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Lindchen und Windchen

Es war der heilige Ostermorgen, als das blaue Ungeheuer durch die Luft geflogen kam. Auf dem Chor der Dorfkirche wars, wo der Schrecken geschah und Unheil tat. Man sang gerade das Gloria in excelsis und der Schulmeister, dessen Werk diese schöne, festliche Messe war, saß klein und bucklig, aber voll heiligen Stolzes und Eifers auf dem Orgelbock. Seine junge Tochter, geheißen Lindchen, stand unter den frommen Sängern als ein überaus heller und lieblicher Diskant. Heute hatte sie zum erstenmal ihr neues Frühlingskleid angezogen, das war zart grün und mit vielen rosigen Blütensternchen bestickt. War sie je so schön gewesen, wie an dem Morgen, da das blaue Ungeheuer geflogen kam? Einer war unter den Sängern, der eine wundersame volle und sammetweiche Baßstimme hören ließ. Wendel hieß er und war ein junger Gärtner. Heimlich liebte er Lindchen schon lang und heute sah er mehr zu dem geblümten Frühlingskleidchen als ins Notenblatt, so daß er richtig einen Einsatz verpaßte.

Man sang, wie gesagt, das Gloria in excelsis und Wendel hatte als Solo das Gratias agimus Tibi anzustimmen, das dann der Chor innig wiederholen sollte. Aber er träumte gerade arg zu Lindchen hinüber, vergaß und blieb stumm. Da entriß ihm der häßliche Krämerssohn Wenzel das Blatt, aus dem beide die Noten lasen, und begann das Solo selber zu singen, wenn auch gar nicht schön. Zugleich aber kam das blaue Ungeheuer durch die Luft geflogen, vom Orgelbock her, stieß dem Wendel ins Gesicht und gab dabei braunen Staub von sich. Der Schulmeister hatte nämlich in großem Zorn sein riesiges Schnupftuch auf den säumigen Sänger geschleudert, während er mit der anderen Hand weiter die Orgel schlug. Zornig aber war er vor allem darum, weil die große Ostermesse Schaden litt, sein Meisterwerk, mit dem er heute zum erstenmal prunken und erbauen wollte. Aber auch Wendel war nicht nur erschrocken und zornig, als das blaue Ungeheuer ihn angeflogen hatte und mit stinkendem Schnupftabak überrieselte, er kränkte sich auch herzlich und schämte sich besonders vor Lindchen so tief, daß er vom Chor lief. Alles, Schulmeister und Sänger und Geiger und Bläser und Pauker, war erschrocken und verwirrt. Der Lausbub, der den Blasebalg aufzog, vergaß die Riemen zu fassen. Die schön gefügte Messe ging aus dem Leim und so büßte der arme Tonsetzer bitter seinen Zorn. Er tröstete sich aber damit, daß sein Opus zu Pfingsten um so schöner ertönen würde. Bis dahin mußte Wendel, der treffliche Baßsänger, doch wohl versöhnt sein. Wer aber an diesem Ostermorgen am traurigsten dreinsah und kaum eines frommen und fröhlichen Tons mächtig wurde, das war Lindchen. Auch ihr rosa geblümtes Frühlingskleid gefiel ihr nicht mehr. Groß erfreut war der Krämerssohn Wenzel, denn er haßte seinen Baßkameraden ebenso sehr, wie er nach Lindchen begehrte. Er sah zwar aus wie ein verbogener, struppiger Zwergbaum, und hatte keine schöne Seele, aber er vertraute darauf, daß er eines wohlhabenden Krämers Sohn war, Wendel aber ein armer Gärtnerbursch. Vom Chor lief Wendel auf die Gasse, durchs ganze Dorf, durch die Felder, durch die Wälder, als ob er hoffte, sein Leid würde doch einmal nicht so rasch mitkönnen und irgendwo zurückbleiben. Aber nein, es jagte ihn und ließ ihn nicht rasten. Oft nahm ihn auch ein reißendes Wasser mit, oft ein Sturmwind. So kam er weithin, wo keine Menschen mehr wohnten, und endlich in eine Wildnis dunklen Waldes. Da erschrak er nun über die kohlschwarzen Wildstiere, die mit ihren Quastenschwänzen schlagend, vor sich hingrasten; auch vor den hohen, stolzen Hirschen und den düster sinnenden Elchen, erst recht aber vor den Bären, die braun, dick und fett vorüberwatschelten und an den Riesenbäumen hinanschnüffelten. Aber alle diese Tiere beguckten Wendel nur mit sanfter Neugier und taten ihm nichts zuleid. Da dachte er sich: »Entweder bin ich ins Paradies geraten, oder dies ist der Wald der Lüttemaren, von dem man erzählt, daß ihn noch kein Mensch betreten hat, wenn nicht etwa auch die Lüttemaren Menschen sind, aber seltsame.« Obschon er seinen Fürwitz schalt, wanderte er weit und weiter in den Wald. Da galoppierte etwas quer an ihm vorbei, nicht auf vier Beinen, sondern auf zweien. Es war so groß wie ein Menschenknabe von kaum zwölf Jahren und weiß von Haut. Das Haar flog wie eine blonde Mähne, und es flog ein Schweif, ähnlich dem eines falben Fohlens, und flog auch ein helles, schleierhaftes Kleidchen. Im Galoppieren jauchzte der Lüttemar immer wieder hell auf. Je weiter Wendel kam, desto mehr solcher Wesen liefen über das Moos und verschwanden fern in den Bäumen. Endlich war es ganz still geworden und Nacht. Wendel kroch in einen hohlen Baum. Ehe er aber einschlief, vernahm er von ganz fern einen schönen Gesang von vielen Stimmen, zart und friedlich, wie daheim die Dorfschule zu singen pflegte. Und er sagte sich: »«Wenn die Lüttemaren also schön singen, dann sind sie nicht so wild, wie ich gemeint habe, wenn sie auch unbändig galoppieren. Morgen will ich weiterwandern und sehen, ob ich ihre Stadt finde und Unterkunft und irgendwelche Arbeit; ob ich bei ihnen vergessen kann, was mich von dannen getrieben hat.«

Am anderen Morgen, da es noch dämmerte, führte ihn die Erinnerung an den gestrigen Gesang der Stadt der Lüttemaren zu. Das waren kleine Häuser aus roter Baumrinde, gegen den Sturm mit riesigen Astgabeln an die Föhrenstämme gebunden. Dachgiebel gab es keine, denn der Sinn dieses Völkchens baute nicht weit in die Höhe. Die Stadt war leer, als Wendel dahin kam. Aber von der großen Wiese her, um die sich die Häuschen in einem breiten Ring lagerten, erklang wieder ein süßer Gesang:

»Komm, du große, goldne Spinne,
Komm, du Leuchterin, gezogen!
Kriech herauf den Himmelsbogen,
Daß der schöne Tag beginne!
Wem du gram bist, floh nach Haus,
Duckt sich scheu in Loch und Baum.
Eule, Bilch und Fledermaus
Zucken schon im Morgentraum.
Doch das Volk der Lüttemaren
Freut sich dein, der Wunderbaren.
Komm, erhelle, süßes Licht,
Welt und Wald und Angesicht!«

Wendel, der in einem Busche stak, dachte sich: Dieses Lied geht offenbar die Sonne an. Diese Leutchen singen schöne Canto, Alto und Tenore. Aber sie haben keinen Basso.

Und er trat ohne Furcht in die Wiese und rief:

»Ihr Lüttemaren, warum singet ihr keinen Baß?«

Und der König, der eine Blumenkrone trug, rief zurück: »Was ist Baß? Und wer bist du?«

Da trat Wendel unter sie und ward wie von Kindern bestaunt, auch von den großen und greisen Lüttemaren. So wenig Furcht aber, wie er, hatten auch sie. Ja, sie freuten sich, und die holde Königin sagte freundlich: »Bleibe bei uns, galoppiere mit uns und singe mit uns! Aber was ist Baß?«

»Baß ist die tiefe Stimme unten, unter allen Stimmen. Aus ihr sind sie alle emporgewachsen, Canto, Alto und Tenore. Baß ist der Vater dieser drei, der Urgrund des schönen Zusammenklanges. Kennt ihr ihn nicht?«

»Ich bin der König Tanno und dies ist meine Königin, geheißen Windchen. Wir bitten dich, singe uns deinen Baß, denn wir haben keine Ahnung.«

»Den Baß kann ich allein nicht singen, obwohl ich ein gelernter Baßsänger bin. Denn er ist ein Vater, der nur mit seinen Kindern sich hören lassen will, mit Canto, Alto und Tenore. Und dann überhaupt: Ich habe das Singen verschworen, denn es hat mir Unglück gebracht.«

»Ach«, so bedauerte der König, »dann wirst du der einzige unter uns sein, der nicht singt«.

»Außer der Moltenbabe«, setzte die Königin dazu.

»Nein, auch sie singt hie und da um die Mitternacht, aber nicht mit uns.« König Tanno sagte das mit Zögern und wie mit einem großen Respekt vor der, die Moltenbabe genannt war.

»Welches ist sie?« fragte Wendel.

»Sie ist nicht unter uns«, sagte der König verlegen.

»Sie wohnt nicht in unserer Stadt, sondern allein im Wald. Aber du wirst wohl von ihr hören, wenn du bei uns bleibst.«

»Für immer bleibe ich bei euch, denn ihr gefallet mir außerordentlich.«

»So bauen wir dir eine Hütte, und du kannst«, lächelte die Königin Windchen, »auch ein Weib bei uns nehmen.«

»Danke. Nie im Leben! Ich bin ein sehr jähzorniger Mensch, der allein bleiben soll.«

»Den Zorn wirst du bei uns verlernen. Nur die kleinen Kinder sind bei uns zornig. Sie werden sanft, wenn sie den Wald lieben lernen und die Sonne und den Mond und die Sterne.«

»Und wenn sie sich vor Gott zu fürchten und ihn zu lieben anfangen«, meinte Wendel.

»Vor wem?« fragte das Königspaar.

»Vor Gott.«

»Was ist das für ein Scherz?« trauerte Tanno. »Du tust den Mund zu einem Wort auf, lassest aber nicht hören, wen man fürchten und lieben soll.«

»Ich sage doch laut: Gott, Gott, Gott!« schrie Wendel.

»Noch immer scherzest du, öffnest den Mund wie ein Fisch, bleibst aber auch stumm wie ein Fisch. Oder es ist uns Lüttemaren nicht gegeben, dieses Wort zu vernehmen.«

Wendel dachte:

Jawohl, sie vermögen dieses Wort nicht zu hören. Sie wissen also nichts von Gott, obwohl sie die Köpfe dazu hätten, und kennen keinen Baß, obwohl sie die Stimmen dazu hätten. Das stimmt ja zusammen.

Die Lüttemaren besahen ihn noch eine Weile neugierig und freundlich, dann brachten sie große Rindenstücke von uralten Bäumen und bauten ihm ein Häuschen und darin ein Bett von Moos, König Tanno aber und Königin Windchen waren seine Nachbarn. Sie waren ein junges Paar und hatten noch kein Kind.

*

Wendel lebte unter den sanften Lüttemaren, und nährte sich wie sie von den duftigen Kräutern des Waldes, von seinen Beeren, von manch einer Frucht der Büsche und wilden Obstbäume. Auch er galoppierte, besonders wenn er an daheim denken mußte und die Bangigkeit des Herzens vertreiben wollte. Nur die Neugierde der holden Königin Windchen und aller anderen Lüttemarinnen ärgerte ihn ein wenig. Denn immer wieder fragten sie: »Was ist Baß?« und baten sie: »Singe doch mit uns!« Sie fragten es morgens und baten es abends, und wenn sie ihm begegneten, hielten sie ein im Galopp und seufzten: »Was ist Baß?« Und die Königin rief noch vor Schlafengehen in seine Türe: »Was ist Baß? Wann singst du deinen Baß?« Er wollte aber nicht singen, obwohl es ihn dazu drängte, wenn er die Morgen- und Abendlieder der Lüttemaren vernahm, denen der Baß fehlte. Es gab tiefe Stimmen, die sich mühsam zum Tenor hinanschraubten, oder lieber traurig schwiegen. Nein, sie hatten für Baß nicht ein bißchen wissendes Gehör.

Eines Abends, da es dämmerte, hörte sie Wendel wieder einmal auf der Wiese singen. Aber nicht das tägliche Abendlied, sondern ein anderes:

»Ein Kindchen ist geboren,
Ein Lüttemar, ein Lüttemar!
Um eines mehrt sich unsere Schar
Das legen wir dem König dar.
Ein Kindchen ist geboren,
Das Volk ist nicht verloren.

O schaut, o schaut, wie wohlgebaut
Das Körperchen, wie weiß die Haut!
Wie sanft und blau das Auge glüht
Und rosenrot das Lippchen blüht!
Das Naschen schnaubt, der Odem weht.
O hört, wie süß das Stimmchen kräht!
Das Herzchen pocht, das Schöpfchen bebt.
O freuet euch, das Kindchen lebt.«

Als Wendel nah gekommen war, sah er die junge Mutter gesund und glücklich im Grase sitzen, das Kind im Schoß. Der König hob es zum Munde und küßte das Haupt, mit blondem Flaum geschmückt, während der väterliche Lüttemar mit stolz gespreizten Beinen und verschränkten Armen dastand. Endlich zogen alle feierlich davon, und der König trug das Kind voran. Wendel ging mit und fragte, wohin der Weg gehe so spät am Tag. »Zur Moltenbabe«, sagte ihm einer. »Unsere Kinder kommen taub zur Welt, aber die große Moltenbabe macht sie hören.«

»Ach, die Moltenbabe! Kann ich sie sehen?«

»Komm mit, aber tritt leise auf und tu kleine Schritte wie wir, wenn es zu ihrer Höhle geht. Sie hat ein feines Gehör.«

»Wird sie mich denn nicht sehen?«

»Sie ist blind.«

Wohl mehr als eine Stunde lang zog man durch den finsteren Wald. Dann kam man zu einem kleinen Hügel, der ganz mit Dornengestrüpp bewachsen, innen aber hohl war. Darinnen hauste die große Moltenbabe. Wendel erschauerte vor ihrem Anblick und die anderen auch. Es war ein beträchtlich großes, uraltes Weib, sitzend auf einem Stein, gelehnt an die Erdwand der großen Höhle, die von Tausenden von Glühkäfern erleuchtet war. Sie stak in einem mächtigen Pelz, der aus mancherlei schäbigem Tierfell zusammengeflickt war. Auf dem Kopf wuchs ihr eine riesige Mistelstaude, die war wie eine struppige Krone. Aus den Schläfen fiel langes Gras und hing die faltigen braunen Wangen herab. Die Augenhöhlen waren mit Harz gefüllt, das gelb heraustränte. Füße hatte sie keine, sondern die verholzten riesigen Beine endeten in graue, krumme Wurzeln, die in der nackten Erde staken.

Wendel hatte sich behutsam vorgedrängt und fuhr ordentlich zusammen, als die gewaltige rauhe Stimme der Moltenbabe erscholl. Der König hatte sie angeredet, das Kind auf den Händen.

»Ein Bübchen ist geboren
Und taub sind seine Ohren.
Verleih ihm deine Gabe,
O große Moltenbabe!«

Worauf sie antwortete:

»Laß mich prüfen Was und Wie,
Leg den Wurm auf meine Knie.«

Und sie tastete das Bübchen ab, und als sie erkannte, daß es ein echter Lüttemar war, hub sie an zu singen, während sie die beiden langen, kralligen Zeigefinger an die Ohren des Kindes hielt:

»Seid gehorsam meinem Finger,
öffnet euch, verschloßne Dinger!
Öhrchen rechts und Öhrchen links
Hör, was rechts und links und rings
Rauscht und redet, weint und lacht,
Was da kräht und krächzt und kracht,
Was da poltert, klingt und klirrt,
Saust und säuselt, surrt und sirrt!
Hör im Wind die Rispe schwingen,
Stäubchen in der Sonne singen,
Bäume wachsen, Gräser sprießen,
Läuse schreiten, Mücken niesen.
Hör, was laut sich regt und still,
Nur nicht das, was ich nicht will.
Was sie klug im Sinne habe,
Weiß allein die Moltenbabe.«

Dann griff sie zweimal zu Boden und schaufelte auf die Fingerkralle je ein Körnchen Molte, lockere Erde nämlich, wie sie von der Höhenwand gerieselt war, und schob sie dem Kindchen in die Ohren.

O du Teufelsweib, dachte Wendel, jetzt weiß ich, warum diese Lüttemaren das Wort »Gott« nicht vernehmen.

Die Lüttemaren gingen aus dem hohlen Hügel, nachdem sie sich vor der Moltenbabe verbeugt hatten. Das Kind trug jetzt der Vater, der glücklich immer wieder sagte:

»Mein Sohn kann jetzt horchen und gehorchen. Lob der großen Moltenbabe!«

Und alle begannen im Mondschein durch die Bäume zu galoppieren und zu jauchzen. Da sie aber endlich ihre Häuser aufsuchten, sangen sie:

»Nacht ist schön und schön ist Mond,
Aber Schlaf ist gut.
Sei von Ahnde heut verschont,
Was im Walde ruht!
Komm, o Schlaf, du süße Not,
O du scherzhaft kurzer Tod,
Du Erquicker, du Beleber,
Kräftegeber, Träumeweber!
Schlafe jeder, wo er wohnt,
Wo sein Weib und Kindchen ruht!
Nacht ist schön und schön ist Mond,
Aber Schlaf ist gut.«

An der Schwelle des Königshäuschens, das ein wenig höher war als die übrigen, begegnete Wendel dem Königspaar und fragte:

»Was singet ihr da von Ahnde?«

»Wir meinen die große Ahnde, an der jedes von uns einmal sterben muß.«

»Und was ist das, die große Ahnde?«

Aber die Königin Windchen fragte ein bißchen schnippisch:

»Was ist Baß?«

Die große Ahnde aber war die einzige Krankheit, die einen Lüttemar befallen konnte. Einmal kam sie über jeden und er starb, ob jung, ob alt, nach kurzem oder auch langem Leiden dahin. Es war eine Art banges Verlangen, das nicht wußte, wonach es verlangte. Wer von der Ahnde heimgesucht war, der galoppierte erst rasend, aber das half nichts, und er schlich dann traurig von Versteck zu Versteck. Endlich tat er, was ein gesunder Lüttemar niemals tat. Er verließ eines Abends die Berührung mit der Erde und stieg auf einen hohen, sehr hohen Baum und bis in den Wipfel. Da saß so ein Armer nun, schaute unverwandt in die Sterne und hielt die Arme erhoben, bis er tot durchs Geäst hinabfiel. Am andern Tag begruben ihn die Lüttemaren schweigend tief unter Moos und Steinen. Die Arme blieben aber auch im Grabe noch erhoben und sie zu beugen vermochte niemand. Das war die große Ahnde, von der niemand zu sagen wußte, woher sie kam und was sie im Grunde für ein Ding war. Auch die es ahndete, konnten nur sagen, daß es sie ahndete.

Einmal, ob der schönen Frühlingsnacht wandernd im Wald, kam Wendel dazu, wie ein Lüttemar vom Baume stürzte. Er bettete ihn ins Moos und der Mond zeigte ihm das traurige Antlitz des Toten. Damals hatte Wendel schon das wenige erfahren, was die Lüttemaren so selten und ungern von dieser Krankheit und solchem Tode raunten. Und er fragte den toten Lüttemar:

»Warum hast du den Baum bestiegen? Wolltest du etwa der Wipfel des Wipfels sein? Wolltest du Baum sein über allem Baum und mit deinen Armen gleichwie mit erhobenen Ästen in den Himmel wachsen? Aber kein Lüttemar ist ja hoffärtig. Oder hast du etwas in den hohen, weiten Lüften gesucht, in den fremden Sternen? Ein Zeichen oder eine Begegnung, ein Erleben oder eine Ausruhe? Hat dich so tödlich etwa nach dem geahndet, dessen Name dein armes Moltenohr nicht vernehmen konnte?«

Wendel faßte das Ende des prächtigen Pferdeschwanzes an:

»Lüttemar, warst du ein Tier, warst du ein Mensch?«

Als er weiterwanderte, redete er vor sich hin:

»Auch mich ahndet. Nach meinem Dorf, meinem Garten, meiner alten Schlafkammer und nach mehr und mancherlei. Aber diese Ahnde soll mich nicht töten, ich will sie besiegen. Wie aber, wenn ich nur immer wandre und galoppiere, esse und trinke und nicht arbeite? Es ahndet mich ohnehin, einen Garten zu bauen. Für wen? Für Windchen. Ahndet mich nicht auch nach Windchen selbst, obwohl ich ihr nahe bin? Und ahndet mich nicht zugleich fort von ihr, die meine Nachbarin ist, und ich wandre darum des Nachts wie heute? Und ahndet mich nicht, unter den Lüttemaren der König zu sein? Pfui, ich bin ein Topf voll allerhand Ahnden.«

*

Wendel begann also am nächsten Tag der Königin einen kleinen Garten zu bauen. Die allerschönsten Blumen und Stauden des Waldes verpflanzte er unter ihre Fenster, das gab wundersam Beete und Büsche. Und als alles fertig war, lächelte Königin Windchen schön und sagte:

»Ich danke dir. Dies also ist ein Garten. Aber was ist Baß?«

Da ward dem guten Wendel unsäglich weh und er galoppierte fürchterlich durch den Wald, rufend: »Arges Windchen, liebes Windchen!« Erst abends kehrte er müde zurück, da man das Lied sang:

»Nacht ist schön und schön ist Mond,
Aber Schlaf ist gut.
Sei von Ahnde heut verschont,
Was im Walde ruht!
Komm, o Schlaf, du süße Not,
O du scherzhaft kurzer Tod,
Du Erquicker, du Beleber,
Kräftegeber, Träumeweber!
Schlafe jeder, wo er wohnt,
Wo sein Weib und Kindchen ruht!
Nacht ist schön und schön ist Mond,
Aber Schlaf ist gut.«

Mitten unter den Lüttemaren erhob nun Wendel seine Stimme, und sein gewaltiger Baß legte sich zu unterst in den Gesang von Canto, Alto und Tenore, ihn tragend, ihn durchwehend, ihn wundersam stärkend, reifend und vollendend. Als das Lied ausgesungen war, standen alle beglückt um das Haus des Königs. Der tat endlich einen Jauchzer und rief:

»Er ist gekommen, der Vater von Canto, Alto und Tenore, er ist da, der Baß, der Baß, der Baß! Den Lüttemaren hat ein neues Leben begonnen und ein neues Glück! Wie konnten wir nur so lange ohne Baß leben! Ohne Baß, Baß, Baß!« Die Königin aber sagte:

»Du, o Wendel, bist der Mann der Männer. Jetzt freut mich auch mein Garten sehr.«

Auch sie tat einen Jauchzer und alles Volk tat ihr nach.

Von diesem Abend an lernten die Lüttemaren eifrig Baß singen, und es geschah leicht. Sie freuten sich dessen sehr, aber sie wurden auch täglich nachdenklicher und ernster von Wesen, voran der König, der viel einsam dahinging, als ob er die große Ahnde hätte. Und alle sahen sich oft, mitten im Galoppieren innehaltend, im Walde um, als ob sie Neues sähen und Rätselhaftes. Eines Morgens trat der König aus seinem Haus und seine Königin schmiegte sich besorgt an seine Schulter. Und er rief es immer wieder aus wie eine große Klage:

»Was ist der Baß aller Dinge? Was ist der Baß aller Dinge?«

Die Lüttemaren sammelten sich um ihn und klagten ebenso:

»Was ist der Baß aller Dinge?«

Wendel rief ihnen zu: »Das möchte ich euch ja gerne sagen. Aber ihr höret es nicht. Waschet erst eure Ohren, aber gründlich! Heraus mit der Molte!«

Sanft entgegnete da Tanno, der König:

»Groß bist du, o Gast und Liebling der Lüttemaren, aber vielleicht ist die Moltenbabe noch größer, verzeih mir. Du hast uns den Baß gelehrt, aber ohne sie könnten wir gar nicht hören.«

»Ich frage: Warum kommet ihr taub zur Welt?

Und ich sage: Leicht hat die Moltenbabe zu öffnen, was sie selbst verschlossen hat. Alles Getier hört, sobald es lebt, nur die Lüttemaren können es nicht. Das kann niemand anderer verschulden, als die Moltenbabe, wenn ich auch nicht weiß, wie sie es macht.«

Da warf Windchen hinzu, schüttelnd ihre goldene Mähne: »Sie ist den Frauen, die ein Kindchen in sich tragen, gut. Immer tut sie ihnen kund, ob es ein Bübchen wird oder ein Mädchen.«

»Aha, hab ich mir's doch gedacht, daß sie sich da einmischt, die Alte. Und wie tut sie es, holde Königin?«

»O, da kommt einmal etwas ins Haus geflattert und weckt die Frau aus dem Mittagsschläfchen. Soll ein Mädchen kommen, ist's eine Taube, wenn ein Bübchen, so ein Tauber.«

»Da haben wir's ja!« rief Wendel. »Die arme Frau verschaut sich, und ihr Kindchen wird eine Taube oder ein Tauber.«

Da erbleichte der König:

»So schlechte Witze machst du? Der Bauch schmerzt mich.«

»Nicht ich, sondern die Moltenbabe macht diesen schlechten und zugleich bösen Witz. Ihr guten Lüttemaren wisset nicht, welche Gewalt und Tücke im zwiefältigen Sinn der Worte sein kann.«

»Mich schmerzt das Herz«, klagte Windchen, »weil du so kuriose Dinge träumst. Was aber der Baß aller Dinge ist, wissen wir immer noch nicht.«

Und alle wandten sich traurig von Wendel und gingen einem großen Teich zu, denn es war der Tag des ersten Frühlingsbades im Jahr. Wendel rief ihnen nach:

»Hinein ins Wasser! Heraus mit der Molte!«

Dann ging er in sein Häuschen, um vom Honig zu essen, den er den Bienen abgebettelt hatte. Aber in dem Holztopf wimmelte es von vielen, vielen Wespen, denn Wendel hatte des Deckels vergessen. Den schlug er nun schnell auf den Topf und die Näscherinnen waren gefangen. Sogleich trug er sie zum Teich, in dessen Mitte Lüttemaren badeten. Sie standen bis zu den Hälsen im Wasser, und ihre gelben Mähnen schwammen dunkel vor Feuchte auf dem silbernen Spiegel. Da warf Wendel den Wespentopf unter sie. Der verlor dabei seinen Deckel. Allsogleich stoben die erschrockenen Wespen heraus und da sie mitten im Teich nicht anders wußten, besetzten sie die Köpfe der ebenso erschrockenen Lüttemaren und stachen vor sinnlosem Ärger. Wendel sah, wie alle Köpfe untertauchten, um sich zu retten, und rief:

»Gründlich, Gründlich! Heraus mit der Molte!«

Die Wespen aber kamen endlich ans Ufer zurückgeflogen und stachen Wendel ausgiebig ins Gesicht. Er floh in sein Häuschen und verkroch sich ins Moosbett. Drei Tage blieb er da, denn er schämte sich seines verschwollenen Aussehens. Aber auch die Lüttemaren blieben daheim. Sie sangen nicht und lachten nicht, denn es bangte ihnen vor der Stille des Waldes und vor der Moltenbabe. Endlich guckte Wendel zur Tür hinaus, sah, wie ein Schwarzes in Windchens Fenster flatterte und hörte, wie es eifrig gurrte. Aber es entging ihm auch nicht, wie die Königin es allsogleich verjagte.

Nach drei Tagen trat Tanno, der König, in Wendels Tür: »Länger ertrag ich's nicht. Was ist der Baß aller Dinge?«

»Rufe das Volk zusammen, und ich will es euch lehren, denn ihr habet im Wasser reine Ohren bekommen.«

Da wandte sich der König um und rief stark. Es kam Windchen und es kamen alle.

Und Wendel sprach den Namen Gott aus. Obwohl ihn die Lüttemaren zum erstenmal hörten, erschauerten sie und beugten sich tief. Da er sie zu lehren begann, fürchteten sie sich und rückten zusammen. Da er weiterredete, freuten sie sich gewaltig und furchtlos. Und da er geendet hatte, galoppierten sie durch den Wald, jauchzend:

»Wie schön ist der Wald geworden! Es gibt doppelten Frühling.«

Auch Wendel galoppierte und dabei erwischte er immer wieder einen beim Pferdeschwanz und fragte:

»Fürchtest du noch die Moltenbabe?«

Und jeder antwortete: »Nimmer!«

*

Die Zeit des Abendliedes war da. Aber der König kam weder zur Wiese noch war er im Häuschen zu finden. Da riefen sie untereinander:

»Hat er etwa die große Ahnde?«

»Ja«, rief des Königs Stimme hinter einem Busch, wo er unter einer riesigen Föhre stand. »Die Ahnde hab ich, aber nicht die große, sondern die ganz große; nicht die alte, sondern die neue; nicht die unwissende, sondern die wissende; nicht die trauernde, sondern die glückselige.«

Und als alle um ihn waren, sagte er fröhlich:

»Von nun an werdet ihr an dieser neuen und heiligen Ahnde sterben und aussterben, o meine Lüttemaren. Euer König stirbt voran. Aber erst will er euch ein neues Abendlied lehren.«

Er sang mit bewegter, aber doch friedsamer Stimme:

»Wald ist schön und schön ist Welt,
Aber Tod ist gut.
Sei ihm unser Sinn erhellt!
Dunkel träumt das Blut.
Tod ist scherzhaft kurzer Schlaf
Dem, den rein die Stunde traf.
Tod ist Freund, nicht Widersacher,
Ewigmacher, Seligmacher,
Wenn dem Erdengrab verfällt
Fleisch, Gebein und Blut.
Wald ist schön und schön ist Welt,
Aber Tod ist gut.«

Worauf er seine Blumenkrone ins Moos legte und Windchen umarmte: »Leb wohl, unser Kindchen wird nicht taub sein.«

Und zu Wendel sprach er lieb:

»Hab Dank und finde heim in dein Dorf.«

»Zuvor hab ich eins mit der Moltenbabe zu reden.« Dazu dachte er heimlich: »Und vielleicht ein anderes mit dem holden Windchen.«

Nun sangen die Lüttemaren das neue Abendlied, während König Tanno den Baum hinanstieg, von Ast zu Ast bis in den Wipfel. Da saß er nun droben, bis die Sterne aufgegangen waren. Dann hob er die Arme, jauchzte auf und sank herab. Ein Ast gab ihn sanft dem andern. Unten hatten die Lüttemaren schon ein Grab gescharrt und jetzt begruben sie den König hinein. Die Königin weinte sehr und hörte zu weinen erst auf, als sie Wendel ins Antlitz sah. Da lächelte sie und reichte ihm die Blumenkrone. Er aber nahm sie und trug das Ding am Handgelenk.

Noch waren die Lüttemaren auf dem Heimweg, als die Moltenbabe in ihrem struppigen Hügel also losbrach:

»Welche Witze, welche Tänze,
Welche Zicken, welche Pflänze,
Fremden, frechen Firlefänze,
Greuel ohne Grund und Grenze!
Euch vertilg ich noch zur Gänze
Mittendrin im schönsten Lenze,
Ihr verrückten Pferdeschwänze!«

Dabei schüttelte sie ihren Pelzkittel und blähte die Backen, daß der Wind scharf aus der Höhle in den Wald fuhr. Dies war aber der sogenannte Kehrwind, den die Lüttemaren fürchteten. Denn er kehrte immer nach wildem Toben um und kehrte wie ein Besen alles zusammen, was nicht gut in die Erde verwachsen war, und kehrte es vor die Höhle der Alten. Diese fuhr jetzt zu zürnen fort:

»Wer hat euch so schlau verlockt,
Wer hat dies mir eingebrockt?
Daß ihr meutert, daß ihr bockt?
Meine guten Tauben jaget,
Streng verbotne Worte saget,
Neue, fremde Lieder waget?
Wollt mein feines Ohr beschummeln?
Hör euch doch im Walde bummeln,
Tummeln, rummeln und wie Hummeln
Eifrig tiefe Töne brummein.
Wind, fahr hin die kreuz und quer,
Pack das Pack und kehr es her!«

Und sie drohte mit ihren holzigen Fäusten zur Höhle hinaus:

»Ha! Ich weiß den fremden Jungen,
Der zu euch ist eingedrungen,
Dem der wüste Streich gelungen,
Der euch gründlich umgeschwungen,
Mein Geheimnis frech entrungen
Und den Baß euch vorgesungen.
Ha, er sei vom Pfuhl verschlungen!
Denn ein Wort, euch nie erklungen,
Ist ihm keck vom Maul gesprungen,
Sitzt auf euern dummen Zungen,
Hat euch fürchterlich bezwungen.
Wind, fahr hin die kreuz und quer,
Pack das Pack und kehr es her!«

Er tat seine Schuldigkeit, der Wind, und als er ausgerastet hatte, staute sich vor der Höhle der Moltenbabe eine Menge von Astwerk, Baumzapfen, Gewürm, Kröten, Mäusen und Nattern, von Hasen, Elchen, Bären, Dachsen, Füchsen, Lüchsen und Lüttemaren. Auch Wendel war dabei. Er wand sich aus dem Gewimmel und sprang mutig in die Höhle, die wieder von Tausenden von Glühkäfern erleuchtet war.

Ich erwürge dich, du altes Ungeheuer! So hätte er sagen mögen, aber er sagte nicht so, geschweige denn, daß er es tat. Denn er war unter den Lüttemaren zu sanft geworden, besonders seit des Königs Abschied. Er seufzte jetzt nur:

»Liebe Moltenbabe, deine Zeit ist aus. Bekehre dich zu Gott und zum Tod.«

Da geriet das Weib in tolle Wut, sprang jäh von ihrem Stein auf und wollte sich auf Wendel stürzen. Aber der Sprung entwurzelte ihre Beine und ihre Kraft. Eine Wolke von Molte stäubte um sie. Zitternd und zuckend lag sie zu Wendels Füßen und er sah, wie sie rasch verdorrte. Die Glühkäfer aber stoben, ein Funkenschwarm, zur Höhle hinaus. Wendel floh schaudernd und gerade noch zur rechten Zeit, ehe der Hügel einbrach, und die tote Moltenbabe begrub.

Bei der fröhlichen Heimkehr erschien Windchen im Mondenschein dem Wendel überaus schön. Als sie aber flüsterte:

»Die Blumenkrone ist bei dir«, gab er dennoch die Antwort:

»Ja, aber ich will heut nacht alles noch überschlafen.«

*

Morgens erwachte Wendel aus tiefem Schlaf. Er hatte aber nichts überschlafen. Als er zum Fenster hinaussah, gewahrte er allsogleich, daß Windchens Garten dahin war.

»Also hat ihn der Wind brechen dürfen und Gott hat ihn nicht gehütet.«

Er ging zum anderen Fenster und sah einen zartgrünen Strauch zwischen den Bäumen. Der war unversehrt und hatte viele rosige Blütensterne. Hart an ihm krümmte sich ein schwarzer Zwergbaum und es war, als bedränge er mit seinen dürren Ästen jenen blühenden Strauch. Da ward Wendel jäh von Erinnerungen erfüllt.

»Lindchen!« seufzte er auf und »Wenzel!« knirschte er.

Dann nahm er die Blumenkrone, trug sie hinaus und legte sie still in Windchens Fenster, ohne hineinzusehen. Und wie besessen galoppierte Wendel davon, in den Wald hinaus, bis er den Weg fand, den er einst gekommen war.

*

Es war der heilige Pfingsttag. Auf dem Chor der Dorfkirche räusperten sich eben die Sänger fürs Gloria in excelsis, als Wendel bescheiden zu ihnen trat. Sie hatten keine Zeit, darüber zu schwätzen. Aber der Schulmeister wäre vor Freude fast vom Orgelbock gefallen und Lindchen glühte rot und mußte erst tüchtig schlucken, ehe sie mit den andern zu singen anhob. Es war das Opus ihres Vaters, das zu Ostern so schlimm verunglückt war. Gerade wollte der Krämerssohn Wenzel das Solo singen, da nahm ihm Wendel das Notenblatt aus der Hand. »Gratias agimus Tibi«, erklang stark und doch weich sein Baß und so innig, wie niemals. Zu Lindchen hatte er schon einen Blick hinübergeworfen und es ihr angesehen, daß sie voll der hellen Freude war.


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