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»Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß.«
Beim Morgengrauen stand Wilbur Smith mit dem Hut in der Hand in der Tür eines kleinen Zimmers. Der ältere Mann, der ihm geöffnet hatte, trug einen alten Mantel über den Schlafanzug und sah den unerwarteten Besucher mit schläfrigen Augen an.
»Hier ist meine Karte.«
Der Mann nahm sie und las.
»Sie sind von der Polizei!« sagte er erschreckt. »Warum . . .? Was ist geschehen?«
»Es ist nichts Besonderes . . .«
»Sagen Sie mir nur nicht, daß Maisie . . .«
»Es ist nichts Besonderes passiert, für das Ihre Tochter verantwortlich wäre. Ich nehme an, daß Sie der Vater von Miss Maisie Bishop sind?«
»Treten Sie näher. Ich mache Licht.«
Das kleine Zimmer war einfach, aber hübsch eingerichtet.
»Handelt es sich um das Geld?« fragte der Mann ängstlich. »Ich habe es auch nicht verstanden. Sehen Sie, Maisie fragte Mr. Alwin, weil er früher so freundlich zu ihr gewesen war, und ich war selbst ganz erstaunt, als sie das Geld nach Hause brachte. Ich wußte nicht, daß er so reich ist. Ich dachte, es müßte eine Verwechslung sein. Hat Mr. Alwin Sie deshalb hergeschickt?«
Wilbur schüttelte den Kopf.
»Nein, das gerade nicht, aber wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich gern Ihre Tochter sprechen.«
Er wartete etwas ängstlich und atmete erleichtert auf, als er die Stimme des jungen Mädchens hörte. Gleich darauf trat sie ins Zimmer. Sie war ein wenig bleich, sah aber trotzdem hübsch aus. In der Hand hielt sie mehrere Banknoten.
»Wollten Sie mich deshalb sprechen?« fragte sie.
Er nickte.
»Mr. Alwin hat sie mir gegeben«, erklärte sie aufgeregt. »Ich dachte mir gleich, daß er sich geirrt haben müßte, aber ich nahm nicht an, daß er gleich die Polizei schicken würde . . .«
»Zunächst möchte ich Sie einmal darüber beruhigen – ich bin nur hergekommenem zu sehen, daß Ihnen nichts passiert ist«, entgegnete Wilbur freundlich. »Wegen des Geldes brauchen Sie sich den Kopf nicht zu zerbrechen. Ich brauche die Scheine für ein paar Tage, und wenn dann nichts geschieht, werde ich sie zurückerstatten.«
»Es war mir so furchtbar peinlich, daß ich Mr. Alwin fragen mußte«, erwiderte Maisie. »Aber mein Vater hatte solche Geldsorgen, und wir sind seit mehreren Monaten die Miete schuldig. Ich habe erst alle anderen Bekannten um Hilfe angegangen, bevor ich mich an Mr. Alwin wandte . . . Es ist entsetzlich, wenn man andere Leute um Geld bitten muß«, fügte sie mit stockender Stimme hinzu.
»Ach, seien Sie nur deshalb nicht ängstlich«, erwiderte Wilbur lächelnd. »Ich sorge mich nur um Sie . . .!«
»Wieso?« fragte sie schnell. »Warum sind Sie um meine Sicherheit besorgt?«
Er betrachtete die Banknoten genau und sah, daß jeder Schein auf der Rückseite den gelben Stempel aufwies.
»Sehen Sie, das ist dieselbe Sorte Papiergeld.« Er zog den dicken Stoß Dollarscheine aus der Tasche, den Frank ihm übergeben hatte.
Maisie war verblüfft.
»Sie können sich selbst davon überzeugen, daß die Nummern fortlaufend sind und sich den Nummern dieser Scheine anschließen. Ich werde die Zahlen notieren.«
Er schrieb etwas in sein Notizbuch und riß dann die betreffende Seite heraus.
»Behalten Sie diesen Zettel, das sind die Nummern der Banknoten, die ich genommen habe. Und wie ich schon sagte, werden Sie die Scheine zurückerhalten – wenn inzwischen nichts Weiteres passiert. In der Zwischenzeit« – bei diesen Worten nahm er seine eigene Brieftasche heraus – »müssen Sie mir sagen, wieviel Geld Sie von Mr. Alwin leihen wollten, damit ich Ihnen die Summe vorstrecken kann.«
Er sah, daß sie errötete, und lachte.
»Sie müssen das als eine Leihgabe von Frank Alwin betrachten«, sagte er.
Aber dann kam ihm der furchtbare Gedanke, daß Alwin wahrscheinlich schon längst tot war.
Leise nannte sie eine verhältnismäßig geringe Summe. Er zog das Doppelte an Geldscheinen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.
*
Als er an diesem Morgen nach nur zwei- oder dreistündigem Schlaf in sein Büro kam, fand er eine Schar von Zeitungsberichterstattern, die auf ihn warteten. Wilbur Smith hatte seine eigenen Methoden mit der Presse, die sich in den meisten Fällen als gerechtfertigt erwiesen hatten.
»Ja, Jungens«, sagte er, »es entspricht vollkommen den Tatsachen, daß Mr. Alwin verschwunden ist. Soviel ich weiß, ist er seit gestern abend nicht mehr gesehen worden. Es steckt ein großes Geheimnis hinter der Sache, und ich habe bereits einen Anhaltspunkt.«
»Besteht irgendwelche Verbindung zwischen diesem Verbrechen und der Ermordung von Higgins?« fragte einer der Anwesenden.
Wilbur nickte.
»Ich weiß nicht, wie die Geschichte herausgekommen ist, aber Sie sind auf dem richtigen Weg, wenn Sie das vermuten. Alwin ist ein sehr guter Freund von mir, und Sie können versichert sein, daß ich nicht eher ruhen werde, als bis man ihn aufgefunden und auch den Täter dingfest gemacht hat. Damit Sie nun nicht alles durcheinanderbringen und nachher widerrufen müssen, will ich Ihnen erzählen, was passiert ist.«
Er berichtete alles, was er mit Alwin erlebt hatte, wie er ihn im Theater abgeholt und mit ihm zusammen zu Abend gespeist hatte, wie Alwin zum Telefonieren gehen wollte und nicht mehr wiederkam. Von den sonderbaren Banknoten und dem goldenen Hades erwähnte er jedoch keine Silbe.
Das hielt er vorläufig für besser. Später konnte er der Presse immer noch davon Mitteilung machen, wenn es sich lohnte. Im Augenblick wollte er die geheimnisvollen Täter nicht warnen. Wenn sie erfuhren, daß er bereits auf der richtigen Spur war, konnten sie ihre Gegenmaßnahmen nur um so leichter treffen.
Aber er mußte seine Ansicht darüber ändern, denn plötzlich stellte einer der Presseleute in der hintersten Reihe eine Frage.
»Nun, wie steht es mit dem goldenen Hades, Smith?«
Wilbur sah auf.
»Wer hat das gefragt?« erwiderte er scharf.
Der Mann trat vor.
»Wir erhielten heute morgen diesen Brief ins Büro gesandt«, erklärte er und legte ein Schreiben auf den Tisch. Wilbur öffnete es. Sowohl der Umschlag als auch der Bogen waren aus bestem, schwerstem Büttenpapier hergestellt. Auf dem Blatt standen aber nur ein paar Worte, mit Schreibmaschine geschrieben:
»Warnen Sie Wilbur Smith. Wenn er seinen Freund retten will, darf er keine weiteren Nachforschungen über den goldenen Hades anstellen.«
Wilbur las die Zeilen mehrmals durch.
»Wann haben Sie denn den Brief erhalten?«
»Etwa eine halbe Stunde, bevor ich das Büro verließ. Er wurde dem Lokalredakteur als Rohrpostbrief zugesandt. Nachdem der die Sache gelesen hatte, erhielt ich das Schreiben, um es Ihnen zu geben. Was für eine Bewandtnis hat es denn nun mit dem goldenen Hades?«
Wilbur lächelte.
»Das möchte ich selbst auch sehr gern wissen, mein Junge. Bis jetzt tappe ich noch vollkommen im dunkeln. Ich werde den Brief an mich nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Aber das ist doch nicht das erste Mal, daß Sie etwas vom goldenen Hades gehört haben?« fragte der Berichterstatter hartnäckig weiter. »Wenn Sie auch nicht über alles unterrichtet sind, können Sie uns doch wenigstens das sagen, was Sie wissen, Mr. Smith.«
Wilbur sah dem jungen Mann offen in die Augen.
»Das wäre genau das, was die Verbrecher herausfinden wollen, und deshalb werde ich Ihnen gerade das nicht sagen. Der Brief wurde ja nur zu dem Zweck an Ihre Redaktion geschickt. Vielleicht lebt Alwin noch; sie haben ihn entführt und wollen ein Lösegeld für ihn herausschlagen. Es ist möglich, daß sie ihn umbringen, wenn ich die Sache weiterverfolge. Aber darauf können Sie wetten, die Verbrecher haben den Brief nur an die Redaktion geschickt, damit Sie auf diese Spur gebracht werden und versuchen, alles was ich vom goldenen Hades weiß, aus mir herauszuholen, um es dann in Ihrer Zeitung zu veröffentlichen. – Aber auf den Leim gehe ich nicht.«
Er entließ die Presseleute und ging ins Nebenzimmer. Sein Vorgesetzter, der grauhaarige Mr. Flint, hörte seinen Bericht an, ohne ihn zu unterbrechen.
»Das hört sich an wie ein spannender Kriminalroman«, sagte der Chef, als Wilbur geendet hatte. »Es ist sicher etwas ganz Außergewöhnliches.«
»Ja«, gab Wilbur Smith zu. »So etwas haben wir noch nicht erlebt. Im Vergleich dazu ist die Sache mit der ›Schwarzen Hand‹ ein Kinderspiel und ein Mord im Chinesenviertel eine Kleinigkeit.«
Der Chef rieb sich das Kinn.
»Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle täte? Ich würde Peter Corelly mit der Aufklärung des Falles betrauen.«
»Peter Corelly!« sagte Smith schnell. »Ja, da haben Sie recht. An den habe ich im Augenblick nicht gedacht. Ich werde ihm telefonisch mitteilen, daß er mich in meinem Büro aufsuchen soll.«
»Wo ist das Geld?« fragte der Chef.
»In meinem Safe. Ich werde es herbringen und Ihnen zeigen.«
Einige Minuten später hielt Flint den dicken Stoß Banknoten in der Hand und betrachtete ihn genau.
»Zuerst müssen Sie natürlich herausbringen, wie das Geld überhaupt ins Theater kam. Mit dem Requisitenverwalter haben Sie ja schon gesprochen, wie Sie vorher berichteten.«
»Ja. Ich muß nun noch den Händler auskundschaften, von dem er die Scheine erhalten haben will. Vielleicht fällt dann neues Licht auf die Sache. Ich werde die Banknoten auch zur Staatsbank mitnehmen und sie dort prüfen lassen«, erklärte er und steckte sie wieder in die Tasche. »Auf jeden Fall kann ich dort erfahren, an welche Bank das Schatzamt die Noten ausgegeben hat. Wenn wir erst einmal so weit sind, werde ich sicher auch herausfinden, warum das Geld so sonderbar gestempelt ist und warum jeder, der das Geld in der Tasche hat, soviel Unannehmlichkeiten ausgesetzt ist.«
Er ging in sein Büro zurück, um sich telefonisch mit Corelly in Verbindung zu setzen, dann verließ er das Polizeipräsidium. Der Beamte, der den Dienst an der Tür versah, beobachtete, wie Wilbur ein Taxi anrief und fortfuhr. Drei Stunden später wurde der Detektiv anscheinend tot in einer leeren Wohnung in der Nähe der Jamaica Street aufgefunden. Nachdem er zum Hospital gebracht worden war, durchsuchte Peter Corelly Wilburs Kleider, aber die Banknoten waren verschwunden.