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Sehr verehrter Dichter!
Jetzt ist es genau ein Jahr her, daß ich das hohe Glück genieße, Sie persönlich zu kennen und mit Ihnen in sehr anregendem Briefwechsel zu stehen, welch letzterer freilich ein von meiner Seite nicht verschuldetes Ende zu nehmen scheint. Nicht weniger als dreiundvierzigmal habe ich Ihnen geschrieben, was ja für einen Pensionisten, der nichts zu tun hat und in einer Kleinstadt sich langweilt, kein besonders großes Opfer bedeutet. Sie hatten die Güte, mir einige Male zu antworten, allerdings immer kurz und förmlich, hüllen sich aber seit einem vollen Vierteljahr in, tiefstes Stillschweigen, was ich nicht verdient zu haben glaube, da ich sowohl an Ihren Büchern als auch an Ihrer hochgeschätzten Person ein so lebhaftes Interesse habe. Daß auch Sie ein ähnliches für meine Wenigkeit übrig hätten, habe ich in Ihrem Benehmen anläßlich unseres zufälligen Bekanntwerdens in der Eisenbahn entnehmen zu dürfen geglaubt und Ihnen daher in meinen letzten Briefen meinen Werdegang vom Schuhmacherskind und Volksschüler bis zum Rechnungsrat i. R. eingehend geschildert, wozu ich bis heute eine Äußerung Ihrerseits leider vermisse. Die Vermutung, daß ich von Ihnen überhaupt kein Lebenszeichen mehr empfangen werde, stimmt mich bitter.
Hochachtungsvoll
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Sehr geehrter Herr!
Seien Sie wieder gut, bitte. Als Antwort auf Ihre umfangreichen biographischen Mitteilungen will auch ich etwas aus meinem Leben berichten. Jugenderinnerungen, soweit dabei mein gottseliger Großvater eine Rolle spielt, der Vater meines Vaters nämlich.
Er war ein »gescheiter Bauer«. Mit diesem Wort meinte man ehedem im Egerland, der Heimat meiner Väter, nicht etwa ein gutes Maß standesnötiger Klugheit, sondern eine für einen Bauer ungewöhnliche Belesenheit und Bildung. Zum Typ des gescheiten Bauers gehörte es auch, ein Stück weite Welt gesehen und ein paar Brocken fremde Sprache heimgebracht zu haben. In all diesen schönen Gescheitheiten übertraf mein Großvater seinen Sohn, den Michel, der doch in Prag studiert hatte und ein Lehrer war. Jedes Jahr, immer gegen Ende der Sommerferien, kam er zu Besuch. Auch noch als Ausgedinger von zweiundsiebzig Jahren nahm er die zehn Stunden Fußwanderung von seinem Dorf zu unserem um einiges respektableren Nest tapfer auf sich, um mit meinem Vater hochdeutsch und gescheit zu reden. Ohne ein Zeichen von Müdigkeit, eine Feldblume hinterm Ohr und ein weitläufiges Lächeln um die bläulichen Lippen, kam er angerückt. Unter dem schwarzhaarigen, breiten Hut hingen schneeweiße Strähnen die Schläfen herab, der Rücken war krumm, das Ohr fast taub; aber die kleinen blauen Augen funkelten noch lustig aus dem langen, glattbalbierten Gesicht. Die Nase war gewaltig, sprang scharf vom Bein ab und erneuerte ihre Linie an der Spitze so energisch auf, daß sie einen nachgerade herausfordernden Ausdruck bekam und es nötig machte, daß die Gegend unter ihr mit ewigem Lächeln und Schnupftabak bestreut war. Für meine Mutter, die Reinlichkeit und nur sanfte Rüche liebte, war diese Nase mit den riesigen, feuchten Nüstern, war die runde Dose mit dem quietschenden Drehdeckel ebenso Entsetzen und Schande wie die beiden großen blauen Taschentücher, von denen die Schöße des ganz bauernwidrigen Gehrockes schwollen. Die Beine staken in kurzen, rohledernen Zugstiefeln, die mit Talg geschmiert waren. Der alte Herr schleuderte sie ebenso kräftig vor sich hin, wie er den eisern gespitzten Birkenstock aufsetzte. Meine Bewunderung gehörte dem »Leibel«, der Weste. Sie war das Bild von meines Großvaters eigentlich düsterer Lebensanschauung und zugleich seines heiter funkelnden Wesens, denn dieses schwarzsamtene Stück Kleid war mit eingestickten bunten Blümchen geschmückt und blitzte von silbernen Knöpfen. Eine unsäglich genau gehende alte Zwiebeluhr stak darin. Ich verachtete sie ein wenig, weil sie aus Messing war und keine Kette, wohl aber ein recht ordinärer Schlüssel zu ihr gehörte.
Dies also, lieber Herr Rechnungsrat, war beiläufig mein Großvater, oder auf egerländisch: mein Nuaner. Wenn Sie sich die Mühe nehmen sollten, das u unter dem Einfluß des N ein wenig nasal zu behandeln und so zu betonen, daß das nachfolgende a zu kurz kommt und ein Halbvokal wird, so grüßt Sie dankbar
Ihr
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Verehrter, lieber Dichter!
Freudig überrascht, ja beglückt bin ich, die Bekanntschaft Ihres verehrten Herrn Großvaters gemacht zu haben, muß aber gestehen, daß ich die Frau Großmutter vermisse, die seinerzeit wahrscheinlich ebenfalls vorhanden gewesen ist. Um möglichst umgehende Fortsetzung Ihrer rührenden Erzählung bittet ehrerbietigst .....
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Lieber Herr Rechnungsrat!
Sie haben recht. Zum Großvater gehört die Großmutter (zum Nuaner die »Waawa«). Nun weiß ich aber von dieser guten Frau nicht viel. Sie führte daheim auf dem »Poppenhof« ein recht eingezogenes Leben, das nur gerade soviel Geräusch machte wie die fleißige Arbeit einer gesunden, bescheidenen Bäuerin. Mein Elternhaus, das ja weit drunten an der tschechischen Sprachgrenze stand, hat sie nur einmal besucht, um bald darauf eine weit größere Reise anzutreten, die ins Himmelreich. Ich war noch ein halbes Kind, als die kleingewachsene Frau mit ihrem dicken blauen Regenschirm bei uns einzog und bei meinem Anblick sich schweigend die Tränen trocknete. Ihr freundliches, rotes Apfelgesichtchen gefiel mir herrlich gut. Reichliches graues Haar war mit einem schwarzseidenen Kopftuch umwunden und dieses so über der Stirn verknotet, daß hier zwei Enden wie gespitzte tierische Öhrchen aufragten. Schwarze Seide war auch der steif wallende Glockenrock und das Miederleibchen, blau eine breite Prunkschürze. Das niedliche, schwarzäugige Weibchen rauschte und raschelte beständig, als es die in ein gefranstes Tuch geschlagenen Geschenke vom Rücken nahm und auspackte: ein bunt gestreiftes Kopfkissen, einen Laib Schwarzbrot und eine Menge »Köichala«, eine Art dreieckiger Krapfen. Für eine Bäuerin war meine Waawa zu süß. Um so heißer liebte ich sie, und als die Kunde von ihrem Absterben kam, weinte ich bittere Tränen. Von ihrer Hand, die immer etwas schwer und zaghaft gewesen war, wenn sie nicht arbeitete, fühlte ich mich dann einige Male im Traum über den Kopf gestreichelt.
Dies ungefähr meine Großmutter, die ich Ihnen, sehr geehrter Herr Rechnungsrat, schuldig war. Um aber wieder auf meinen Großvater zurückzukommen, so war er, was ich Ihnen bisher verschwiegen habe, nicht nur Acker-, sondern auch Orgelbauer, freilich nicht mehr in seinen alten, tauben Tagen. Er hatte diese Kunst in weiter Fremde gelernt. Ich wußte, daß er als ganz junger Mensch, obwohl der älteste Sohn seines Vaters und sein Erbe, vom Hof seiner Ahnen ohne Abschied ausgerissen und lange so gut wie verschollen war. Davon hat er mir, dem Knaben, des öfteren erzählt; warum er aber als Dreißigjähriger plötzlich aus Frankreich heimgekehrt war und wie er dort ein reiches Mädchen trotz schönstem Einverständnis der beiderseitigen Herzen einfach hatte sitzenlassen, das zu erfahren hat er erst den hochragenden Gymnasiasten für reif genug befunden, der eine Liebesgeschichte mit innigem Verständnis aufnehmen konnte.
Wir beide saßen hinter meinem Elternhaus, dem Schulgebäude, auf einer Bank des nachsommerlichen Gartens. Er hatte wieder einmal eine seiner lehrhaften Stunden, die mein Vater und ich mehr fürchteten als liebten. Jener schämte sich sichtlich, wenn er über Name und Art irgendwelcher unscheinbaren Blume oder Rispe ausgefragt und belehrt wurde, oder im schwierigen Wirrwarr des Sternenhimmels zurechtgewiesen werden mußte, wenn ihm sein Vater ein französisches Zitat, das im »Prager Abendblatt« zu lesen war, leicht übersetzte, oder die Weisheiten Schopenhauers, den er bewunderte, breit auspackte. Jetzt, auf der Bank, die auf einem Stück Rasen stand, belehrte er mich über allerhand Gräserchen. Dann wies er mit seinem schwieligen Zeigefinger auf eine Blume zu seinen Füßen:
»Wie heißt man das?«
»Einen Ganserer.«
»No ja, vulgo. Aber botanisch?«
»Orakelblume.«
»No ja, aber lateinisch?«
»Nescio.«
»Nein, das ist kein Nescio, sondern ein Leucanthemum. Deutsch sagt man auch Wucherblume.«
»Auch Marguerite.«
»So so.«
»Ja, in der Stadt sagt man Marguerite.«
»Marguerite – ist französisch. Marguerite –«
Der Großvater pflückte die Blume und beschaute sie, als sähe er dergleichen zum erstenmal, geriet dann in Sinnen und brummte endlich:
»Jetzt paß auf. Ich erzähl' dir von einer Mademoiselle Marguerite, die war viel schöner als dieses Blümel da. Du weißt ja, ich bin von zu Haus durchgebrannt, wie ich so alt war wie du jetzt bist. Ich wollte kein Bauer werden, oder höchstens, wenn ich vorher die Welt gesehen hätt'. No also, bin halt meinen armen Eltern bei Nacht und Nebel davon. Nach Deutschland zuerst. In Nürnberg hab' ich ein Jahr die Tischlerei gelernt. Die hat mich nicht genug gefreut. So bin ich durch in die Schweiz. In Basel hab' ich drei Jahr bei einem Orgelbauer gelernt. Das war mein richtiger Gusto. Aber das Sitzfleisch hat gefehlt. Bin kreuz und quer in der Schweiz und dann nach Frankreich hinein, nach Paris und zuletzt nach Lyon. Da bin ich picken blieben. Nur wegen der Marguerite. Das war die Tochter meines Meisters. Der war ein Ableger von der berühmten Orgelbauerfamilie Cavaille in Paris und ein anständiger Mensch, dazu ein Mordskerl in seinem Fach. Also die Marguerite. Sie war jung, schlank, zart und schön und hat ein großes, goldenes Herz gehabt wie diese Marguerite da. Wir zwei – aber was soll ich dir lang und breit von dieser Liebschaft erzählen! Das alles ist schon so lang her, fast nimmer wahr. Wir könnten jetzt bald die goldene Hochzeit feiern, wenn ich die Marguerite geheiratet hätt'!«
»Dein Meister hat dich wohl davongejagt?«
»Hab' ich dir nicht gesagt, daß er ein hochanständiger Mensch gewesen ist? Und er hat mich gern gehabt. ›Jean, du bist nicht mon ouvrier, mein Gesell‹, hat er öfter gesagt, ›du bist mon ami. Sogar mein Sohn, den ich nicht habe, bist du.‹ Und wie er hinter unsere Heimlichkeiten gekommen ist, hat er nur gemeint: ›Kinder, bleibts artig dabei!‹ Kurzum, ich hätt' die schöne Marguerite kriegt, wenn ich ernsthaft gewollt hätt', und du wärst jetzt ein halber Franzos. Kriegt hätt' ich sie, obwohl ich damals schon ohrenkrank war und schwerhörig. Das war nix für die Orgelbauerei. Aber kriegt hätt' ich sie, die reiche Braut. Und hab' nicht wollen, bin davon. Sie hat nicht mitwollen und auch nicht dürfen.«
»Hast Heimweh kriegt.«
»So was ähnlichs. Damals hab' ich geglaubt, ich muß bald ganz taub werden und hab' zu mir selber gesagt: Du wirst dein Lebtag kein deutsches Wort mehr hören, wenn du da bleibst. Ein verzweifeltes Verlangen hat mich gepackt, meine deutsche Muttersprach', meine egerländische, zu hören und zu reden. Und das Übel in den Ohrwascheln hab' ich für eine Gottesstraf' angeschaut wegen der Flucht aus der Heimat. Freilich war's nicht das erstemal, daß mir bang war nach der Heimat. Schon in der Schweiz hab' ich's Heimweh kriegt, wo ich doch meistens unter deutschen Leuten war. Trotzdem war ich fest entschlossen, nicht mehr nach Haus zu kommen. Willst lesen, was ich damals gereimt hab'?«
Er zog ein abgeschundenes rotledernes Täschchen aus dem Rock, fing ein Blatt altes Papier heraus, entfaltete es und ließ mich die blasse Schrift lesen:
»Liegt nicht der Knabe, der ich war,
Daheim begraben seit. Tag und Jahr?
Ich trage seinen Namen nur
Und seines Vaters alte Uhr.
Ins Wandern bin ich ganz verloren,
Als wär' ich wo am Weg geboren.
Und ruh' ich mich ein Weilchen aus,
Lauft eine Straße durch das Haus.«
»Ich schenk's dir. In Lyon bin ich, wie gesagt, doch durchgegangen und heimzu. So gut er war, der Meister Cavaillé, er hat mir seine Tochter nicht mitgegeben. Da hab' ich ihn ja verstanden, aber die Marguerite nicht. Ich hab' ihr auf den Knien zugeredet, sie soll sich heimlich mit mir davonmachen. Geweint und geschrien hat sie genug, ist aber bei ihrem Vater geblieben. Bin heimgekommen, hab' von meinem kranken Vater den Poppenhof übernommen und deine selige Waawa geheiratet.«
»Hast du sie denn so geliebt wie die Marguerite?«
»Es gibt vielerlei Liebe.«
Diese Antwort blieb mir damals dunkel. Mein Großvater ließ die Blume fallen und nahm eine mächtige Prise: »Für diesmal genug.«
Dasselbe sage ich, Herr Rechnungsrat.
Ergebenst.
Ihr
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Lieber Freund!
So darf ich Sie wohl in Anbetracht der Aufrichtigkeit, die zwischen uns herrscht, und unseres immer intimer sich gestalteten Briefwechsels wohl nennen und bin ungemein stolz auf diese Freundschaft, um die ich hier in unserem Krähwinkel heftig beneidet werde, worüber ich mich herzlich freue, was ich auch von Ihnen annehmen zu dürfen glaube, da Sie als Dichter alles Freud und Leid der ganzen Menschheit teilen müssen. In Dankbarkeit und in treuem Gedenken an Sie und Ihre geschätzten Großeltern herzlichst
Ihr getreuer Freund
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Euer Hochwohlgeboren!
Eines prächtigen Spätsommermorgens zog ich aus, meinen Großvater au besuchen und endlich meines Vaters Heimatdorf mit dem uralten Poppenhof kennenzulernen. Meine brave Mutter hatte mir für diese Tagreise alle Taschen mit überaus genießbaren Dingen so vollgestopft, daß kaum noch mein jüngst erworbenes Maturazeugnis unterzubringen war. Stolz und froh wanderte ich erst ein Stück der schönen basaltblauen Kaiserstraße dahin, die schnurgerade nach Karlsbad führt, dann über Hügel und Tal von Dorf zu Dorf, den Kirchtürmen nach. Müde wurde ich kaum, denn damals war es noch schöne Sitte, daß ein einsamer Fußgänger, ohne erst darum zu bitten, von manch einem vorüberklappernden Gefährt aufgenommen wurde. So kam es, daß ich schon lange vor Abend den Poppenhof erreichte. Das war ein unansehnliches, mit moosigen Schindeln gedecktes Gebäu, dessen sehr ungleich hohe Teile sich nur durch inniges Aneinanderlehnen aufrechtzuerhalten schienen. Von der Gasse zum Obstgarten stieg der schmale Hofraum bis zu einer schiefen hölzernen Scheune an, so daß die braunen Bächlein von der überfließenden Jauchengrube bequem ihren Weg zur Toreinfahrt und Gasse fanden. Mein Großvater hatte seinen Besitz schon vor mehreren Jahren seiner Tochter und seinem fleißigen und gutmütigen Schwiegersohn, übergeben und lebte gute Tage. Nur unter seiner Taubheit litt er ein Wenig. Mich belustigte es, daß er, wenn jemand redete, die Hand hinters Ohr hielt, obwohl er längst nicht einmal die Stimme des himmlischen Donners vernahm. Wenn er nicht gerade in seinen Büchern las, trieb er, der gelernte Orgelbauer, allerhand Basteleien; besonders gern reparierte er Flaschinedln (Leierkästen), Dudelsäcke und Klarinetten, leimte alte Geigen und brachte lahme Uhren zum Gehen. In seiner Kammer wimmelte es neben mächtig aufgestapelten Büchern von zahllosem Werkzeug. Das behing alle Wände, bedeckte den Werktisch und sogar den Fußboden und lag dicht auf dem Bett umher. Abends kroch mein guter Großvater behutsam darunter hin in seine Federn, morgens ebenso geschickt wieder hervor. Das Kopfkissen erhöhte ein untergeschobener alter Leimtopf.
Am Abend nach meiner Ankunft kamen alle erwachsenen Männer des Dorfes, die mit dem Poppenhof verwandt waren, in der großen Stube zusammen, um mich zu sehen. Als es stockfinster wurde, entzündete man einen langen Kienspan, der am Herdofen, einem riesigen grünen Kachelbau, in einer eisernen Öse stak. Da saßen die Bauern auf den schweren Stühlen die weißgetünchten Wände und hochgetürmten Betten entlang und auf der dreiseitigen Ofenbank, ihre Pfeifen rauchend und meist schweigend. Auch ich schwieg fleißig trotz dem Gefühl, daß ich nicht übel gefiel, ja, daß ich geliebt wurde, was sich dann täglich dadurch bestätigte, daß ich von Haus zu Haus gebracht und fürchterlich gefüttert wurde. Auch dem alten, hängewangigen Pfarrer und dem vollbärtigen Lehrer zeigte man mich mit behaglichem Stolz. Mein Großvater führte mich auch auf das Kirchenchor, wo sein Werk, eine kleine schmucke Orgel, stand, und ließ mich auch meine bescheidene Kunst versuchen, während er mittels zweier starker Zugriemen, die aus dem Gehäus' hingen, den Blasebalg bediente. Dann setzte er sich selbst auf den Orgelbock und spielte piano ein mächtiges Präludium. Ich wußte, daß er davon so gut wie nichts hörte und Mitleid kam mich so heftig an, daß ich weinen mußte.
Am Tage darauf wanderten wir aus dem Dorf hinaus und gingen über eine weite Wiese. Hier auf dem kurzen Gras weidete eine Menge Rinder.
»Da hat auch der Michel, dein Vater, das Vieh gehütet wie vorher ich und seit Menschengedenken die Buben vom Poppenhof.« Er wies zum Nachbardorf hinüber: »Und die da drüben haben ihn, wie er dreizehn Jahr war, der Michel, von der Wiesen weggeholt und zu ihrem Schullehrer gemacht. Das war damals möglich, wo es noch kein neues Schulgesetz gegeben hat. Der Michel hat auch müssen in der Kirchen die Orgel schlagen und die Glocken läuten. Das hat dir dein Vater sicher erzählt. Und daß er in einem Schafstall gewohnt hat. Der Schafstall war ja zugleich die Schul'! Siehst dort auf der Hutweiden die langen Hütten? Das ist die gewesene Schul'. Drinnen in einer Nischen hat der Michel seinen Strohsack liegen gehabt und davor die Schultafel stehen. Und da hat er Schul' gehalten, der Michel, ob die Schaf daheim waren oder nicht. Da werden die Schaf mitunter gescheiter gewesen sein wie die Kinder. Gegessen hat der Michel jeden Tag bei einem anderen Bauern, am Sonntag beim Pfarrer. Ein paar Kreuzer haben sie ihm auch gegeben, dem Michel. Wie das Schulgesetz herausgekommen ist, hab' ich ihn dann nach Prag in die Lehrerbildung gegeben. Dann auch seinen Bruder, den Franz. Den Hof haben sie später ihrer Schwester überlassen. Wollten alle zwei gescheit werden und keine Bauern.«
»Du bist aber gescheit und doch ein Bauer.«
Er las mir, was ich sagte, vom Munde ab.
»Ein halber Gescheiter und ein halber Bauer«, meinte er kopfschüttelnd.
Es grüßt hochachtungsvoll
Ihr
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Lieber Freund!
Ich hoffe, Sie setzen Ihre kostbaren Erinnerungen, die mir so fröhliche Stunden bereiteten, daß ich Ihnen nicht heiß genug danken kann, was ich bei einem von mir beabsichtigten persönlichen Besuch nachzuholen hoffentlich in der Lage sein werde, fort. Das eine bitte ich noch, daß Sie den kleinsten Einzelheiten, die ja immer oder meistens das Interessanteste sind, ja nicht ausweichen, auch nicht kleineren oder größeren Unwahrheiten, welche oft gerade die Würze ausmachen, wie es uns aus Schillers »Dichtung und Wahrheit« so wohlbekannt ist.
Herzlichst Ihr inniger Freund
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Euer Hochwohlgeboren!
Im Poppenhof gab es einen achtjährigen Knaben und ein noch jüngeres Mädchen, beide scheu und still, so daß ich mit diesen meinen Mitenkeln nichts anzufangen wußte und mich täglich mit je einem Kreuzer loskaufte. Ihre Eltern hatten wenig Zeit für mich und so hielt ich mich an die Haustiere, vor allem aber an meinen Großvater, der zwar ganz taub war, aber meine Fragen meist gut von meinen Lippen las. Wir saßen gewöhnlich im Garten an einem kreuzbeinigen Tisch und vor uns lagen die Bestandteile einer alten Uhr oder eines ähnlichen Patienten. Da war es auch, wo uns ein gänzlich unverhofftes Begebnis ereilte. Meine Tante kam erregt gelaufen und berichtete:
»Ein Weiberts, ein nobles, is in uiner Kutsch'n kemma und hat'n Herrn Pfoarra gfragt, wo der Poppenhof war. Den Nuaner will s' habn. Vo Mariabod kimmt s', deutsch kua s' oba gauer nex (kann sie aber gar nichts).«
Und schon führten die Kinder eine alte, weißhaarige, ganz in braune Seide gekleidete Dame von entsetzlicher Dicke in den Garten. Sie blieb ein paar Schritte vor unserem Tisch stehen und starrte zu meinem Großvater hin. Dann trat sie näher und hub französisch zu reden an. Erst etwas schüchtern, dann immer mutiger. Sie war also eine Französin, die im nicht fernen Marienbad die Kur gebrauchte. Ich dachte sogleich an die Mademoiselle Cavaillé. Sie war es auch. Ich las es auf der Visitenkarte, die sie auf den Tisch gelegt hatte, und hörte den Namen bald auch aus ihrem breiten Mund. Mein Großvater benahm sich ganz seltsam. Nachdem er die Karte gelesen hatte, erstarrte er förmlich, sah fortan aus halbgeschlossenen Augen vor sich hin und sprach kein Wort, weder deutsch noch französisch. Marguerite legte ihr Lorgnon fort und drückte eine Weile lang ihr duftiges Spitzentaschentüchlein an die Augen. Dann nahm sie meinem Großvater gegenüber Platz und berührte mit dicken Fingern seine Hand. Ich gab ihr durch Zeichen zu verstehen, daß sie einen ganz tauben Mann vor sich habe. In dieser Stunde war er aber auch stumm, was mir ganz unerklärlich vorkam. Auch in seinem Gesicht war nicht eine Spur von Bewegung. Nun zog sie ein kleines, in rosa Samt gebundenes Notizbuch aus dem Ridikül, riß ein Blättchen nach dem anderen heraus und reichte es, eilig mit einem goldenen Crayon beschrieben, meinem rätselhaften Großvater. Er warf schließlich wohl einen Blick darauf, sagte aber kein Wort. Erst das letzte der Blätter nahm er zur Hand, schrieb einiges auf die Rückseite und schob es dem Gast wieder zu. Die Wirkung war, daß Marguerite sich jäh erhob, über ihre Schultern hinweg einen empörten Blick auf uns warf und so rasch entschwand, als es bei ihrem Alter von gewiß über die Siebzig und bei ihrer schwammigen Dicke möglich war. Ich hörte von der Gasse her ihren Wagen davonrollen. Mein Großvater erhob sich spät mit einem Seufzer und nahm mich beim Handgelenk: »Komm!«
Wir gingen übers Gartenende hinaus ins Feld. Ein Fahrweg führte zum Friedhof. Hier traten wir ein und standen bald vor einem Grab, dessen schlichtes Eisenkreuz den Namen meiner Großmutter trug. Mein Großvater ließ den Kopf sinken und betete. Das tat ich ihm nach. Dann machte er mit dem Daumen ein Kreuz in den Rasen des Grabhügels und wir gingen still wieder heim. Im Garten fand ich eines von Margueritens Zettelchen im Gras. Ich besitze es noch heute. Auf der einen Seite las ich »Puis que je vous ai tout pardonné, venez donc avec moi, afin que nous finissions notre vie en commun, vous ne manquerez de rien, car je suis assez fortunée. Réfléchissez à ma proposition, je reviendrai bientôt chercher votre réponse.«
Vielleicht sind Sie, Herr Rechnungsrat, des Französischen ohnmächtig, darum übersetze ich: »Da ich Ihnen alles verziehen habe, kommen Sie doch mit mir, daß wir unser Leben gemeinsam beschließen; es wird Ihnen nichts mangeln, denn ich bin sehr vermögend. Überlegen Sie sich meinen Vorschlag, ich komme wieder, Ihre Antwort zu erfahren.« Auf der Kehrseite des Zettels stand in derber Schrift zu lesen: »Excusez-moi, ma chère Marguerite, mais revenez dans cinquante ans; pour l'instant je désire mon repos.« »Verzeihen Sie mir, meine liebe Marguerite, aber kommen Sie in fünfzig Jahren wieder; für den Augenblick möchte ich meine Ruhe haben.«
Nun genug von meinen bescheidenen Erinnerungen an bescheidene Verwandte. Leben Sie wohl, geneigter Leser!
Hochachtungsvoll Ihr
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Liebster, bester Freund!
Gerührt danke ich vielmals und gestehe zugleich, daß ich Ihre Briefe zu veröffentlichen gedenke in der wohl sehr begründeten Hoffnung, Aufsehen zu machen und nebenbei eine Kleinigkeit zu verdienen, da man mir einen so interessanten Beitrag zu Ihrer Biographie gewiß gut honorieren wird. Ich werde den Betrag teilweise als Reisegeld verwenden, um Mit tausend Grüßen
Ihr leidenschaftlicher Freund
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Herr Rechnungsrat i. R.! Ich habe mir die Antwort auf Ihre zahllosen Briefe erleichtern wollen, indem ich Ihnen einfach ein paar Brocken vom Konzept eines Manuskripts zugesandt habe, das mein Verleger bestellt hat. Mit Ihrem verbrecherischen Vorhaben, aus meiner Arbeit Nutzen zu ziehen, kommen Sie gottlob zu spät, denn meine Selbstbiographie ist schon im Druck.
Besuchen wollen Sie mich auch, Sie ahnungsloser Zeiträuber? Excusez moi – kommen Sie in fünfzig Jahren – je désire mon repos. Schluß.
Ihr