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Vor dem ersten Weltkrieg gab es um den Wiener Kaiserthron herum bekanntlich reichlich viel Erzherzoge. Einer von ihnen hatte sich an der schon in saftiges Grün ausschweifenden Peripherie Wiens eine schöne Villa bauen lassen, in der er mit seiner Gemahlin und einer halbwüchsigen Tochter beträchtliche Teile des Jahres verbrachte. Etwas näher der Stadt zu bewohnte eine kleinere Villa der kleine, dicke, etwa fünfzigjährige Dr. K., Direktor und Lateinlehrer an einem Gymnasium. Er begegnete dem Erzherzog nicht selten in der schönen, mit Akazien besäumten Straße, da es diesem hohen Herrn des öfteren beliebte, zu Fuß einher zu schlendern. Bei diesen Begegnungen grüßte nun Dr. K. so ehrerbietig, daß er nachgerade stark auf- und gefiel und der Erzherzog sich durch seinen Sekretär nach Name, Stand und Ruf des sympathischen Mannes diskret erkundigen ließ. Das Ergebnis war erfreulich: Dr. K. war ein hervorragender Lateiner und Pädagog, ein Ehrenmann, ein Patriot. In der Klasse geziemend energisch, daheim hingegen verheiratet. Ein wenig vergeßlich, ein wenig zerstreut. Diese nahezu fulminante Beschreibung des Dr. K. reizte eines Tages den Erzherzog, ihn als Lateinlehrer für seine halbwüchsige Tochter zu engagieren, die privat an einem Mädchengymnasium studierte. Der Sekretär schrieb ihm einen schönen Antrag und bat ihn, nach gebührender Überlegung am soundsovielten September gegen Abend im Garten der erzherzoglichen Villa vorzusprechen. Der Doktor war glücklich. Er sollte eine Verbindung zum Hof bekommen. Wer weiß, welche glänzende Karriere ihm bevorstand, wenn eine hohe Protektion es wollte. Erst Hofratstitel, dann Dozentur und Professur an der Universität, dann vielleicht Unterrichtsminister, Exzellenz, Ordensband – schade, daß er keine Kinder hatte, die von der erzherzoglichen Protektion naschen konnten! Seine Frau und Gebieterin ließ sich ihre Freude wenig merken und sagte immer wieder: »Wenn du dir nur die Geschichte in deinem Ungeschick nicht verpatzen tust!«
Am frühen Morgen des soundsovielten September fuhr die Gattin des Dr. K. erschrocken aus dem Schlaf. Es hatte gekracht, und Scherben fielen zu Boden. Im spärlichen Sonnenlicht, das trotz der Jalousien ins Schlafzimmer drang, sah sie ihren Gatten bei seinem Bett stehen. Seine. Hand hielt einen Henkel mit einem porzellanenen Fragment daran. »Schön fängt der Tag an!« rief sie böse. »Man sollte dir ein Bett aus Gummi und kein Messingbett geben, und kein feines Porzellangeschirr, sondern einen Blechkanister.«
»Beruhige dich doch! Das kann jedem Menschen einmal passieren.«
»Mir nicht, Willibald. Ich habe eine bessere Erziehung genossen. Man könnte verzweifeln.«
»Ist es denn solch ein Ding wert, daß man so schreit?«
»Das Ding war wertvoll. Ich habe es in die Ehe gebracht als vielleicht das schönste Stück meiner Ausstattung. Es war so edel geformt und hatte einen wundervollen blauen Erdbeerkranz um – um die Taille. Es hat von meiner seligen Großmutter gestammt, und ich habe es so viele Jahre lang mit Pietät gehütet und gepflegt.«
Sie vergrub sich in die Kissen und weinte.
Beim Frühstück schwieg sie erst eisig, dann brach sie aus: »Gegen alles wütest du, was schön und ehrwürdig ist.«
»Laß doch schon, Amelie. Alles läßt sich ersetzen.«
»Nein, kaum wird man etwas mit einem stilvoll gehaltenen Kranz von Erdbeerblättern und Früchten zu kaufen kriegen.«
»Ich werde suchen gehen.«
»Und so eine Form, vom ästhetischen Standpunkt nämlich.«
»Ich werde suchen und finden, verlaß dich darauf, liebe Amelie.«
»Aber wann! Unterdessen wird er dir sehr abgehen, wie ich dich kenne.«
»Inzwischen gibst mir halt einen Ersatz. Irgendwo im Haus wird sich wohl eine alte Suppenterrine finden.«
»Willibald! Du machst boshafte Scherze. Ich bestehe darauf, daß du heute noch in der Stadt die Porzellanläden absuchst.«
»Hast du denn ganz vergessen, daß ich mich heute dem Erzherzog vorstellen soll?«
»Erst zwischen fünf und sechs.«
»Vormittags muß ich in die Direktion. In einer Woche ist Schulbeginn.«
»Iß also diesmal im Gasthaus und geh' dann auf die Suche.«
Willibald war seufzend einverstanden. Amelie gab ihm eine alte große Hutschachtel mit, unter deren geschwungenem Deckel die eingekaufte Ware diskret verstaut werden konnte, und begleitete ihn ein wenig versöhnt zur Straßenbahn.
Während der Fahrt stieß ein alter, pensionierter Kollege zu ihm und fragte leichthin: »Du schleppst dich mit einer Schachtel?«
»Ich hole für meine Frau einen neuen Hut ab.«
Diese Lüge sollte sich so oder ähnlich öfter wiederholen. Nie traf Dr. K. so viele Bekannte auf der Straße, und nie fiel es so stark auf, wenn er neben seiner Aktentasche noch etwas in der Hand trug. Die Schachtel wirkte geradezu zauberisch, faszinierend, aufregend. In der Direktionskanzlei, wo er nach Durchsicht der eingegangenen Post eine Konferenz mit dem Schulwart hatte, fixierte dieser die Schachtel so beharrlich, daß sein Vorgesetzter endlich erklärte: »Ich hole für meine Frau einen neuen Hut ab.«
»Darf ich das nicht besorgen?«
»Nein danke. Es könnte eine Verwechslung passieren.«
Beim Mittagessen im Restaurant und auf dem Irrgang von einem Porzellangeschäft zum anderen – immer wieder Neugierige und hilfsbereite Bekannte, die abgewimmelt werden mußten. Bitter war dieser Weg. Denn lange fand sich kein blauer Erdbeerkranz. Einmal passierte es dem Doktor, daß er in einem Porzellangewölbe fragte: »Haben Sie einen Damenhut mit einem blauen Erdbeerkranz?« Nach stundenlanger Wanderung hatte er endlich Glück. Der Inhaber einer Handlung mit Küchengeschirr versenkte die gesuchte Ware lächelnd in die Hutschachtel.
Es war ein sehr sonniger Nachmittag, und der müde Direktor schwitzte wie ein gesalzener Rettich. Kein Wunder, daß er in eine Weinstube taumelte, um sich bei einer Bouteille kühlen Nußdorfers zu erholen. »Hallo, Willi!« erscholl es aus einer schattigen Ecke. »Auch du verkehrst in diesem wunderbaren Lokal?«
»Ich komme nur zufällig, weil ich in der Nähe einen Hut für meine Frau besorgt habe.«
Der Irrenarzt B. war ein Jugendfreund des Direktors. Aber sie trafen einander seit Jahren selten. Um so mehr Anlaß, einige Bouteillen zu leeren und dazu noch ein paar Gläschen Old Sherry. Dr. B. erzählte überaus lustige und seltsame Dinge aus seiner Irrenpraxis. Nachgerade schien es, als strahle der Erzähler allerlei Geisteskrankheiten aus, die sich in seinem Zuhörer festzusetzen drohten, besonders Blödsinn. Oder war es der Old Sherry, der Willibald so dumm und seine Zunge so schwer machte? Plötzlich fiel ihm der vergessene Erzherzog ein. Er sah nach der Uhr und erschrak. Griff nach seiner Hutschachtel und empfahl sich kurz: »Ich muß zum Erzherzog.« Der andere, unwissend, worum es sich handelte, sah ihm verdutzt nach: »Auch verrückt!«
Nein, er war nicht verrückt, auch nicht betrunken, aber benommen, erschöpft, ängstlich. Auf dem Wege, den er aus der Tiefe der Inneren Stadt zur Straßenbahn zu gehen hatte, schien es, daß seine Schachtel mit magischer Gewalt die letzten seiner Bekannten und Bekanntinnen aus ihren Häusern auf die Straße zöge. Immer wieder die Frage: »Was tragen Sie da..., wie kommst du zu diesem Ungetüm von Schachtel...?« Immer wieder log er; ohne Gewissensbedenken, gewohnheitsmäßig. Zuletzt kam er der Frage zuvor und lallte: »Ich bringe da meiner Frau einen neuen Hut heim.« Und stolperte weiter. In der Straßenbahn zog er die Uhr. Nein, er würde keine Zeit mehr haben, den neuen Hut daheim abzuliefern und Rock, Krawatte und Taschentuch zu wechseln, sondern bis zum Ende der Straßenbahn fahren und darüber hinaus noch eine ansehnliche Strecke bis zur erzherzoglichen Villa traben oder gar galoppieren müssen.
Im Schatten einer Linde, an einem runden Tisch, der von roten Korbstühlen umgeben war, saß der Erzherzog schlicht und blätterte in einem Buche, als der Direktor anrückte. Er gab sich bürgerlich, ja gemütlich, und verbesserte damit die Stimmung seines Gastes. Der, zum Sitzen eingeladen, stellte seine Schachtel neben den Stuhl, was den hohen Herrn nicht zu stören schien und nicht neugierig machte. »Entschuldigen gütigst, kaiserliche Hoheit, ich habe für meine Frau einen neuen Hut gekauft.«
»Schön von Ihnen.« Und die Unterhaltung drehte sich bald um die lateinische Angelegenheit. Nachdem der Direktor erfahren hatte, daß der bisherige Lehrer, trotz seiner prächtigen Eigenschaften, wegen seines chronischen Bronchialkatarrhs verabschiedet werden mußte, entwickelte sich das Gespräch angenehm, und es kam zur Vereinbarung, daß mit dem Unterricht schon morgen begonnen werden sollte. Welches Glück! Willibald fand sein ganzes Selbstbewußtsein, das er außer Haus zu besitzen pflegte, wieder. Seiner Zuversicht schadete keineswegs die Bemerkung des Erzherzogs, daß seine halbwüchsige Tochter sehr lustig, impulsiv und von einer gewissen Enfantterribilität sei. Aber da kam sie ja schon in Begleitung ihrer kleinen, von Adel steifen Mama, einer sichtlich gesetzten Gesellschaftsdame und eines Schäferhundes. Im Gegensatz zu jenen gestreng aussehenden Damen war die Halbwüchsige voll natürlicher Fröhlichkeit und bewegte sich lebhaft in ihrem gelben Kleidchen. Ihr Vater stellte vor, und die Herrschaften nahmen seinen Bericht über das vollzogene Engagement mit freundlicher Befriedigung entgegen. Die junge Prinzessin wurde sogar recht zutraulich. Ein richtiges Wiener Mädel, erlaubte sich Willibald zu denken.
»Sind Sie verheiratet?« fragte sie.
»Gewiß, ja.«
»Und glücklich?«
»Es geht.«
»Haben Sie auch Kinder?«
»Nein, Kinder nicht.«
»O weh! Und was haben Sie da in der Schachtel?«
»Ich habe eben einen neuen Hut für meine Frau gekauft.«
»Wie herzig! Erlauben Sie, daß wir Ihren Geschmack kennenlernen?«
Willibald – hatte nichts dagegen. Längst glaubte er selbst die krasse Lüge, die er heute so oft ausgesprochen hatte. Jawohl, fest glaubte er an den Damenhut. Und schon stellte die unartige Prinzessin die Schachtel auf einen Stuhl, und schon hielt sie das Gefäß hoch, daß es in der Spätsommersonne mild erglänzte. »Entzückend dieser Hut!« rief sie aus. »Ein Erdbeerkranz in Blau – trägt man das jetzt?«
Aber sie besann sich alsbald, erschrak und ließ das Gefäß in die Schachtel fallen. Die beiden Damen ergriffen entsetzt die Flucht, der Hausherr aber blieb, erhob sich, sah seine Tochter entrüstet an und tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn. Da lief auch sie davon und der Schäferhund hinterdrein. Willibald war käseblaß geworden und keines Wortes mächtig. Der Erzherzog schwieg eine Weile stirnrunzelnd. Dann sprach er mild, wenn auch entschieden: »Erlauben Sie mir die Feststellung, daß es mir und auch Ihnen unmöglich ist, nach dieser Szene unsere Vereinbarung aufrechtzuerhalten. Ich bin Ihnen aber nicht böse.«
Willibald erhob sich wortlos und griff nach der Hutschachtel. Da griff der Erzherzog an die Krawatte, zog die Brillantnadel heraus und stach sie lächelnd in die Krawatte Willibalds: »Zum guten Andenken.«
Frau Amelie stand aufgeregt im Vorzimmer:
»Um Himmels willen, wo bleibst du so lange?«
Willibald setzte die Schachtel kräftig auf einen Sessel.
»Da hast du deinen neuen Hut.«
»Was für einen neuen Hut?«
»Er knirschte noch einmal: »Da hast du deinen neuen Hut. Setz' dir ihn gleich auf!«