richtete sich weniger darauf als auf die beiden Männer, die in ehrfurchtsvoller Haltung davorstanden. Ohne Mühe erkannte sie den kleinen Mann an der Seite ihres Vaters, obwohl die beiden seltsame Gewänder trugen. Seine Stimme hatte einen schönen, vollen Klang.
»O Hades, du Spender des Reichtums!« rief er und breitete flehend die Arme aus. »Gib diesem Zauderer ein Zeichen! Sprich, o Pluto, du Herr der Unterwelt, du Gott des Reichtums!«
Jose lauschte angestrengt, aber sie hörte keine Antwort. Das Schweigen wurde schon bedrückend, als plötzlich eine Stimme ertönte – eine hohle, laut schallende Stimme, die aus der Statue selbst zu kommen schien.
»Fremdling, erinnere dich an dein Versprechen! Du hast mir gelobt, daß du deine Tochter dem von mir erwählten Mann geben würdest. Die Stunde ist nun gekommen. Wohlfahrt und Glück umgeben dich, und es soll ein Platz an der Tafel der Götter für dich bereitet sein, mein Diener.«
Joses Herz schlug wild. Sie fühlte, daß sie ersticken mußte, wenn sie nicht ins Freie kam. Ihre Gedanken jagten wild durcheinander; sie taumelte die Stufen hinunter und stürzte zu Boden.
Das war also die Lösung des Geheimnisses – auf solche Weise erhielt ihr Vater seine Inspirationen! Jose richtete sich wieder auf, und obwohl ihre Knie zitterten, eilte sie zu dem anderen Ende des Tempels. Sie erwartete, dort den Mann zu sehen, der eben für den goldenen Hades geantwortet hatte, aber sie konnte niemand entdecken. Verwirrt blieb sie stehen und vergaß über diesem Problem sogar den Schrecken, der sie gepackt hatte.
Wenn sie gewußt hätte, daß sich in der einen Ecke des Gebäudes hinter den Karyatiden ein Ventilationsschacht befand, durch den Frank Alwin geklettert war, hätte sie vielleicht das Vorhandensein dieses Raums als eine Erklärung aufgefaßt. Aber in Wirklichkeit hatte der Schacht nichts damit zu tun.
Sie dachte schnell nach. Die Stimme Plutos war ihr irgendwie bekannt erschienen. Sie hatte geklungen, als ob . . . als ob . . . Plötzlich kam ihr die Erkenntnis. Der Betreffende mußte ein Sprachrohr benützt haben! Wenn ein solches Instrument von außerhalb nach innen ins Gebäude führte, mußte man es in gerader Linie zu der Statue führen. Sie maß die ungefähre Entfernung und begann zu suchen, konnte aber nichts entdecken.
Schließlich kniete sie nieder, preßte das Ohr auf die Erde und hörte auch gleich darauf ein schwaches Geräusch. Sie sah sich nach einem brauchbaren Werkzeug um, mußte sich aber mit einem Stück abgestorbenen Holzes begnügen. Damit wühlte sie den Boden auf.
Ihre Mühe wurde bald belohnt. Ungefähr zwanzig Zentimeter unter der Oberfläche fand sie eine Röhre, die vom Tempel in ein kleines Gebüsch führte. Wie sie bald darauf entdeckte, war es etwa fünfzig Meter entfernt.
Vorsichtig ging sie darauf zu und hütete sich, irgendein Geräusch zu machen. Sie kam an dem Saum des Gebüschs an und schlich dann behutsam von Baum zu Baum weiter. Ab und zu hielt sie an und lauschte, konnte jedoch nichts hören. Aber als sie gerade wieder den Fuß hob, um einen Schritt weiter vorzudringen, vernahm sie plötzlich ein kurzes, lautes Summen. Sie erschrak so sehr, daß sie beinahe einen Schrei ausgestoßen hätte.
Das Geräusch konnte nur ein Signal gewesen sein. Sie hielt den Atem an, als sie diese einfache Erklärung fand. Natürlich, der Mann im Tempel mußte seinem Komplicen doch ein Signal geben, damit dieser wußte, wann er sprechen sollte. Und als Beweis für ihre Theorie ertönte jetzt auch dicht in ihrer Nähe seine Stimme:
»Dieses sagt der Herr der Unterwelt . . .«
Jose hatte ihre kleine Taschenlampe herausgezogen und leuchtete nun in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein Mann lag dort mit dem Gesicht nach unten auf der Erde und hielt einen Metalltrichter an den Mund. Sie konnte die schmale Zementeinfassung sehen, in der wahrscheinlich das Sprachrohr mit der Signalanlage verborgen war. Der Mann ließ das Mundstück fallen und stand fluchend auf.
»Habe ich das Vergnügen, Pluto oder einen seiner Anhänger vor mir zu sehen?« fragte Jose ironisch.
»Miss Bertram!« rief der Mann.
Sie erkannte ihn an der Stimme.
»Sie sind doch der Butler des Professors?«
Sie richtete den Lichtstrahl immer noch auf ihn, während er den Staub von seinen Knien wischte. Die auffallende Gelassenheit dieses Mannes beunruhigte sie.
»Nun ja, es hat keinen Zweck, noch viel zu reden«, sagte er. »Sie haben mich geschnappt. Miss Bertram, ich glaube, Sie wissen jetzt alles, was über den goldenen Hades zu wissen ist.«
»Und ich weiß auch alles über Sie. Und morgen, wenn es noch ein Gesetz in diesem Land gibt . . .«
»Ach, wir wollen nicht über das Gesetz sprechen«, entgegnete er kühl. »Das würde keinem von uns helfen, am allerwenigsten Ihrem Vater.«
»Wie meinen Sie denn das?«
»Also, seien Sie vernünftig und nehmen Sie an, Sie hätten das alles nur geträumt. Tun Sie, als ob Sie niemals hinter die Kulissen gesehen hätten, und führen Sie den Befehl des Gottes aus.«
»Ich soll den Erwählten heiraten?« fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.
»Jawohl, Sie sollen den Erwählten heiraten«, wiederholte er und nickte. »Und der Erwählte bin ich.«
Sprachlos sah sie ihn an.
»Sie ersparen sich dadurch selbst viel Mühe und bewahren Ihren Vater vor schlimmen Dingen«, fuhr er fort. »Nehmen Sie Vernunft an, Miss Bertram. Sie müssen das unbedingt tun, weil Sie die einzige sind, die Ihren Vater aus der Geschichte heraushalten und uns vor Schwierigkeiten schützen kann.«
»Selbst wenn ich könnte, würde ich Ihnen nicht helfen! Keinem von Ihnen. Mein Vater ist unschuldig an den Verbrechen, die Sie begangen haben.«
»Das werden Sie beweisen müssen. Und leicht wird Ihnen das sicher nicht fallen!«
»Selbst dann könnte ich Sie nicht retten. Es ist ein Mann auf Ihrer Spur, der Sie verfolgen wird, bis er Sie gefaßt und dorthin gebracht hat, wohin Sie gehören.«
»Es ist ein Mann auf Ihrer Spur«, erwiderte Tom Scatwell feindselig, »der nicht nachlassen wird, bis er Sie gefaßt hat. Ich denke an den gleichen wie Sie – an Peter Corelly.«
Sie versuchte, die Dunkelheit mit ihrem Blick zu durchdringen; schon lange hatte sie ihre Taschenlampe ausgeschaltet.
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Nicht? Ach, Rosie ist nicht so dumm, wie Sie glauben.«
»Rosie?« fragte sie verwirrt.
»Ich spreche von dem Professor. Er ist klug, und wenn er auch ein Verbrecher ist, versteht er es doch, in den Herzen der Menschen zu lesen. Sie finden kaum einen größeren Psychologen als ihn. Rosie hat gesehen, mit welchen Blicken Corelly Sie betrachtete, und danach hat er den Fall beurteilt.«
Sie errötete und war dankbar, daß man in der Dunkelheit ihr Gesicht nicht sehen konnte.
»Sie sind wahnsinnig«, sagte sie. »Sie wollen mich nur beleidigen – ich gehe zu meinem Vater zurück.«
»Noch einen Augenblick, Miss Bertram.« Er legte die Hand auf ihren Arm. »Ob Peter Corelly in Sie verliebt ist oder nicht, macht gar keinen Unterschied. Das geht nur ihn an, und ich glaube, ich kann schon mit ihm fertig werden – nachdem wir verheiratet sind. Sie werden und Sie müssen mich heiraten, ob Sie wollen oder nicht, wenn Sie nicht Ihren Vater unter Anklage des Mordes vor Gericht sehen wollen. Es wird einen Run auf die Bank geben, wenn herauskommt, daß er nahezu eine Million Dollar auf diese Weise verschleudert hat – verstehen Sie mich?«
»Ja, ich verstehe«, erwiderte sie leise und drehte sich um.
Scatwell machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten.