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Nachdem Vital den vornehmen Besuch abgefertigt und das Haus wieder verschlossen hatte, als sei es ein Gefängnis, er selber aber Gefangener und Schließer zugleich, begab er sich in Courtiens Kammer. Dort lag ein todkranker Mann, der von der Welt nichts mehr wußte, dessen irrender Geist in wilden Phantasien zwischen Himmel und Erde kreiste.
In diesem Zustand hatte Vital den Freund gefunden, als er ihn am frühen Morgen nach jener Nacht tragischer Ereignisse wecken wollte, um ihm über den Paß durch das Bergell bis nach Chiavenna hinab das Geleit zu geben. Denn Courtien beabsichtigte, nach Florenz zu gehen: zu Arnold Böcklin, dessen von Oliven umschimmertes Landhaus auf den wonnigen Höhen Fiesoles dem von den Furien der Leidenschaft Verfolgten ein Asyl bieten sollte. Nun erkannte er den Freund nicht mehr, mit dem er seine Wanderung, die eine Flucht war, antreten wollte. Aber Vital erkannte die Krankheit, und daß es sich bei Sivo Courtien um Leben und Sterben handelte.
»Ich würde dich ruhig sterben lassen, wenn ich wüßte, daß du wieder ein schwacher Mensch werden könntest. Aber du wirst es nicht wieder werden. Dafür sorgt Maira. Also muß ich jetzt dafür sorgen, daß du am Leben bleibst, Bürschlein; und wär's nur, damit ich recht behalte. Verstehst du, mein Junge?«
Da der Fiebernde nichts verstand, weder Stimme noch Wort oder Sinn, so schickte sich Vital an, am Crap da Chüern den Krankenwärter zu spielen, darauf gefaßt, dieses Amt für einige Zeit versehen zu müssen. Er ganz allein; denn, so sprach er zu sich: ›Selbst Maira darf nichts erfahren; selbst für sie muß er fort sein. Keine lebende Seele darf an ihn heran, außer meiner eigenen, die in einem ewigen Höllenpfuhl brennen soll, wenn ich ihn nicht durchbringe; zum Ärger der schönen Dame, die ihn nicht wiederbekommt‹ ... Er wurde nachdenklich: ›Brennen muß meine arme Seele sowieso. Bin ich ja doch ein gottverdammter Sünder noch von der Klosterschule zu Chiavenna her. Dann also: in Gottes Namen – brenne, liebe Seele! ... Auch einen Doktor brauchen wir nicht. Von meiner einstmaligen geistlichen Lehrzeit her habe ich wohl das Kniebeugen und Rosenkranzdrehen so ziemlich vergessen, dieweil ich nun einmal ein scheußlicher Heide bin. Aber vom barmherzigen Samariter ist seltsamerweise einiges bei mir steckengeblieben – dank dem guten Bruder Apotheker, dem ich helfen durfte, seine Tränklein zu brauen und Pulver zu mischen. Tränke und Pulver braucht's bei diesem Patienten nicht einmal. Der ist billiger zu behandeln: mit Eis und Schneewasser. Also selbst der Apotheker bekommt an ihm nichts zu verdienen.‹
Schon während dieses Monologs war der Samariter von Maloja eifrig ans Werk gegangen. Jetzt legte er dem im Delirium Rasenden Eis auf das glühende Haupt, steckte ihm Eisstücklein in den durstenden Mund, wusch seine brennenden Glieder mit Schneewasser, trocknete sie danach sorglich. Das ganze Haus richtete er für die schwere Erkrankung vom Herrn des Hauses ein, schloß sämtliche Läden und ließ nur die Fenster selbst offen, damit in dem engen Raum stets gute Luft war. In einem Gelaß nebenan bereitete er sich die Lagerstatt, pflegte, wartete, wachte Tag und Nacht – rang Tag und Nacht mit dem Knochenmann um seines Freundes Leben. Der Tod stand an Courtiens Bett, streckte die Arme nach ihm aus, wollte ihn fassen, jeden Tag von neuem. Aber jeden Tag von neuem entriß Gian Vital mit seinem starken Menschenarm dem großen Bruder des weltentrückenden Schlafes die Beute.
Schrecklich war's, wenn der Wärter wider seinen Patienten Gewalt anwenden mußte; wenn das Delirium zum Toben ward und der wild Phantasierende auf seinem Lager festgehalten werden mußte. Oft konnte Vital ihn nur dadurch ans Bett fesseln, daß er mit ihm kämpfte wie mit einem Feinde; nur bewältigen, indem er sich über ihn warf.
Stundenlang, halbe Tage lang saß der Getreue in der verdunkelten Kammer und lauschte auf die wirren Reden des Fiebernden. Es war immer das nämliche: jenes eine, das für Sivo Courtien zum einzigen geworden war. Immer nur sie – sie – sie! Die wunderschöne Frau aus der anderen Welt; die Sphinx mit dem Kinderlächeln; das Gletscherweib vom Unheilsberg. Beim endlos langen Zuhören faßte den Mann, der Mönch hatte werden sollen und ein von der Kirche Geächteter geworden war, kaltes Grausen: das war Leidenschaft, so war Leidenschaft! ... Gian Vital begriff es.
Nicht ein einziges Mal kam über Courtiens Lippen ein anderer Name; niemals rief er nach der Freundin, der Helferin und Retterin. Der Name Maira war verklungen in seinem wirren Geist, ausgelöscht aus seinem kranken Hirn, als wäre er für Sivo Courtien niemals ein Name des Lebens gewesen.
Dann war der Tag gekommen, an dem vor dem Hause am Crap da Chüern die Gräfin Oberndorff erschien, um sich persönlich nach dem Verbleib des Freundes zu erkundigen. Wenn der Kranke, der ihren Namen mit Verwünschungen rief, um ihn gleich darauf voll sinnloser Zärtlichkeit zu lallen, ihre Nähe geahnt hätte –
Zufällig sah Vital durch einen Spalt des geschlossenen Ladens die schöne Frau kommen. Er erschrak heftig. Ihm schien es, der Fiebernde müßte empfinden: »Sie kommt! Sie ist da!« Zum Glück lag er gerade ruhig, so daß sein Wärter ihn für kurze Zeit verlassen konnte. Also empfing Vital den vornehmen Besuch, den er unhöflicherweise vor der Tür ließ ...
Weihnachtsabend kam die Krisis. Es waren Stunden der Todesqual für den Kranken, der Todesangst für den Wärter, den Freund. Immer von neuem dachte dieser: ›Ich ließe dich sterben, ließe dich elend verderben, wüßt' ich gewiß, das alte Unheil gewänne über dich wieder Gewalt. Denn das sag' ich dir, Bürschlein: bleibst du durch meine Schuld am Leben, so trag' ich für dich die Verantwortung. Also überleg', ob's nicht gescheiter wär', du kämst gar nicht erst wieder hinein.‹
Einmal in diesen schrecklichen Stunden wurde selbst Gian Vital von Schwäche befallen, so daß er Kraft sammeln und frischen Atem schöpfen mußte: draußen in der feierlichen Winterwelt, angesichts der glänzenden Schneealpen. Als er aus dem Hause trat, sah er im Hotel Maloja den Kerzenschein des brennenden Weihnachtsbaums. Er hörte Gesang. »Stille Nacht, heilige Nacht!« drang es zu dem Einsamen herüber, gesungen von solchen, die der Herr, der in dieser Nacht geboren wurde, zu sich kommen ließ. Auch Gian Vital wollte Weihnachtsandacht halten. Still dastehen wollte er, die Hände falten und auf das fromme Lied lauschen. Zu seinem Gott wollte der Gottlose beten ... Aber Gian Vital konnte nicht beten. Nicht einmal in der heiligen Weihnacht! Es geschah zu viel Ungerechtigkeit, zu viel Unheil auf Erden; die Welt war zu voll von Jammer, die Menschheit zu sehr dem Elend des Lebens verfallen. Auch zu sehr voller Sünde und Schuld – zu wenig erlöst durch den Menschensohn, der das Leid und die Schuld der Menschheit auf sich nahm und am Kreuz darum starb.
So geschah es, daß in der Nacht, darin den Menschen der Heiland geboren, über Gian Vital eine seiner dunklen Stunden kam, in denen seine Seele finsteren Gewalten verfiel. Dann aber – als in der Frühe die Glocke des Kirchleins das arme Volk von Alpenhirten zur Weihnachtsmesse rief, damit es die Botschaft vernehme – gerade zu dieser heiligen Stunde war am Crap da Chüern die Krisis vorüber: Sivo Courtien blieb dem Leben erhalten!
Und Gian Vital hatte dafür die Verantwortung übernommen!
Erst jetzt kam die Zeit, wo der Freund sich erweisen konnte; denn jetzt hieß es, den Mann, der dem Leben wiedergeschenkt war, am Leben zu erhalten. Eine zärtliche Mutter konnte ihr todkrank gewesenes Kind nicht sorgsamer hegen und pflegen; und zu einem schwachen Kinde war Sivo Courtien geworden.
Außer dem Jagen war das Kochen Vitals größte Kunst. Für Courtien erfand sein Küchengenie allerlei leckere und zugleich stärkende Speisen, deren Zutaten er in Sankt Moritz einkaufte. Auch schweren Wein, davon er ihm nur löffelweise verabreichte. Noch konnte der Genesende nur mit Anstrengung den Kopf heben; sein Gedächtnis war geschwächt, die Erinnerung schien verloren. Er lag jedoch so ruhig, daß sein Pfleger ihn ohne Sorge verlassen konnte, um seine Botengänge zu besorgen, die er niemals in Maloja machte. Erstaunlich war, welcher kurzen Zeit er bedurfte, um talabwärts und wieder aufwärts zu kommen, ein Schnellläufer auf sausenden Schneeschuhen.
Es war schlimm, daß der Mensch nicht zweien Herren dienen konnte! Vital vermochte nur den kranken Freund zu pflegen und nicht auch für seine hungernden Gemsen das Gesträuch und Gestrüpp aus dem Schnee zu graben. Das machte ihm Kummer, an dem er fast schwerer trug als an seinem Liebesgram um das Mädchen, das von ihm nichts mehr wissen wollte und das er trotzdem nicht vergessen konnte.
Eines Tages, an dem Courtien in seinen gewöhnlichen totenähnlichen Schlummer der Ermattung verfallen, schickte sich Vital zu einem längeren Ausflug an: ins Bergell hinab, bis nach Soglio hinunter, wo der Winter bereits etwas milder war. Auf einen Sessel am Bett stellte er sorgsam Wein und Milch, legte daneben einen Zettel mit mächtigen Lettern beschrieben, damit der Geschwächte keine Mühe hätte zu lesen: ›Bis Abend bin ich zurück. Bleibe ruhig. Ich trage für Dich die Verantwortung. Also bleibe ruhig, weil ich doch für Dich einstehen muß.‹
Am Abend kam Vital zurück. Ihm war freier ums Herz als seit langem. Courtiens Genesung schritt vor, und in Soglio hatte der Freund gefunden, was er suchte: gute Unterkunft für den Rekonvaleszenten, der nicht länger auf Maloja bleiben konnte, teils des grausamen Klimas, teils der schönen, argen Frau wegen, die zwar hinab nach Sankt Moritz gezogen war, doch immer wieder heraufstieg: immer wieder den Flüchtling erwartend, voller Zuversicht, daß er kommen – zu ihr zurückkehren würde.
Also mußte er fort! Und er mußte so lange fortbleiben, bis es Sommer war und er wieder stark genug, um sein Alpenhaus zu beziehen. Dort würde er sicher sein: Maira bei ihm! Dann hatte Gian Vital das seine getan.
Er erreichte das Haus am Crap da Chüern, schloß auf, ging hinein. Da im Hause tiefe Dunkelheit herrschte, zündete er Licht an. In das große Wohnzimmer tretend, das dem Maler zum Atelier diente, stieß er einen Schrei des Entsetzens aus.
Sivo Courtien war dort. Nicht doch! Sivo Courtiens Schatten, sein Geist. Und was hatte das Gespenst Sivo Courtiens vollbracht? Es hatte dessen sämtliche Malereien von den Staffeleien, von den Wänden herabgerissen; hatte sie sämtlich zerstört: alle die Entwürfe und Skizzen; alle die Porträte; alle die Gräfinnen Josette Oberndorff.
Sie lagen am Boden, durch den ganzen Raum verstreut; mit abgeschnittenen Köpfen, zerfetzten Leibern; Glied für Glied zerrissen wie von der Wut eines Wahnsinnigen.
Die Lippen all der Gemetzelten lächelten noch; aber die Augen – alle die lächelnden, lockenden, leuchtenden Augen waren durchstochen.
Zu dem von Grausen Gepackten sagte Sivo Courtien: »Ich habe die Gräfin Oberndorff gemordet und muß mich dem Gericht stellen. Nicht dem Gericht der Menschen, sondern meinem eigenen. Dieses verdammt mich, der des Todes schuldig ist, zum Leben! Zu einem neuen, besseren Leben, das ich so lange führen muß, bis ich das Werk meines Lebens vollendet ... Fürchte nicht, du Getreuester der Getreuen, daß zu dir ein Wahnsinniger spricht. Der Mann, der dir sein Urteil verkündet, ist ein von seinem Wahnsinn Geheilter. Siehe – ich habe die Götter versucht und wurde dafür von ihnen bestraft. Sie seien gepriesen!«
Gian Vital eilte auf seinen Freund zu, umschlang ihn, legte das vom Fluch der Leidenschaft getroffene Haupt an seine Brust und weinte über dem armen Haupte die ersten Tränen seines Lebens.