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Dem Pfarrer Briccius Ladien wurde gemeldet: jemand wollte ihn sprechen. Wer? Ein Blinder. Der Mann solle hereinkommen.
Gian Vital kam herein – wurde hereingeführt. Die Nerina führte ihn mit fast mütterlich zarter Sorge.
Bei der Tür blieb er stehen. Mit seinen Augenhöhlen schaute er hin, wo er glaubte, daß der geistliche Herr sich befand. Er schwieg. Auch der Hochwürdige konnte nicht gleich reden: die leeren, toten Augen des Mannes waren gräßlich zu sehen! Der ganze Mensch unkenntlich! Dabei hilflos wie ein Kind, das noch nicht gehen kann. Und wie es in dem entstellten Gesicht zuckte! ... Gian Vital hatte jetzt die schwerste Stunde seines Lebens.
Er schickte seine Führerin hinaus: »Wart vor dem Hause. Nicht etwa drinnen! Hörst du? Der Pfarrer läßt dich rufen, sobald ich mit ihm ausgeredet hab'. Es wird schnell geschehen sein.«
»Gib ihm zuerst einen Stuhl.«
Aber Gian Vital wollte in diesem Hause nicht Platz nehmen. Die Nerina schlich hinaus.
Schweigen. Der Hochwürdige mußte es brechen: »Gian Vital! ... Gian Vital, da kommt Ihr ja doch zu mir.«
»Da komm' ich, Pfarrer Briccius Ladien.«
»Ihr hattet ein schweres Unglück.«
»Mein Ungeschick. Wie könnt' ich nur so ungeschickt sein? Ein alter Jäger! Mir geschah recht. Verdiente Strafe, geistlicher Herr.«
Allen Leuten, die ihn bedauerten, sagte er das nämliche in einem Ton, als habe er die Rede auswendig gelernt, Wort für Wort seinem Gedächtnis mühsam eingeprägt.
»Und jetzt führt Euch Euer Unglück zu mir. Vielmehr zum Herrn. Denn der Herr leitete Eure Hand und ließ sie ungeschickt sein. Eures Ungeschicks bedurfte der Herr, um Euch zur Erkenntnis zu bringen. Denn Ihr habt doch erkannt?«
»Ich hab' erkannt.«
»Und bereut.«
»Dann heiß' ich Euch in diesem Hause willkommen.«
Der Willkommengeheißene gab keine Antwort. Wiederum mußte Briccius Ladien sprechen; er mußte weiterfragen: »Was wollt Ihr also von mir?«
»Der Pfarrer meint gewiß, was ich vom Herrn will, da ich beim Pfarrer ja wohl beim Herrn bin?«
»Jawohl.«
»Und da der Herr ja wohl barmherzig ist, ein Gott der Gnade –«
»Und der Gerechtigkeit, Gian Vital.«
»Und der Gerechtigkeit, Pfarrer Briccius Ladien!«
»Ihr braucht nicht so laut zu sprechen.«
»Verzeiht. Der Herr wird auch meine leise Rede hören. Liest er doch des Menschen Gedanken, prüft Herz und Nieren.«
»So ist es.«
»Und so ist es gut! Gut ist, daß der Herr den Menschen nicht nach seinen lauten Worten richtet.«
»Ich fragte Euch, was Ihr von mir wünscht.«
»Euch bitten ...« Mühsam brachte der Blinde das demütige Wort über die Lippen. Es klang wie ein Stöhnen, wie ein erstickter Aufschrei. Aber er sprach es. Mit seinen toten Augen glaubte er das Gesicht des geistlichen Herrn zu sehen, das dieser bei seiner demütigen Rede machte. Er erbebte.
»Um was bittet Ihr mich? ... Was murmelt Ihr? Ich kann nicht verstehen.«
»Und führe uns nicht in Versuchung ... So bete ich jetzt vor Euch, Pfarrer Briccius Ladien; so hätte ich beten müssen, als ich mein Gewehr von der Wand nahm, wo es hing, damit ich bei seinem täglichen Anblick dieses Gebet lernen sollte. Ich lernte es nicht. Und weil ich es nicht lernte, muß ich heut kommen, um Euch zu bitten, mir die Nerina zur Frau zu geben.«
»Also wollt Ihr das Mädchen doch heiraten?«
»Da ich das Mädchen in die Schande brachte ... Ihr könnt mich richten, Hochwürden. Ich meine, wegen der Schande.«
Aber Pfarrer Briccius Ladien richtete nicht: Gian Vitals tote Augen schauten den geistlichen Herrn zu furchtbar an.
Der Blinde hatte noch eine zweite Bitte: daß ihm die öffentliche Kirchenbuße erspart bleiben möge – da er ja doch gebeichtet und bereut habe. Der Pfarrer hatte die öffentliche Kirchenbuße von dem von der Kirche Abgefallenen als Zeichen seiner Rückkehr und Unterwerfung damals gefordert, mußte daher auf seiner Bedingung bestehen. Es war kein Richtspruch des Pfarrers, sondern eine Forderung der Kirche. Das eine konnte unterbleiben, das andere mußte geschehen.
»Ich will's tun. Aber ich tu's wegen der Schande, in die ich das Mädchen brachte, nicht wegen des anderen, derentwillen Ihr mir die Schande antun wollt ... Ist's Euch recht? Sonst –«
Um diesen großen Sünder zu gewinnen, mußte es dem Pfarrer recht sein. Wenn der Sünder die ihm auferlegte Buße vollzog, kam es schließlich nicht auf das ›Warum‹ an. Der Gemeinde gab es jedenfalls ein erfreuliches Schauspiel: Gian Vital tut Kirchenbuße!
»Es ist mir recht.«
»Vergelt Euch Gott Eure Gerechtigkeit ... Welche Buße muß ich des Mädchens wegen vollziehen?«
Briccius Ladien machte es milde. Drei Sonntage hintereinander sollte Gian Vital beim Hochamt in schwarzer Kutte, barhaupt, vor der Kirchentür stehen und Almosen einsammeln: für ein neues Gewand der unbefleckten Gottesmagd, die den Sohn Gottes geboren: das unschuldige Lamm, das für die Sünde der Welt geschlachtet wurde, um die Welt von der Sünde zu erlösen.
Gian Vital behauptete freilich noch immer: die Welt sei durch das vergossene Gottesblut nicht erlöst worden; aber der über ihn verhängten Buße unterwarf er sich.
Drei Sonntage hintereinander in schwarzer Kutte, barhaupt, vor der Kirchentür –
Die Nerina stand neben dem Büßer. Sie hielt mit beiden Händen ein zinnernes Becken und bat: »Es ist um ein neues Gewand für unsere liebe Frau!«
Alle gaben von ihrer Armut ein Scherflein. Das alte Gewand der Bildsäule der heiligen Jungfrau in Malojas uraltem Kirchlein war so schlecht, die toten Augen Gian Vitals waren so fürchterlich anzuschauen, und die Nerina bat so flehentlich, als ob sie selbst die Sünderin, die Büßerin sei.
Gian Vitals öffentliche Kirchenbuße brachte von der Armut der Malojaleute so viel ein, daß die Madonna ein Gewand aus Seide erhielt ...
An keinem dieser drei Sonntage sang Dionisio Fidora beim Hochamt. Also besuchte die Gräfin Oberndorff an keinem Sonntag die Kirche; auch sonst niemand von den vornehmen Gästen des Grand Hotel. Alle hörten: »Es soll fürchterlich sein, wie dieser Mensch dasteht und einen ansieht.«
»Ansieht? ... Er soll blind sein.«
»Er sieht Sie an«, versichere ich. »Es ist grausig, wie der Mensch Sie ansieht!«
Am dritten Sonntage von Gian Vitals Kirchenbuße wurde das Paar getraut: die Braut in einem schlechten Kleid, ohne Kranz; der Bräutigam in schwarzer Büßerkutte. Beiden war's gleichgültig.
Der junge Ehemann dankte dem geistlichen Herrn für die Trauung, die junge Ehefrau schwieg. Dann gingen sie. Die Hochzeiterin führte den Hochzeiter hinaus und davon: sorgsam wie eine Mutter ihr Kind, das noch nicht gehen gelernt.
In ihrem Hause am Crap da Chüern angelangt, sagte Gian Vital zu dem Weibe, das er über alles geliebt hatte: »Dein Kind wird meinen Namen tragen; du aber bist nur dem Namen nach meine Frau – bleibst meine Frau nur dem Namen nach. Wenn du willst, kannst du mich verlassen. Ich bin zwar blind, meinen Weg durchs Leben find' ich jedoch allein; denn ich sehe und erkenne jetzt alles.«
Sie flehte ihn an, trotz seines inneren Gesichts bei ihm bleiben zu dürfen.
Keine Hochzeitsnacht für die beiden Unglücklichen; wohl aber eine Hochzeitsfahrt. Gian Vital bestand darauf, sie zu unternehmen.
Hinauf zum Gletscherhause, wo die beiden anderen Unvermählten lebten.
Mit seinen blinden Augen wollte er wieder den Weg gehen: an der rauschenden Orlenga entlang, zum Cavalocciosee, an seiner alten Jagdhütte vorüber und weiter, zum Fornogletscher, über diesen hinweg, höher und höher ...
Noch in der Nacht brachen die beiden auf. Für den Mann war's gleich, ob die Sonne schien, ob Mond und Sterne leuchteten oder tiefe Finsternis herrschte; und die Frau kannte den Weg, führte so sorgsam, so zärtlich. Sie wollte dem Blinden sagen, wo sie gerade gingen; wollte ihm erzählen, wie alles war: das Tal und die Berge, die Blumen am Wege und die Vögel in der Luft. Aber Gian Vital brauchte nichts erzählt zu bekommen; denn er sah alles. Und alles sah er leuchtend in Schönheit, verklärt von der Glorie einer unirdischen Sonne, die sein Inneres erhellte.
So stiegen auch diese zwei armen Seelen aus Finsternissen und Tiefen zu glanzvollen Gipfeln empor.