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Die Wintergäste im Grand Hotel hatten bei ihrem Schnee- und Eissport zwei neue Teilnehmer erhalten. Wie war das gekommen?
Da Dionisio Fidora in der Kirche zur Ehre Gottes seine herrliche Stimme erschallen ließ, konnte er dies auch zur Unterhaltung der Menschen in dem prächtigen Musiksaal des Hotels vor einem sich langweilenden, distinguierten Publikum. Also erging an den Sänger von der Direktion die Aufforderung, an einem der endlos langen Winterabende zur Mandoline italienische Lieder zu singen. Der Eingeladene erschien in seinem besten, immer noch sehr bescheidenen, dunklen Röcklein, das er mit einem Anstand trug, als sei es ein perfekt gemachter Frack; er sang Tosti nebst einem Dutzend italienischer Volkslieder und wurde nach der Produktion zum Bleiben aufgefordert. Er nahm auch diese Auszeichnung an und betrug sich derartig »gentlemanlike«, wie es von einem Dorfschullehrer einfach unerhört war, so daß man ihm erlaubte, wiederzukommen. Als die Gesellschaft erfuhr, der Dorfschullehrer habe das reiche Honorar, das ihm die Direktion bei seinem Fortgang in einem Kuvert zustecken wollte, mit einer grandiosen Gebärde abgelehnt, galt Dionisio Fidora den Gästen des Grand Hotel als ein junger Mensch von einem Takt, wie er bei »diesen Leuten« selten zu finden.
So ereignete es sich, daß die Fremden in der eleganten Langeweile des Malojawinters etwas zu flüstern bekamen; denn augenscheinlich interessierte sich die Gräfin Oberndorff für den schmucken Jüngling mit dem lockenumwallten Haupt, das bestimmt schien, eine Krone des Lebens zu tragen, geflochten von den zärtlichen Händen liebenswürdiger Frauen.
Es blieb nicht bei Lautenspiel und Gesang allein: auch an den Amüsements auf dem gefrorenen See, den Schlittenfahrten nach Sankt Moritz und Pontresina, den Touren auf Schneeschuhen ins Murettotal und zum Fornogletscher durfte der Begünstigte teilnehmen, einer der liebenswürdigsten Gesellschafter, der anmutigsten Plauderer, von einer Laune, so leuchtend wie ein wolkenloser Engadiner Wintertag ... Bei den Eisspielen und dem Schneelauf rang Dionisio Fidora mit Sivo Courtien um die Meisterschaft.
Als Josette ihren Freund nicht mehr damit quälte, einer der Ihren – einer der Gesellschaft vom Palasthotel – zu werden, wurde es Sivo Courtien ungebeten. Er wurde es, weil er ohne die Geliebte, die seine Freundin geworden, nicht mehr sein konnte.
Das Hohelied der Leidenschaft, das diese elementare Mannesseele wie einen Hymnus anstimmte, hatte sich in schrillen Mißton, in einen gellenden Aufschrei verwandelt: ›Ich kann nicht mehr ohne dich sein.‹
Befand er sich nicht bei ihr, so war er ein gebrochener Mann, den der treue Vital wie einen Schwerkranken, einen von der Gottheit Geschlagenen behandelte.
Bereits in der Nacht, vor Anbruch jedes Tages, begann das Ringen mit dem Wahnsinn seiner Leidenschaft, zu dem seine Liebe sich verzerrt hatte. Er wollte stark sein, wollte sich ermannen, wollte wieder Sivo Courtien werden: endlich wieder Sivo Courtien! Gleich heute sollte es geschehen. Sie hatte ihm gestern versprochen, vormittags zu kommen – es geschah jetzt nicht oft –, damit er an ihrem Bilde weitermalen konnte: an einem der vielen, die er begonnen, und von denen er keines vollendet. Denn jedes zeigte nur ihr Gesicht, ihre Züge, ihr Lächeln, ihren Blick. Nicht ihr Wesen, ihre Seele! Auf keine Leinwand hatte er auch nur einen Teil ihres. Wesens und ihrer Seele bannen können. Nun wollte er doch versuchen, einen Teil auszudrücken, damit er wenigstens ein Stück ihrer Seele auf der Leinwand behielt, wenn er sie einmal lassen mußte. Trotzdem nahm er sich noch in der Nacht vor, gleich in aller Frühe Vital ins Hotel zu schicken: »Die Gräfin möchte heute nicht zur Sitzung kommen. Auch nicht morgen!«
Wie sollte er ihr's sagen lassen? Ohne weiteres als Botschaft vom Portier, von einem Kellner ausgerichtet? ... Der Mensch würde bei der Meldung lächeln; und die bloße Vorstellung dieses frechen Lächelns machte ihn erbeben.
Vital selbst konnte ihr die Bestellung überbringen; aber Vital ging nicht zu ihr: der Zofe, der Nerina wegen, die der Mann wie sein eheliches Weib gehalten hatte.
Courtien mußte ihr schreiben ... Und mitten in der eiskalten Winternacht erhob er sich von seinem Lager, kleidete sich an, machte Licht, begann zu schreiben ... Was? Es müsse aus sein zwischen ihnen beiden; er ertrüg's nicht länger, er gehe zugrunde; er sei ein Elender, ein Erbärmlicher und Feigling! Er müsse los von ihr, wolle sie am Vormittag nicht sehen – wolle sie nie mehr wiedersehen.
Los von ihr! Sie nie mehr wiedersehen! Das eben war's ja!
Er zerriß das Schreiben in winzige Fetzen, sprang auf, lief im Zimmer auf und ab, beständig dieselben Worte murmelnd, als wären sie seine einzige Sprache geworden: »Los von ihr! Sie nie mehr wiedersehen!«
Im nächsten Augenblick würde er es laut schreien müssen, Vital würde davon erwachen und ihn für toll halten. Damit sein Aufschrei Vital nicht weckte, verließ er das Haus, lief auf die Landstraße zum See; lief weiter und weiter in die Nacht hinaus, in die Winterwildnis hinein: »Los von ihr! Sie nie mehr wiedersehen!«
Er lief bis zur Ermattung, schrie, bis er vor seiner eigenen Stimme sich entsetzte ... Als der Tag aufdämmerte, kehrte er zurück, ein gebrochener Mann, ein von der Gottheit Geschlagener. Er trat in das Haus, darin er seine Kinderspiele gespielt; er trat in das Zimmer, darin sein toter Vater, seine tote Mutter aufgebahrt gewesen: armselige, ehrliche Leute, die ihren einzigen Sohn liebgehabt hatten. Nun stand dieser geliebte Sohn im fahlen Morgenlicht und schaute sich um. Er sah das dürftige Gemach mit grünen Zweigen festlich geschmückt; er sah den mit einer schönen Decke belegten Podest, sah die Skizzen, die Entwürfe, die ganze Galerie unvollendeter Bilder. Sie zeigten sämtlich die eine Gestalt, das eine Gesicht: sie – sie – sie! Ihr Antlitz, ihr Hals, ihre Arme leuchteten aus dem Purpur des Mantels; ihr weißer Leib schien sich aus Wellenschaum zu heben, der Sonne entgegen, die Sonne bringend; ihre Augen – die Augen dieser einen und einzigen – sahen ihn an: unnahbar, hoheitsvoll und schrankenlos hingebend; streng versagend und heiß verkündend; mit der Entrücktheit der Priesterin und dem leeren Blick der Weltdame, der Zärtlichkeit der Geliebten.
Und dann sie nicht wiedersehen – »nie mehr« wieder!
Er fühlte sich zu Tode ermattet, wollte sich jedoch nicht mehr auf sein Lager werfen, wollte Körper und Seele nicht Ruhe gönnen. Er hätte vom Schlummer überwältigt werden, die Zeit ihrer Ankunft verschlafen können und durfte von ihrer Gegenwart nicht einen Augenblick verlieren. »Wahnsinn« nannte er selbst seine Leidenschaft ... Wahnsinn war' es gewesen, wenn er seiner Leidenschaft sich hätte entziehen, von der Geliebten sich losreißen – wenn er sie hätte nie mehr wiedersehen wollen.
Um der Ermüdung Herr zu werden und sich beständig mit ihr beschäftigen zu können, sprach er halblaut mit ihr, als ob sie bereits bei ihm wäre. Er sagte ihr Dinge, die er ihr selbst nicht sagen würde – jetzt nicht mehr: »Mein Leben könnte ich hinbringen, zu dir redend. Du brauchtest mir nicht zu antworten, brauchtest mich nur anzuhören. Gab es je eine Zeit, wo ich nicht zu dir sprechen konnte, wo ich dich nicht liebte? Und wir sollten uns trennen können – trennen müssen? ... Mir ist, als sagte ich dir einmal: jeder von uns beiden gehöre einer anderen Welt an. Du und ich waren getrennte Welten ... Wie konnte ich dir das nur gesagt haben? ... Wir wurden füreinander geschaffen! Die Elemente selbst führten uns einander zu in einem Schöpfungssturm. Die Wonne unserer Liebe – unserer Liebe Qual schweißten unsere Seelen zusammen. Und jetzt sind sie zu einer Seele geworden!
»Meine Kunst ... Ich wollte meine Kunst nicht hingeben für meine Liebe. Wahnsinn, Wahnsinn! Meine Liebe zu dir ist meine Kunst; denn sie ist mein Genie. Ich bin nur groß in dem einen und einzigen: dich zu lieben ... Entsetzest du dich vor der Gewalt meiner Leidenschaft? Hast du das nicht gewußt? Nicht gewußt, wie ein Mann meiner Art ein Weib von der deinen liebt? Verzehrend, vernichtend! Meine Liebe sollte dich töten. Dann erst wäre sie Vollkommenheit ... Lächelst du über den Sinnlosen? Dich töten, hieße der Schöpfung größtes Kunstwerk zerstören; und ich sollte doch wissen, daß ein Kunstwerk göttlich ist.«
So brachte der Unselige die Zeit hin, bis das Tageslicht ihm gestattete, einen der Entwürfe, eine der Phantasien zu nehmen – irgendeine! – die Skizze auf die Staffelei zu stellen, die Palette vorzubereiten. Er bedurfte ihrer Gegenwart nicht, um den Entwurf zu vollenden: trug er doch ihr Gesicht, ihre Gestalt in sich, daß er nur in sich zu blicken brauchte, um das Geschaute auf die Leinwand zu bringen. So begann er denn.
Unmöglich! Es war nur ein mattes Bild ihrer Frauenherrlichkeit, undeutlich, wie umschleiert. Er mußte sie selbst haben! Nicht einmal in seiner Seele hatte er sich ihr Bildnis ganz zu eigen machen können – da sie sich ihm nie ganz zu eigen gegeben. Er mußte ihr Leben besitzen, ihre Wirklichkeit; mußte sie atmen sehen, sie fühlen können. Und wenn es nur ihr Gewand war, das er berührte.
Bald mußte sie kommen ... Wenn sie nun nicht kam? Wenn sie in der Nacht heimlich abgereist wäre? Wohin? Fort von ihm! ... Er würde ihr nachreisen, würde sie suchen, sie finden. Aber wenn sie fort wäre –
»Vital! So höre doch! Vital! Ich kann nicht länger allein sein!«
Der Gerufene kam nicht. Courtien suchte ihn in seiner Kammer: er mußte ein Menschengesicht sehen, eine Menschenstimme hören.
Die Kammer war leer.
Richtig! Mühsam besann er sich. Gian Vital ging jeden frühen Morgen fort, um – Weshalb wohl? Es ging ihn nichts an; er fragte nicht; ihn kümmerte auf Erden nur eines.
Da er es allein nicht aushielt, verließ er das Haus. Er ging ihr entgegen. Dann würde er sie früher sehen! Sie liebte es nicht, daß er ihr entgegenging; aber – zweimal, dreimal, viermal ging er bis in die Nähe des Hotels, wartend, wartend, wartend ... Endlich kam sie! Er sah sie. Niederfallen hätte er mögen und ein Dankgebet stammeln; aufjauchzen hätte er mögen, daß die Berge widerhallten von dem Jubel seines Glücks. Nur, daß er sie sah, wieder ihre Stimme hörte, in ihrer Gegenwart wieder leben konnte. Allein das war Glücks genug.
Sie kam. Er mußte sich zusammennehmen, mußte ruhig scheinen. Nichts durfte ihr verraten, welch ein Orkan diese Nacht seine Seele durchtobt, wie er gelitten hatte. Er mußte ihr sein Leiden verhehlen, mußte sich verstellen, lügen. Sie wollte keine Szenen. Das Ende kam sonst – noch früher ... Welches Ende? Würde das Ende nicht Verzweiflung sein? Und hatte er früher nicht einmal für unmöglich gehalten, ein Ende könnte je kommen?