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Die Brüder Vogel

Der Postmeisterssohn und Volksschüler Peter Vogel war Nichtraufer, also ein sonderbarer Kauz und das Gegenteil von seinem jüngeren Bruder Guido. Dieser erfüllte den Marktflecken mit dem Ruhm seiner Siege auch über ältere Exemplare der Bubenhorde, jener wich auch dem aussichtsvollsten Kampf aus. Er mochte einfach nicht. Frozzeleien, Anrempelungen, sogar Verwamsungen bei Lehrer und Katecheten behandelte Peter mit eisiger Verachtung. Höchstens, daß er dem Chor der Spötter zurief: »Ich pfeife auf euch.« Guido unternahm es oft, Peter zu rächen, meist mit Glück. Er hing an seinem geistig überlegenen Bruder mit heißer Liebe und Verehrung und war weit davon entfernt, ihn für schwach oder gar feig zu halten.

Er wußte, wie stark Peter daheim war. Wenn es galt, im Postamt eine schwere Kiste heben zu helfen, Kohlen aus dem Keller zu schleppen oder hartes Brennholz zu spalten, dann zeigte Peter, daß er Muskeln hatte. Ein Feigling war er auch nicht. Er fürchtete sich nicht, im Kabinett allein zu schlafen oder in der Dämmerung über die Friedhofsmauer zu blicken oder vom Gemeindearzt sich einen Zahn reißen zu lassen. Aber die öffentliche Bubenmeinung hielt Peter für feig und das schmerzte Guido unerträglich. Er hatte die Leidenschaft, seinen Bruder bei jeder Gelegenheit zu rühmen. »Mein großer Bruder spielt Schach mit dem Vater. – Mein großer Bruder löst mit der Mutter schwere Kreuzworträtsel auf. – Mein großer Bruder kommt ins Gymnasium und wird Professor.«

Mit der sicheren Aussicht, von Guido verprügelt zu werden, wagte der kleinste Schropp, der Schmiedsohn Pepi, zu sagen: »Weil der Peter feig ist, wird er Professor.« Was hätte Guido dafür gegeben, hätte sein Bruder ein einziges Mal solch einen Frechling gezüchtigt. Hie und da bat er ihn schüchtern darum, aber Peter rümpfte nur die Nase: »Meinst, ich gebe mich ab?« Endlich ersann Guido einen verheißungsvollen Versuch, seinen Bruder zum Dreinhauen zu bringen. Der Plan war ziemlich abenteuerlich. Sein Urheber lief Gefahr, selbst halb oder ganz tot geprügelt zu werden. Aber das schreckte sein tapferes Bruderherz durchaus nicht ab.

Eines sommerlichen Nachmittags wurde Peter, wie es öfter geschah, von seinem Vater damit betraut, eine Depesche nach einem wohl eine Stunde weit entlegenen Gutshof zu tragen. Diesmal begleitete ihn Guido nicht, sondern suchte sich auf dem Marktplatz ein kleines Rudel Lausbuben zusammen und eröffnete ihnen:

»Ich muß mich schnell als Räuber anzieh'n. Aber wir haben zu Haus' keine solche Sachen. Jeder muß mir was bringen.«

»Willst du Theater spielen?«

»Nein, es geht im Ernst. Ihr werdet was erleben.«

Nicht lange, so hatte der Schusterssohn Toni einen schäbigen väterlichen Rock dahergebracht, der Naz eine wüste Pelzhaube seines Vaters, des Nachtwächters. Vom Gemeindearzt entlieh sein Sohn Kurt eine eigene Flasche aus schwarzem Glasguß in Form einer riesigen Pistole. Guido selbst entwendete daheim eine volle Schachtel Schuhwichse, um sein Gesicht zu schwärzen. Die Neugier der Buben war heiß, aber Guido verriet nur wenig von seinen Absichten.

Um so erregter folgten sie ihm, als er befahl: »Auf zur alten Schäferei!«

Das war eine Ruine, von viel Gestrüpp durchwachsen und als romantischer Spielplatz der Horde wohlbekannt. Etwa zehn Schritt weit führte ein schmaler Weg den Grashügel herab, der kürzeste nach dem jenseits im Tal gelegenen Gutshof.

»Du willst wohl mit uns Räuber spielen und selbst der Räuberhauptmann sein?« fragte der Nachtwächterssohn mißmutig.

»So was Altes spiel' ich nicht«, erklärte der Schustertoni.

»Seid ruhig, ihr sollt ja gar nicht Räuber spielen. Es geht im Ernst. Ich bin der Räuber und ihr schaut zu.«

»Du willst jemand überfallen und ermorden? Mit dem gläsernen Pistol? Das darf nicht zerbrochen werden.«

»Sei ruhig, Kurt. Das Pistol ist nur zum Erschrecken.«

Guido selbst war zum Erschrecken, als er sich in einem Winkel der Ruine in einen Räuber verwandelt hatte; wenigstens flößte sein Anblick den Genossen des Abenteuers solche Hochachtung ein, daß sie gehorchten, als er befahl: »Still sein, sonst verpatzt ihr alles!«

Er selbst lugte beständig durch das dornige Gestrüpp nach der Höhe des Hügels, von der sich der Gehsteig herabschlängelte. Sein Gesicht war so dick mit Schuhwichse beschmiert, daß die übrigen nicht merkten, wie es etwas ängstlich wurde. Die ebenfalls geschwärzten Hände des sonst so Tapferen umklammerten die schußbereite Pistole immer schlapper und zitterten ein wenig, als das ausersehene Opfer des Raubüberfalls auf der Höhe des Hügels sichtbar wurde und den Steig herabgeschlendert kam. Es war aber nicht eine gewöhnliche Furcht vor dem Stärkeren und vor wohlverdienten Hieben, Guido ging ja darauf aus, Hiebe zu bekommen und dem geliebten Peter den Ruhm des Tapferen und Siegers aufzudrängen und endlich so etwas wie Familienehre zu retten. Aber die Verehrung für den großen Bruder hemmte ihn und machte ihn beben. Er sollte Peter mit der Roheit eines Straßenräubers angreifen! Und doch rappelte er sich im letzten Augenblick zusammen, als die Bubenstimmen hinter ihm flüsterten: »Dein Bruder geht da drüben, der Feigling.« – »Der Herr Professor.« – »Wenn er dich sieht, lauft er davon.« – »Vor seinem kleinen Bruder rennt er davon.«

Mit der Wut, die eigentlich den Spöttern hinter ihm galt, stürzte der Räuber aus dem Gebüsch, hielt Peter die schwarze Pistole entgegen und keuchte mit verstellter Stimme: »Geld oder Leben!«

Die Antwort erfolgte blitzschnell. Ein Faustschlag schleuderte die furchtbare Waffe aus der Räuberhand. Fast zugleich erhielt das Wichsgesicht eine Dachtel, daß es hellere Stellen zeigte. Daran schloß sich eine derbe Balgerei. Guido schien in der Leidenschaft des Kampfes vergessen zu haben, wer sein Gegner war. Dieser erkannte den seinen offenbar nicht, denn er riß ihn zu Boden, kniete auf seinem Bauch und hieb mit der Faust tüchtig überallhin, wo sich Guido mit seinen Armen nicht decken konnte.

Das Schauspiel war zu schön und aufregend, als daß die Zuschauer im Gestrüpp ruhig hätten zusehen können. Sie gaben immer lautere Schreie der Begeisterung von sich und liefen schließlich aus dem Versteck. Da war aber Peter auch schon stutzig geworden. Er ließ ahnungsvoll von seinem Räuber ab, der sich, einige Körperstellen heftig reibend, aus dem Gras erhob und der Zuschauerschaft jubelnd zurief:

»Ihr Lauskerle, seht ihr jetzt, daß mein großer Bruder Kraft hat und kein Feigling ist?«

Dann zog er den Schusterrock aus, holte Kappe und Pistole aus dem Gras und warf alles den Lieferanten zu.

Peter aber stand mit verschränkten Armen da und sagte ruhig und freundlich: »Will vielleicht einer oder der andere von euch auch seine Prügel kriegen, so soll er zu mir kommen. Heut' bin ich sehr gut aufgelegt.«

Da liefen sie alle.

Peter Vogel aber ging mit Guido Vogel stillschweigend zum nahen Bach und wusch ihm die Schuhwichse zärtlich vom Gesicht.


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