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Die Gräfin Oberndorff hielt sich nach wie vor viel in Sankt Moritz auf. Etwas Unstetes war in ihr Leben gekommen, eine ruhelose Erwartung. Niemals hatte sie solche Leere, solche Öde gefühlt, wie sie jetzt in sich trug. Wie war das möglich? Nachdem sie doch etwas Großes, etwas Ungeheures erlebt hatte! Eine große Leidenschaft, die sie anfangs selbst empfunden: ein ungeheures Schicksal, das sie dem Manne bereitet, von dem sie geliebt – von dem sie verlassen worden war.
Verlassen worden ... Das war's, wodurch diese Ruhelosigkeit, diese neue, noch trostlosere Leere ihr erwuchs.
Daß er stark genug war, sich wirklich von ihr zu lösen! Er sich von ihr, anstatt sie sich von ihm! ... Was sie auch sagen mochte, um sich zu überreden, sie sei's gewesen, die ihn aufgegeben hatte; durch welche Schlüsse sie sich auch zu überzeugen suchte, in diesem Kampf zwischen Weib und Mann sei das Weib Siegerin geblieben – es gelang ihr nicht, sich über die Wahrheit hinwegzulügen.
Aber er würde wiederkommen; und dann – würde sie ihn fortschicken: mit Haß und Hohn!
Das war aus einer Leidenschaft geworden, die sie für die leuchtende Erfüllung ihres Lebens gehalten hatte, für ihres Daseins Vollendung. Haß und Hohn! Konnte dergleichen möglich sein unter Gottes himmlischer Sonne? Sie erinnerte sich der römischen Tage. Wie gut sie damals gewesen war, wie edel und vornehm: damals, wo er sie seine Verachtung hatte fühlen lassen, weil sie eines ungeliebten Mannes Weib geworden. Und jetzt? Was war sie jetzt? Nicht mehr gut, nicht mehr edel, nicht mehr vornehm: sie, die vornehme Dame!
Aber wiederkommen mußte er! Er konnte ohne sie nicht leben, da er erst durch sie wirklich gelebt hatte. Daß er auch jetzt ohne sie nicht mehr leben konnte, sollte ihre Rache dafür sein, weil ihre Liebe zu ihm, anstatt sie zu adeln, sie unedel gemacht.
Jeden Morgen, wenn sie erwachte, war ihr erster Gedanke: ›Heute kommt er!‹ Jeden Abend ihr letzter: ›Heute kommt er nicht; er kommt morgen!‹ Und mit jedem Tage wuchs ihre Erwartung, ihre Ruhelosigkeit, ihre Angst: ›Er kann doch ohne dich leben!‹
Sie wollte für immer fort von Maloja, ließ die Jungfer sämtliche Koffer packen, bestellte in Paris ein Quartier ... Die Koffer wurden ausgepackt, das Quartier wurde abbestellt; denn sie blieb und – wartete auf Sivo Courtien.
Gerade an dem Tage ihrer Abreise hätte er kommen können!
Da er nicht kam, führte sie im Engadin ein ruheloses Wanderleben. Sie unternahm Ausflüge nach Pontresina, nach den Gletschern und auf den Berninapaß. Wenn er kam und sie nicht antraf, aber hörte, sie sei in der Nähe und komme bis Abend wieder zurück, so würde er auf sie warten. Sie gab Befehl: »Sollte während meiner Abwesenheit jemand kommen, so –« Das ganze Hotel wußte, wer dieser »Jemand« sei; und das ganze Hotel wartete mit ihr, ob dieser »Jemand« kommen werde.
Kehrte die Gräfin abends von einem Ausfluge zurück, so bereitete sie sich während des Heimwegs vor, ein gleichmütiges Gesicht zu machen, für den Fall, daß ihr im Hotel gemeldet werden sollte: »Jemand fragte nach Frau Gräfin. Wie Frau Gräfin befahlen, wartet er oben im Salon.«
Die Meldung ward ihr jedoch niemals gemacht.
Immer häufiger leuchteten in Sankt Moritz die Schönheit ihres blassen Gesichtes und die Sonne ihrer flammenden Haarkrone über Gerechte und Ungerechte. Da sie sich nicht amüsieren konnte, so versuchte sie, sich zu zerstreuen. Sie machte vornehme und interessante Bekanntschaften, ließ sich bewundern, sich huldigen, jagte förmlich nach Bewunderung und Huldigung, fand nicht einmal die fast angstvoll gesuchte Zerstreuung.
Dieses elegante Wesen war so farblos, schal und nichtig. Es erschien ihr noch mehr ein Nichts zu sein als damals, wo sie eine unglückliche Frau war mit Sehnsucht nach Glück in der Seele, mit heißem Hunger nach Glück ...
Die Gräfin Oberndorff wurde in beiden Sankt Moritz nachgerade Mode. Ihr vorgestellt zu werden, gehörte für die elegante Welt, die dieses fashionable Alpeneden bevölkerte, zum Leben in Sankt Moritz. Der kosmopolitischen Demimonde am Ufer des lieblichen Bergsees erstand in der Gräfin Oberndorff eine Rivalin, die jene Damen sogar in ihren Toiletten besiegte ... So trostlos hatte sich die Gräfin Oberndorff während eines kurzen Jahres verändert; und das in den reinen Lüften Malojas, der edlen Schönheit des Engadin.
Seltsam war auch, daß sie nicht mehr lächelte. Ihr Gesicht war wieder so ganz ohne Lächeln, wie es in Rom gewesen war, als sie Sivo Courtien kennenlernte ...
Kein Kinderlächeln – kein Sirenenlächeln mehr auf diesem schönen Frauenantlitz, das dem des Gletscherweibes auf Sivo Courtiens berühmten Gemälde glich. Dieses Gletscherweib vom Monte della Disgrazia war das einzige Porträt der Gräfin Oberndorff, das der Künstler vollendet hatte.
Mit Dionisio Fidora las sie Manzoni und Dante. Des Jünglings außergewöhnliche Schönheit bemerkte sie kaum, seine hellenische Grazie dünkte sie weichlich. Sie verglich ihn nicht mit Courtien; aber dieser erschien ihr, sah sie ihn in ihrer Phantasie, neben dem Epheben als Heros. Und sie sah ihn stets und stets! Aber etwas Geheimnisvolles zog sie immer wieder zu der schimmernden Erscheinung des Dorfschullehrers, der unter ihrem generösen Protektorat zu einem Bühnensänger ausgebildet werden sollte. Es war ein Bündnis, das beide miteinander schlossen, ohne jemals die Namen zu nennen, um derentwillen es geschlossen ward: Sivo Courtien – Maira à Mara.
Mit dem Instinkt des Liebenden verstand der Lehrer alles, was in dieser zerrütteten Frauenseele vorging – mit dem Takt des Südländers äußerte er nichts. Auch er hatte die Empfindung, dem letzten Akt eines Dramas beizuwohnen. Wie würde es enden?
Um dieses Ende zu erleben, blieb auch er – wartete auch er.
Beide wußten: seine Freundin ist bei ihm. Er rief sie zu sich, und sie kam auf seinen Ruf. Würde die Freundin dort oben in der ungeheuren Einsamkeit seine – Freundin bleiben? Würde in diesem gewaltigen Tempel der Natur die Menschennatur beider sich erfüllen? Die Gottheit jener ewigen Schöpfung in ihren Geschöpfen das Ewige auslösen? Würden Mann und Weib dort oben über den Wolken, über der Erde zu Mann und Weib werden?
Wieder wohnte die Gräfin in der Alphütte auf dem Fornogletscher. Alles wollte sie genau so haben, wie es vergangenen Sommer gewesen, als könnte sie dadurch hinwegleugnen, daß – nichts mehr so war. Wenn er hörte – und er mußte es hören –, daß sie ihm wieder die Hälfte Wegs entgegenkam, würde er sicher die andere Hälfte tun, trotz seiner Hüterin, seiner Wächterin. Ihr Dante-Vorleser war für einige Zeit verabschiedet worden; denn sie mußte allein sein, wenn der Wiederkehrende plötzlich bei ihr eintrat: »Da bin ich! Ich konnte nicht anders! Ich mußte kommen! Und – da bin ich!«
Seltsam! Vergangenen Sommer hatte er in seinem Gletscherhause auf sie gewartet; und, sie erwartend, zu sich selbst gesprochen, die nämlichen Worte, die sie jetzt in ihrer Phantasie ihm in den Mund legte.
Sie trug dasselbe Kleid wie damals, kleidete sich abends in das nämliche weiße, weiche, schleppende Gewand. Spät abends würde er kommen! Er sollte sie wiederfinden, wie er sie verlassen hatte.
Verlassen ... Da sie ohne Liebe die Gattin des Grafen Oberndorff ward, hatte sie sich weniger entwürdigt gefühlt als jetzt. Das mußte aus ihrer Seele genommen werden, oder –
Oder wenn er nicht kam, so mußte sie ... Sie brauchte ja nur bei ihm einzutreten, ihn nur anzusehen, nur anzulächeln ... Und wenn er dann ihre Stimme wieder hörte: »Da bin ich! Ich konnte nicht anders! Ich mußte kommen! Und – da bin ich! ...«
In Gegenwart der anderen wollte sie es ihm sagen, und diese Maira schwand neben ihr zum Schatten dahin; diese Maira war tot für ihn, sobald sie für ihn wieder lebte.