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An Maira erging der Ruf, und sie hörte ihn.
Der brüderliche Freund rief die schwesterliche Freundin zu sich hinauf in seine felsumstarrte, eisumstrahlte Gipfelwelt, wo er sich durch seine hohe Kunst in heißer Arbeit wieder zu einem Gipfelmenschen emporrang: langsam, sehr langsam, aber sicher der Tiefe entsteigend, zu der ein Wiederhinabgleiten nur möglich gewesen wäre, wenn Maira den Ruf nicht gehört hätte.
Sie hatte sich darauf vorbereitet, ihn zu vernehmen. Seit der Stunde, wo er es ihr auf Malojas Gräberfeld gesagt, war ihr Leben nichts anderes gewesen als ein einziges Sichvorbereiten auf den großen Augenblick, der ihr die Erfüllung ihres Lebens brachte. Denn auf eine noch schönere, noch leuchtendere Erfüllung hoffte sie nicht – hatte sie niemals gehofft.
Der Freund bedurfte ihrer Gegenwart, ihrer Kraft. Daß er ihrer bedurfte, gab ihr die Kraft. Jetzt konnte die Tat von ihr gefordert werden, die Liebestat.
Ihrem Vater erklärte sie: »Ich gehe fort.«
»Wohin?«
»Wohinaus?«
»Zu Sivo Courtien.«
»Wurdest du ganz verrückt?«
»Hier unten bin ich keinem Menschen notwendig. Auch nicht dir. Oben ruft ein Mensch nach mir. Also gehe ich hinauf zu dem, der mich ruft.«
»Weißt du, was die Leute dazu sagen werden?«
»Ich weiß.«
»Dennoch willst du gehen?«
»Dorthin, wo ich nützen und helfen kann. Hier könnt' ich's nie. Hier half ich nicht einmal meinem Vater, nicht einmal kleinen Kindern.«
»Hör du!«
Und ihr Vater sagte es ihr ... Wenn sie hinaufginge, dürfte sie nicht mehr herunterkommen: nicht mehr zurück ins Vaterhaus. Nie mehr! Wenn Sivo Courtien sie zu sich einließ, schloß ihr Vater sie aus.
»Das mußt du wohl. Schon um der Leute willen. Und wegen des Pfarrers.«
»Du gehst?«
»Für alle Zeiten aus meinem Vaterhause.«
Und Maira ging. Zunächst nach Crap da Chüern zu dem Verwundeten, dem Erblindeten. Er lag auf dem nämlichen Lager, darauf sein Freund als Todwunder gelegen. Eine Binde bedeckte die Augen, die keine Augen mehr waren. Er wußte aber sogleich, wer leise in die Kammer trat. Die Nerina saß neben dem Bett, regte sich nicht, starrte vor sich hin. Sie hatte noch immer den erloschenen Blick; aber – sie konnte doch sehen.
»Geh hinaus.«
Gehorsam erhob sie sich und schlich davon ... Maira trat an das Bett, setzte sich, ergriff Vitals Hand, behielt sie in der ihren, blieb stumm.
Endlich fragte er sie: »Du kommst, Lebewohl sagen?«
»Ich gehe hinauf.«
»Du mußt noch immer über ihn wachen. Weißt du das?«
»Ich weiß.«
»Denn er ist noch immer nicht ganz geheilt; und sollte er sie wiedersehen, so – Noch immer ist er etwas schwach. Du weißt auch das?«
»Ich weiß auch das.«
»Deshalb mußt du für ihn stark sein.«
»Ja.«
»Wenn sie hört, daß du bei ihm bist, wird sie versuchen, zu ihm zu kommen ... Ich sehe sie zu ihm kommen.«
»Du siehst –«
»Alles. Ich sehe dich, sehe Sivo Courtien, sehe die Nerina. Ich sah euch nie so genau. Um dich ist ein Glanz. Er blendet mich fast, Und ich sehe den See; sehe Berg und Tal, Gipfel und Gletscher. Ich sah sie nie so schön! Die Gemsen seh' ich, die guten Tiere. Sie haben solche traurige Augen. Ihre traurigen Augen schmerzen die meinen ... Und ich sehe die arge Frau zu ihm hinaufsteigen. Sie darf nicht!«
»Nein.«
»Also wache gut.«
Er sagte ihr noch, daß sie einen Knaben nehmen müßte, der ihnen oben hausen helfe, Botengänge besorgen, Vorräte und Holz für den Winter hinausschaffen. Er wußte einen jungen Burschen: geschickt, kräftig, die furchtbare Einsamkeit nicht fürchtend. Dabei immer guter Dinge! Schon morgen wollte er den Knaben Servaz hinaufschicken. An alles dachte er; denn alles sah er mit seinen blinden Augen.
»Höre! ... Ich muß dir's leise sagen.«
»Die Nerina ist nicht hier.«
»Trotzdem leise.«
Also beugte sich Maira zu ihm herab. Er flüsterte: »So ungeschickt von mir! Von einem Jäger! Eine wahre Schand'! Und ich hatte Courtien heilig versprochen, das Ding nicht mehr anzurühren; es an der Wand hängen zu lassen. Da packte mich's. Solch alter Wilderer, du verstehst. Eine Schand' war's! Hätt' ich wenigstens etwas höher geschossen. Oder etwas tiefer. Aber so! ... Auch das will ich dir sagen: ich würd's heut wieder tun: würd' wieder meine Büchse von der Wand nehmen. Diesmal für mich selbst und diesmal geschickter. Da ist jedoch die Nerina ... Ich hab' sie nämlich in die Schand' gebracht, Schandkerl, der ich bin! Also muß ich ... Wenn Briccius Ladien uns zusammengeben will. Und ich muß ... Meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit muß ich an dem armen Geschöpf tun. Denn noch so jung sein und einen blinden Mann haben ... Und das Leben kann so lang dauern ... 's ist hart für die Nerina. Ich kann ihr nicht helfen; ich –«
Er sprach immer leiser, immer mühsamer. Zuletzt atmete er so schwer, daß es wie ein Keuchen war; zuletzt bewegte er nur noch die Lippen.
Maira stand über ihn niedergebeugt. Sie wartete, ob er noch sprechen würde? Da er stumm blieb, neigte sie sich noch tiefer. Sie neigte sich auf seine Hand herab.
Sie küßte die Hand des Mannes, der ein »Schandkerl« war.
Von keinem anderen hatte sie Abschied zu nehmen. In ihrer Heimat, der zuliebe die Tochter des Mesners die Heimat verlassen hatte, nicht von einem einzigen anderen! Um Lehrerin von Maloja zu werden, hatte sie im fremden Lande gearbeitet und gearbeitet, gedarbt und gedarbt. Die Nächte durch hatte sie deshalb gearbeitet, Not hatte sie darum gelitten ... Nein! Nicht »darum«. Das eben war's ja! Um Sivo Courtiens willen hatte sie gestrebt und hatte sie erreicht. Hätte sie ihre Liebestat, die Gründung der Schule, nur aus Liebe zur Heimat getan, so hätten sich ihr heute sicher viele Hände entgegengestreckt: »Geh nicht von uns fort!« So hätte ihr heute von all dem Abschiednehmen das Herz gewiß schmerzlich und zugleich glücklich gepocht. Denn es war doch etwas Großes darum, geliebt zu sein und entbehrt zu werden. Das Größte war's! Wenigstens für die Frau.
Um an dem Hotel nicht vorüber zu müssen, wollte sie einen Umweg machen. »Das ist feig!« schalt sie sich selbst und setzte ihren Weg fort: am Seeufer entlang und weiter den Hütten von Cresta zu. Sie gedachte des Tages, an dem sie auf dieser Straße dem Reisewagen mit der vornehmen Fremden begegnet war; gedachte des unerklärlichen, ahnungsvollen Gefühls, das sie damals jählings befallen hatte; und sie dachte an alles, was der Begegnung gefolgt war. Bild um Bild stieg in ihrer Seele auf. Heute das letzte: sie, Maira, an dem großen, prächtigen Hause vorübergehend, darin die Fremde von neuem wartete; sie, Maira, hinaufschreitend durch Felsenwildnis, durch Eiseswüste zum Gipfel auf, zum Freunde hin.
In dem Kampfe der beiden Frauen um diesen Mann war das Mädchen aus dem Volk Siegerin geblieben ... Hatte sie denn gekämpft? ... Nein! Nur gelitten hatte sie. Demnach durfte sie sich heute, an dem Palast der Fremden vorübergehend, nicht als Siegerin fühlen.
Sie hätte mit der Unheilsfrau sprechen sollen. Der Mann, dessen Hand sie heute ehrerbietig geküßt, hatte es von ihr gefordert. Sie war jedoch stumm geblieben. Ohne sie hatte des Freundes Geschick sich erfüllt, das ihre Worte nicht hätten aufhalten können. Sie wußte: diese blieben ihr nicht erspart. Wie die Stunde kommen würde, wo er sie zu sich rief, ebenso bestimmt würde auch die andere Stunde kommen, wo sie reden mußte: Maira à Mara mit der Gräfin Oberndorff! Sie wollte beten, daß ein guter Geist ihren Worten Macht geben möge ...
Maira war eine schlechte Beterin. Auf dem Gange hinauf zum Geliebten kam sie an dem Kirchlein vorüber, darin er die gespenstische Trauung mit ihr hatte vollziehen lassen. Das kleine Gotteshaus in der großen Alpenwelt stand offen. Sie ging vorüber, gelangte zu dem verwilderten Totenacker, wo über die Gräber der Malojaleute Wacholder und Alpenrosen hinfluteten. Sie blieb stehen; aber nicht zum Gebet. Wäre sie eingetreten und hätte sich auf die Knie geworfen, um zu der Gottheit, die sie heute diesen Weg führte, ein Gebet emporzustammeln, so wäre das nicht ihre Art zu beten gewesen. Aber ihre Seele beugte sich dem höchsten Herrn; ihre Seele betete an, pries, dankte, Und sie ließ ihre niedergebeugte Seele als Gebet Courtiens Worte wiederholen, die er an dieser Stätte zu ihr gesprochen: »Wenn ich dich brauchen sollte, würdest du kommen? Durch Schnee und Eis; über Gletscherspalten und Abgründe; durch Sturm und Nebelnacht, Verderben und Todesgefahr kämst du herauf zu mir, wenn ich dich riefe?«
»Ja!«
Und sie kam!
Höher und höher hinauf! Der Erde mehr und mehr entrückt, dem Himmel näher und näher. Es war ein glanzvoller Tag. Die Lüfte schienen von Strahlen durchschossen zu werden, und dem Schimmer enttauchten die Schneegefilde wie eine über sommerliche Tiefe zur Sonne emporgehobene Winterlandschaft unzugänglicher Gipfel.
Höher und höher hinauf stieg mit der Bergwanderin ihre Seele. Ihre jauchzende Seele hielt heute immerfort Kirchgang. Sogar das Sakrament empfing sie auf diesem Wege zur Höhe, welche die Höhe ihres Lebens war: die Schönheit der Welt verwandelte sich für ihre anbetende Seele zu dem Göttlichen selbst.
Aus einer Schlucht stieg ein feines Gewölk auf. Die Sonne durchleuchtete den zarten Dunst, daß es die wilden Klippen wie goldene Schleier umfloß. Maira grüßte den wallenden, schimmernden Nebelstreif. ›Er zwingt dich doch auf seine Leinwand! Jetzt zwingt er dich! Da ich zu ihm komme, da ich bei ihm bleibe. Die schwarze Wolke wird aus seiner Seele weichen; seine Lebenssonne, der Glaube an sich selbst, wird wieder scheinen. Unter diesem Zeichen wird er siegen. Ich trage den Sieg zu ihm empor. Hosianna in der Höh'!‹
Ein Adlerpaar! Es umkreiste einen Gipfel des Barone. Ein einziger majestätischer Flügelschlag trug die königlichen Vögel weit dahin. Sie horsteten über den Wolken ... Über den Wolken, über der Erde würde sie mit dem Geliebten leben, jeder von ihnen einsam; dennoch beide zusammen! Sie lebend in dem Klang seiner Stimme, dem Leuchten seines Blicks, der Herrlichkeit seiner Gegenwart. Mehr wollte sie nicht für sich. Schon das war fast zuviel; schon das der Leiden wert, die sie gelitten. Sie grüßte das Adlerpaar. Vielleicht sah auch er es, bei ihrem Anblick der Freundin gedenkend: daß sie jetzt zu ihm kam, bereits unterwegs zu ihm war.
Dem Kreisen der beiden Adler zuschauend, gewahrte sie, daß einer der stolzen Vögel plötzlich den anderen verließ. Er schwebte höher und höher, schien zur Sonne aufzusteigen, in die Sonne hinein. In der Glorie entschwand er dem Auge.
Der verlassene Vogel versuchte, dem Gefährten nachzusteigen, konnte ihm nicht folgen, sank wieder herab, umkreiste einsam mit flatternden Schwingen den Fels, stieß einen heiseren Schrei aus. Es war wie ein Schmerzenslaut, wie ein Verzweiflungsschrei.
Gewiß war es das Weibchen, das dem starken Sonnensegler nicht nachkam und in der Tiefe zurückbleiben mußte.
Mairas Seele sollte dem Freunde auf seinem Himmelsflug folgen können! ... Da hörte sie ihren Namen! ihren Namen von der geliebten Stimme rufen.
Er kam ihr entgegen, sah sie, grüßte sie: »Maira!«
Und noch ein zweites, ein drittes Mal: »Maira! Maira!«
Weiter sagte er nichts: sagte ihr Name doch alles! Sie streckte ihm die Hand entgegen, nickte ihm zu, lächelte ihn an.
Dann stiegen sie zusammen hinauf, höher und höher und höher.
Sie sprachen kein Wort. Als sie oben anlangten, faßte er ihre Hand und führte sie in sein Haus, dessen Tür für die Eintretende weit offenstand.