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Über die gute Insel Quasinostra herrschte seit Menschengedenken der König Mamutz. Er war ein Riese, aber nicht einer, wie sie anderswo zu Dutzenden in den Bergen herumlaufen, wild, müßig, ruppig, struppig, ungeschneuzt und kaum höher geraten als mäßige Heubäume; König Mamutz war vielmehr ein gutgearteter Riese, dabei so groß und stark, daß nicht einmal der gewaltige Meerdrache Mesaion, genannt das rote Fritzchen, den Frieden der Insel Quasinostra zu stören wagte. Die Königsburg sah aus wie ein Marmelgebirge, und der Thronsaal war so geräumig, daß die ganze Königsstadt und noch einige Bauerndörfer darin sich versammeln konnten. Wie andere Leute in ihren Stuben kleine Vögel halten, die um das liebe Futter singen, so besaß König Mamutz einen Singschwan, der in einem goldenen Käfig an der Wand des Schlafzimmers wohnte, seinen Herrn morgens mit einem netten Lied weckte und abends mit einem ebensolchen einschläferte.
König Mamutz regierte fürs Leben gern. Daher die große Traurigkeit, als die Kräfte seines Leibes und Geistes gleichermaßen schwanden und er sich selbst dem Ende nahe fühlte. Eine ihm angemessene Gemahlin hatte er weit und breit nicht finden können und daher niemals Rieslein auf seinen Knien geschaukelt, deren eines ihm auf den Thron hätte nachfolgen können. Das ging ihm jetzt sehr zu Herzen. In dieser Zeit sang der Schwan immer seltsamer, immer dunkler und verstummte zuletzt. Aber an einem späten Abend saß der König grübelnd auf dem Rand seines Purpurbettes, da erhob der Schwan plötzlich wieder seine Stimme:
»Also spricht die Ewigkeit,
Wenn auch aus dem Vogelhaus:
Alt geworden ist die Zeit,
Runzlig, bucklig sieht sie aus.
Alt geworden bist auch du –
König Mamutz, geh zur Ruh!
Müde ist die alte Zeit
Und ihr großes Herz versteint.
Nimmer ist die Stunde weit,
Daß sie weder lacht noch weint.
Herzensmüde bist auch du –
König Mamutz, geh zur Ruh!
Wunderlich und böse gar
Wird die gute alte Zeit.
Sie war gut, jedoch sie war.
Neues will die Ewigkeit.
Böse wirst zuletzt auch du –
König Mamutz, geh zur Ruh!«
»Das ist mir ein kurioses Abendlied«, sagte der König sehr ungehalten. »Warte, du kecker Vogel, dich will ich zupfen!«
Als er aber die Tür des Käfigs öffnete, stürzte der Schwan heraus, schlug die Flügel und entrauschte durchs Fenster in die weite Nacht.
Der König rief seinen alten Kanzler Hesternus zu sich und schüttete ihm seinen Kummer aus. Zuletzt klagte er: »Jetzt hat mich mein Singschwan verlassen; das ist der Anfang vom Ende.« Und sie berieten lange. Als sie auseinandergingen, sagte der Kanzler:
»Tu, o großer König, nach meinem Rat und du wirst noch nach deinem Tode regieren.«
*
In seinem blauen Schlafrock mit den eingestickten großen Mohnblüten ging der König am anderen Morgen in den Thronsaal, ließ alle Fenster auftun und stieg die sieben Stufen zum Thron hinan. Auf seiner Schulter, ganz nahe dem rechten Ohr, stand wie gewöhnlich der Kanzler Hesternus. Links vor ihm lag auf einem Tisch ein riesengroßes silbernes Horn, rechts die goldene Krone und das eherne Schwert. König Mamutz nahm das Horn und blies mit großer Anstrengung hinein. Da rasselten alle seine fünfzig herrlichen Ritter herzu. Ein zweites Mal blies er mit noch größerer Mühe. Da kamen alle älteren und alten Leute des Volkes herein. Und noch ein drittes Mal wollte er ins Horn stoßen, um auch die Jungen zu rufen. Aber die Kraft verließ ihn: Trotzdem wurde der Saal voll. Der König redete auf die Leute hinab, wie es ihm gestern der Kanzler eingelernt hatte:
»Meine edlen Ritter und weisen Räte und du, mein gutes Volk von Quasinostra! Ich, euer König, habe die letzten zweihundert Jahre ein wenig zu reichlich gegessen und fühle daher ein großes Bedürfnis, durch eine Zeit gänzlich zu fasten. Desgleichen habe ich in den letzten zweihundert Jahren infolge der vielen Regierungssorgen zu wenig geschlafen und gedenke daher, mich einmal gründlich auszuschlafen. Deshalb begebe ich mich heute in den Berg, der eine Meile weit von meiner Residenz sich erhebt und die große Höhle der hunderttausend Kristalle birgt, um dort ungestört zu fasten und zu schlafen. Vielleicht setze ich dort hie und da einen –«
»Regierungsakt«, half der Kanzler dem schwindenden Gedächtnis nach.
»– einen Regierungsakt, und da niemand mir störend wird nahen dürfen –«
»Außer meinem vielgetreuen, klugen und ehrenwerten Kanzler«,
»– außer meinem vielgetreuen, klugen und ehrenwerten Kanzler, so wird dieser allein meinen Allerhöchsten Willen erforschen und euch verkünden. Zu diesem Behuf wird er am Eingang zur Höhle der hunderttausend Kristalle seinen Lehnstuhl aufschlagen. Beunruhigt euch nicht, sollte meine Abwesenheit ein Jahr oder zwei, oder auch zwanzig Jahre dauern.«
»Ich komme wieder«, flüsterte der Kanzler ins königliche Ohr.
Aber Mamutz dachte: »Nein, das sage ich nicht. Gelogen wird vom Kanzler abwärts.«
Nun zog Mamutz seine große, weiße Schlafzipfelmütze übers Haupt und ging, von Kanzler, Ratsherren, Rittern und vielem Volk feierlich geleitet, mühsam an den Berg und entschwand in die Höhle der hunderttausend Kristalle. Alles geschah fortan so, wie er es dem Volke von Quasinostra angekündigt und geboten hatte.
*
Um diese Zeit gab es in einem tiefen Wald der Insel einen alten Jäger, der sich einen Lehrling zugelegt hatte. Das war ein armer Waisenknabe und hieß Futürchen. Der Jäger hatte ihm ein grünes Gewand an den schlanken Leib, einen Hut mit einer schönen Habichtsfeder auf den Kopf und eine Armbrust in die Hand gegeben. Eines Tages nun sagte der Alte:
»Futürchen, du bist kein übler Bursch, aber zwei Dinge an dir gefallen mir wenig. Fürs erste willst du nicht ordentlich schießen lernen. Immer und immer schießest du viel zu hoch. Aber ich hoffe, ich werde dirs noch beibringen.«
»Ach ja«, sagte Futürchen, »meine Mutter hat auch immer gesagt: der Bub schießt mir zu sehr in die Höhe.«
Da lachte der alte Jäger und fuhr fort:
»Fürs zweite schneuzest du dich immer in die rechte Hand statt in die linke. Aber ich hoffe, ich kann dich den rechten Anstand noch lehren.«
»Ach ja«, seufzte Futürchen, »mein Vater hat immer zu mir gesagt: Dich wird einmal ein Schwein Anstand lehren können.«
Da wurde der Jäger zornig, nahm Futürchen die Armbrust weg, zog ihm Hut und grünes Gewand aus und jagte ihn fort.
Futürchen lief im Hemd aus dem Wald und kam auf eine Hutweide, da saß das junge schöne Mädchen Minimanka und hütete ihre Gänse. Und er setzte sich zu ihr auf den Stein. Sie plauderten und verstanden sich gar gut. Da sagte Futürchen auf einmal:
»Siehe, liebe Minimanka, es ist Frühling, und alle Vögel und andere Tierchen heiraten. Auch wir zwei könnten heiraten.«
Da schnatterte ihn das Gänsemädchen an:
»Was unterstehst du dich? Du bist ja nichts. Nicht einmal Hosen hast du an. Werde etwas, dann komm wieder! Du kennst meine Träume nicht.«
Und sie zeigte ihm den Rücken.
Futürchen stand traurig im Hemd. Aber da sang es aus den Lüften herab:
»Laß du die Wiese, laß den Wald,
Wenn sie dein Glück dir wehren!
Lauf in die Stadt, da kommst du bald
Zu Hosen und zu Ehren.«
Da er aufsah, flog ein weißer Schwan über ihm hinweg. Und so schwante ihm Gutes, als er der Königsstadt zuwanderte.
Es war eine kalte Frühlingsnacht, als Futürchen in der Stadt ankam. Da stand er nun in einer leeren, mondhellen Gasse und wußte nicht aus noch ein. Es fror ihn, und seine Beine hatten eine Haut wie ein Gänserich und zugleich wie eine Stachelbeere. Da stampfte der Nachtwächter mit Spieß und Laterne um die Ecke und schrie aus Leibeskräften:
»Herren, Frauen, laßt euch sagen,
Eben hat es zehn geschlagen.
Ist der König nicht zu Haus,
Harret doch in Tugend aus!
Raufet nicht und saufet nicht,
Löscht den Herd und spart das Licht!
Zeit ist, gute Nacht zu sagen.
Eben hat es zehn geschlagen.«
Als er aber des Burschen im Hemd ansichtig wurde, schnauzte er aus seinem dampfenden Bart: »Wer bist du, wie heißt du und was tust du da?«
»Ich bin ein Waisenkind, heiße Futürchen und friere.«
»Ei, liebes Futürchen, so will ich dir meinen Mantel umhängen, meine Laterne und meinen Spieß in die Hand geben, und du sollst mein Lehrling sein. Mach gleich die Runde und rufe die Stunde! Morgens hol ich dich, gebe dir zu essen und eine Hose dazu. Jetzt lege dich tüchtig in dein Amt, ich aber lege mich ins Bett.«
So machte denn Futürchen die Runde die ganze Stadt hindurch. Aber die Stunde rief er nicht aus, denn er wußte den Vers nicht. Morgens früh holte ihn der Nachtwächter in sein Haus, labte ihn und beschenkte ihn mit einer alten Hose, die unten die Zehen einhüllte und oben bis in die Achselhöhlen reichte. Dabei brummte er:
»Futürchen heißt du? Das ist kein Name für einen, der den Spieß tragen darf. Du sollst fortan Futurum heißen.«
So war denn Futurum Nachtwächterlehrling und tat sein Amt allnachts, während der Alte daheim schlief. Aber die Stunde rief er nicht aus, denn er konnte den Vers nicht erlernen, der für seinen jungen Kopf zu uralt war. Zudem dachte er: »Immer muß etwas Neues sein; und hier ist das Neue, daß ich die Stunde nicht ausrufe.« Niemand aber beklagte sich darüber, denn alles war froh, nicht mehr wie früher durch das Gebrüll des alten Nachwächters im Schlafe gestört zu werden. Und als dieser gestorben war, wurde Futurum Nachtwächter.
Da ging er eines Tages aus der Stadt auf die große Hutweide hinaus und sagte zu Minimanka, dem Gänsemädchen:
»Ich habe es zum Nachtwächter gebracht und meine Beine zu Hosen. Willst du mich jetzt heiraten?«
Aber Minimanka rümpfte die Nase:
»Ein Nachtwächter? Ist das schon was? Und in so dummen Hosen kommst du daher. Du kennst meine Träume nicht.«
Traurig ging Futurum in die Stadt zurück und nachtwächterte weiter.
*
Da ließ ihn der Bürgermeister einmal jäh vor sich und die versammelten Ratsherren rufen.
»Was höre ich von dir? Oder vielmehr: was höre ich nicht von dir? In der heutigen Nacht habe ich vor Zahnschmerz nicht geschlafen und darum gehört, wie du die Stunde nicht ausrufst, oder vielmehr nicht gehört, wie du die Stunde ausrufst, du Neuerer. Das ist das Ende deiner Nachtwächterschaft.«
»Oder vielmehr der Anfang seiner Bürgermeisterschaft«, riefen jetzt die Ratsherren, »denn ein Mensch, der vor dem Schlafe der Bürger solch zarte Ehrfurcht hegt, muß Bürgermeister sein. Nur bitten wir, daß er seine Hose wechsle und seinen Namen. Die Hose muß gezwickelt sein, und da der Bürgermeister ein ganzer Mann zu sein hat, soll dieses Futurum hinfüro Futurus heißen.« .
So ward aus dem Nachtwächter ein Bürgermeister, und zwar kein übler. Nach einiger Zeit wanderte er heimlich zu dem Gänsemädchen Minimanka:
»Siehe meine gezwickelte Hose! Ich bin Bürgermeister geworden und heiße Futurus. Willst du mich jetzt heiraten?«
Und Minimanka tat sehr freundlich:
»Ach, das ist schön, daß du ein Bürgermeister mit gezwickelter Hose geworden bist. Das ist schon etwas. Aber allzuviel ist es nicht, für mich doch etwas zu wenig. Du kennst meine Träume nicht.«
Traurig ging Futurus in die Stadt zurück, traurig bürgermeisterte er weiter.
Nach Jahr und Tag geschah es, daß das Volk von Quasinostra in großen Schrecken geriet. Denn der gewaltige Meerdrache Mesaion, genannt das rote Fritzchen, war sichtbar geworden, wie er immer engere Kreise um die Insel zog. Sein langer Hals mit dem riesigen, breitgedrückten Pferdekopf und den Schaufelohren streckte sich stolz aus dem Wasser und ging beim Schwimmen hin und her. Die Ruderpranken pflügten das Meer, und der Schwanz steuerte. Übermütig ließ das Ungeheuer hie und da dicke Wasserstrahlen aus den Nüstern aufschießen und zugleich Luft aus dem Hinterleib ins Wasser knallen.
»Der König muß kommen und das Unheil abwehren!« hieß es auf der Insel. »Er liegt ohnedies schon an die sieben Jahre dahin.«
Als der Bürgermeister Futurus mit zwölf Ratsherren vor der Höhle der hunderttausend Kristalle erschien, fanden sie den Kanzler Hesternus am Eingang, wie er in seinem Lehnstuhl schlief. Sie weckten ihn und sagten ihm von dem drohenden Unglück. Er schlotterte vor Furcht, sagte aber doch: »Das werden wir schon machen. Ich gehe, den König zu befragen. Sonst darf, wie ihr wisset, niemand in die königliche Höhle.«
Und als er wiederkam, rief er feierlich:
»Dies ist unseres allergnädigsten Herrn Wille und Bescheid: Der Bürgermeister begebe sich auf die hohe Strandklippe und rufe, wenn Mesaion, genannt das rote Fritzchen, vorüberkommt: König Mamutz untersagt dir strenge, sein Reich zu betreten.«
Man schüttelte ein wenig die Häupter, aber Futurus ging hin und tat nach Geheiß.
Da wieherte der Drache im Wasser unter ihm:
»König Mamutz untersagt mir? Wo ist er, was tut er? Wie geht es ihm, dem guten Mamutz?«
»Er lebt und regiert«, sagte Futurus fest.
»Sage solches der alten Wasserfrau Blaschke, die glaubt alles. Seit sieben Jahren äuge ich scharf da herüber, aber von Mamutz keine Spur.«
»Er schläft.«
Da machte Mesaion vor Lachen einen Buckel. Dann tat er seinen Rachen weit auf:
»Dein Mamutz ist tot. Ich aber, der große Mesaion, genannt das rote Fritzchen, gehe heute noch an Land, fresse euch dumme Quasinostraner ohne Unterschied des Standes und Verstandes auf und setze mich auf den Thron. Meine große Stunde ist gekommen.«
Dabei hieb er mit der Pranke ins Wasser, daß sich ein Spritzregen über die Strandklippe samt dem Bürgermeister ergoß.
Die Ritter und Ratsherren saßen ängstlich in der Ratsstube beisammen und warteten auf den Bürgermeister. Als er so pudelnaß und mit traurigem Gesicht ankam, sagten sie alle:
»Das ist kein Bürgermeister, der ganz aus Wasser ist und nichts ausrichtet. Hast du überhaupt mit dem Feind verhandelt?«
»Verhandeln – was ist das?«
Nun riefen sie erbost:
»Solch einen Menschen, der nicht weiß, was verhandeln ist, haben wir zum Bürgermeister gemacht! Zieht ihm die gezwickelten Hosen aus!«
»Gut«, rief Futurus. »Gebet mir dafür ein Schwert! Ich töte den Drachen.«
Da erhob sich der alte, schneeweiße Hoch- und Großritter:
»Endlich einer, der Mut hat, zu kämpfen, statt zu verhandeln. Nimm mein Schwert, denn ich bin zu alt, es zu führen.«
»Wer hat ihn zum Ritter geschlagen, daß er das Schwert führen darf?« So murrten die fünfzig Ritter.
Aber der Alte entschied: »Sein Herz schlägt tapfer, es schlägt ihn zum Ritter. Und wenn er den Drachen tötet, soll er statt meiner Hoch- und Großritter sein. Jetzt ziehet ihm eherne Hosen an!«
Der Drache Mesaion war aus dem Meer gestiegen, hatte sich geschüttelt und ruhte vom langen Schwimmen im Dünensand. Da zogen die fünfzig Ritter mit Futurus gegen ihn aus. Sie waren aber noch nicht lange dahingeschritten, da blieb Futurus stehen:
»Höret ihr? Es rauschet in den Lüften.«
»Wir hören nichts«, sagten jene.
Da sah Futurus empor:
»Über uns kreiset herrlich ein Schwan.«
»Wir sehen nichts«, sprachen die Ritter.
Futurus aber legte den Finger an die Lippen und lauschte. Denn es klang:
»O Ritter, hör' mich an,
Dein Schicksal singt der Schwan:
Die Tat soll dir gelingen,
Den Drachen wirst du zwingen,
Denn seine Kraft, die ganze,
Steckt zauberhaft im Schwanze,
Und zwar im letzten Spitzchen.
Ein Flitzchen und ein Blitzchen,
So wird das rote Fritzchen
So schwächlich wie ein Kitzchen
Und bald geschlachtet sein.
O Ritter, denke mein!«
Futurus fragte: »Habet ihr den erhabenen Vogel singen hören?«
»Nein«, sagten die Ritter, »aber wenn eine geheime Furcht vor dem Feind deinen Kopf verwirrt haben sollte, so kehr' um. Wir werden es machen.«
»Schon wieder Leute, die es machen wollen«, lachte Futurus und ging weiter.
Da sie aber in die Dünen gekommen waren, stapfte der Drache über einen großen Sandhügel herauf und wieherte:
»Ei, da kommt ja meine Jause!«
Die Ritter in ihren silbernen Rüstungen klirrten vor Schrecken und die Schwerter fielen ihnen aus den edlen Händen. Mit einem Satz sprang das Untier herzu, streckte seine Zunge wie ein Ringelwurm aus und fing damit die Ritter paarweise, um sie, wie sie waren, zu verschlingen. Nur Futurus war nicht dabei. Er hatte sich den Leib des Drachens entlang bis zum Ende des Schwanzes geschlichen und gerade, als der letzte Ritter verschlungen war, hieb er mit einem einzigen Schwertstreich die Schwanzspitze ab. Da brüllte Mesaion, genannt das rote Fritzchen, fürchterlich auf, konnte aber seinen gewaltigen Körper nicht mehr bewegen und lag hilflos auf der Seite. Das Schwanzspitzchen aber roch so gut wie gebratene Forelle, und Futurus konnte nicht umhin, es zu verspeisen. Sogleich fühlte er, wie ihn eine große Kraft durchdrang. Er ging hin und durchbohrte das Herz des Drachens, daß er röchelnd verschied. Dann schlitzte er ihm den Bauch auf, und die gefressenen Ritter purzelten lebendig heraus.
»Klaubet eure Schwerter auf!« befahl er. »Ich bin nun euer Hoch- und Großritter. Mein Name ist Futurissimus.«
Er besah sich den Drachen und sagte: »Er ist über und über mit Korallen bewachsen, darum scheint er so rot. Wer weiß, wie seine Haut auf dem Grund aussieht.«
Dann eilte er von dannen, kam auf die Hutweide, fand Minimanka und sagte:
»Ich bin der Hoch- und Großritter Futurissimus und habe eherne Hosen an. Erlaubst du jetzt, daß ich dich heirate?«
Da errötete Minimanka vor Freude.
»Zu Hohem hast du es gebracht. Aber gibt es nicht noch Höheres? Ich will noch warten. Du kennst meine Träume nicht.«
*
Unterdessen war das Volk von Quasinostra in die Dünen geeilt, hatte den Drachen abgehäutet und zerstückelt und briet ihn über vielen Feuern. Als Futurissimus wiederkam, jubelte ihm alles zu. Er aber fragte:
»Was tut ihr da?«
»Wir wollen das Fleisch des Drachen essen, damit seine Kraft in uns komme.«
»Armes Volk!« dachte Futurissimus. Und er sah, wie sich ein Haufen von Schneidern mit der Haut des Drachen zu schaffen machte.
»Was tut ihr da?«
»Wir schneidern ein Gewand für unseren König Mamutz.«
»Armer König!« dachte Futurissimus. Laut aber rief er ins Volk:
»Feiern wir jetzt fröhlich das Fest des toten Drachen! Morgen aber ziehen wir mit dem neuen Königsgewand vor die Höhle der hunderttausend Kristalle. Aber tretet leise auf, damit ihr den König nicht wecket!«
Und das Volk jubelte: »Es lebe der König Mamutz und es lebe der Hoch- und Großritter Futurissimus!«
*
Anderen Tages gab es einen seltsam schönen Frühlingsmorgen, als man festlich zur Höhle zog. Voran gingen die Schneider, das Riesengewand tragend, dann kam Futurissimus, eine Fackel in der Hand, und hinter ihm die Ritter, dann die Ratsherren und dann das Volk. Beim Lehnstuhl des edlen Kanzlers Hesternus angekommen, nahm der Drachentöter das Wort:
»Mesaion, genannt das rote Fritzchen, ist hin. Siehe hier seine Haut, ein königliches Kleid. Warum freuest du dich nicht?«
Der alte Kanzler machte ein saures Gesicht, daß den Umstehenden das Wasser im Munde zusammenlief, und fragte mißtrauisch:
»Wozu trägst du die Fackel?«
»Ich will in die Hohle hineinleuchten.«
Schon war Futurissimus im dunklen Eingang, und bestürzt lief ihm der Kanzler nach.
Die Höhle war ein riesiger Saal und große weiße Kristalle hingen von oben herab. Und da saß auf einem steinernen, moosigen Ruhestuhl der König Mamutz im blauen, mohnblütengestickten Schlafrock. Die Quaste der Zipfelmütze hing ihm in die Stirn. Sein Haupt und seine Glieder waren ganz ausgetrocknet. Er mußte schon lange gestorben sein.
Der Ritter sah, daß ein Kristall in den Schoß des Toten gefallen war und seufzte:
»Noch gibt es Kristalle für neunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig Könige.«
Zu dem schreckensbleichen Kanzler aber sagte er:
»Ich will jetzt König sein, denn ich habe den Drachen getötet.«
»Woher stammst du eigentlich?« fragte der Kanzler. »Wer war dein Vater?«
»Mein Vater war ein Rastelbinder.«
Da stürzte der edle Hesternus tot zu Mamutzens Füßen hin.
Der Ritter aber ging zum Volk hinaus und rief, die Fackel erhebend:
»Der gute Mamutz ist tot.«
Da taten die einen so, als ob sie weinten, und die anderen, als ob sie nicht weinten. Nur ganz wenige taten so, wie sie taten. Die waren vom jungen Volk. Der Ritter aber sah in die Lüfte und alsbald rief die Menge:
»Sehet, der Singschwan des toten Königs kreiset über uns.«
Der Schwan aber ließ sich zu Füßen des Futurissimus nieder und sang mit bittend bewegten Flügeln:
»Die Fackel, Ritter, wirf nicht fort,
Entflamme du das neue Wort!
Ich fleh' dich an, entzünde mich,
Dann leb' ich und verkünde dich.«
Da entzündete Futurissimus den Schwan mit der verglimmenden Fackel. Der Vogel verbrannte in schöner Flamme zu einem Häufchen weißer Asche. Es kam ein Frühlingswind und machte ein weißes Wölkchen daraus. Und in den Lüften ward aus dem Wölkchen der verjüngte Schwan. Er flog dem Volk voran, der Königsburg zu, und sang das neue Königslied:
»Freude! Den Toren der Königsstadt
Nahen sich Gnade und Segen:
Der euch den Drachen getötet hat,
Wandert ihr friedlich entgegen.
Arm und klein, blank und bloß
Hungrig und hosenlos,
Aber von Herzen groß
Wuchs er aus Volkes Schoß
Herrlich heran.
Glaubet dem Schwan!
Wälder und Weiden und einsamer Weg
Haben ihn heimlich gesendet,
Jüngling, nimmer verträumt und träg,
Nimmer von Wollust geschändet.
Neue Gerechtigkeit,
Frieden im Drachenkleid,
Demut im Prachtgeschmeid,
Kindliche, süße Zeit
Kündet sich an.
Trauet dem Schwan!«
Als man im Thronsaal ankam, flog der Vogel auf die Lehne des Thrones. Das Volk aber murmelte, sagte und rief:
»Der Drachentöter muß König sein.«
Als Futurissimus dem Throne zuschritt, siehe, da drängte sich ein barfüßiges Mädchen an ihn und sagte:
»Nun du König wirst, halte dein Versprechen und heirate mich.«
»So komm, Minimanka«, nickte Futurissimus und führte sie an der Hand bis zu den Stufen des Thrones.
Hier blieb er stehen und fragte die Ritter und Ratsherren:
»Was sind denn das für Löcher im Marmor der Stufen?«
Und man belehrte ihn:
»Das sind die Fußtapfen des Königs Mamutz.«
Da besann sich Futurissimus eine Weile und sagte endlich:
»In der Kraft der Schwanzspitze des Drachens besteige ich die erste Stufe.«
Und er sprang in die große Fußtapfe der ersten Stufe. Siehe, da ward sein Fuß groß und auch sein ganzer Leib, daß sein Gewand samt den ehernen Hosen platzte. Zugleich sah er, daß Minimanka ihm aus der Hand geglitten und zu Boden gepurzelt war.
»Schaffet diese dumme Jungfrau zu ihren Gänsen heim!« befahl er und beschritt die zweite Stufe. Da wurde er noch größer. Und als er die sieben Stufen hinter sich hatte, war er ebenso groß, wie Mamutz gewesen war. Das Drachenkleid aber war ihm über die Stufen nachgekrochen, worüber alles lachen mußte, und er zog es an. Vorher aber strich er mit seiner gewaltigen Hand darüber und siehe, es stoben die Korallen davon wie ein blutiger Regen, und die Haut darunter war strahlendes Gold. Dann setzte sich der neue König die Krone auf und nahm das Schwert an die Seite. Wie er nun so groß, herrlich und furchtbar dastand, ward es allen unheimlich zu Mute und sie liefen aus dem Saal. Der König aber nahm das silberne Horn und blies das Zeichen der Jungen hinein. Sie kamen zurück. Er blies das Zeichen der Alten und sie kamen. Er blies das Zeichen der Ritter und sie kamen.
Da sprach er zu ihnen mit einem großartigen Lächeln: »Warum entlauft ihr mir, ihr Ritter? Habe ich euch nicht aus dem Drachenbauch geschnitten? Warum entlauft ihr mir, ihr Alten? Bin ich nicht in die Fußtapfen eures geliebten Königs getreten? Und was entlauft ihr mir, ihr Jungen? Bin ich nicht jung wie ihr?
Da riefen alle:
»Heil dem König Futurissimus!«
Der König aber gebot Schweigen:
»Schon wieder irrt ihr euch. Ich will nicht Futurissimus heißen, sondern Mamutz der Zweite.« Er setzte sich endlich auf den Thron. Und alles rief:
»Heil König Mamutz dem Zweiten!«
Denn die einen freuten sich des neuen Mannes, die anderen des alten Namens.