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Noch einmal öffnete sich an diesem wilden Sturmtage die Tür des Mesnerhauses auf der Paßhöhe, und jemand trat aus dem Schutz der festen Mauern hinaus in das Unwetter: die Lehrerin von Maloja.
Ihr tat der Sturm nichts. Sie war stark genug, um dem Wüten zu trotzen. Wenigstens dafür stark genug, nachdem sie sich in dem Sturm des Lebens herzlich schwach erwiesen hatte. Immer wieder war es die alte Anklage, die sie gegen sich selbst erhob; sich selbst ihre Schwäche nicht verzeihend, sie nicht einmal vor sich selber entschuldigend: die schwere Schuld forderte eine schwere Sühne.
Auf glitschigem, schwierigem Pfade sturmumbraust niedersteigend, freute sie sich, den Freund der Wut des entfesselten Elements entrückt zu wissen. Für Sivo Courtien wäre freilich die Heimat auch jetzt das Herrlichste auf der Welt gewesen. Sie wußte nicht, wo er sich aufhielt; wußte jedoch: wo er auch sein mochte, würde er nach seinem vom Föhn durchrasten Engadin schmerzliches Heimweh empfinden, im Herzen erst ganz genesend, wenn die Margna wieder über ihm leuchtete und er am Ufer des Cavalocciosees wieder die Sonnenstrahlen wie Sterne auf der düsteren Flut tanzen sah: ein märchenhaftes Funkenspiel! Noch mußte er fernbleiben; denn noch blieb die arge Frau. Er hatte der Freundin nicht geschrieben. Das war zwischen ihnen ausgemacht worden. Von Gian Vital, der des Abwesenden Haus betreute, wußte sie, daß er unter einem weniger rauhen Himmel verweile und vor der Gletscherfrau, deren Geschichte er am letzten Abend im Hotel den Herrschaften erzählt, in Sicherheit sei. Maira erfuhr die Sache und litt darunter; denn daß er sich so weit konnte hinreißen lassen, offenbarte ihr mehr die Tiefe seines Jammers als sein nächtlicher Zusammenbruch vor ihrem Hause. Er sollte vor den Fremden auch von einem Mädchen gesprochen haben, deren machtvolle Liebe den Verlorenen gerettet hatte ... Dieses Mädchen konnte nicht sie sein.
Als sie am Weihnachtsabend den schwersten Gang ihres Lebens tat und sich mit den Kindern ihrer Klasse ins Hotel hinabbegab, sah man sie dort wunderlich an. Sie beachtete es nicht, ließ die Kinder das Weihnachtslied singen, führte sie an die unter dem brennenden Baume hergerichteten Tische, half ihnen die Scheu überwinden, die reichen Gaben empfangen und dafür sich bedanken. Auch die Lehrerin erhielt Geschenke; aber sie gab das Ihre den Kindern, als wüßte sie nicht, daß es für sie bestimmt sei. Sie dankte im Namen der Kinder nicht nur den fremden Herrschaften, sondern auch der Gräfin Oberndorff. Als sie zu dieser Dame ging und sich stumm vor ihr verneigte, fühlte sie aller Blicke auf sich gerichtet.
Und vor aller Blicken hatte ihr Freund sein Innerstes enthüllt! Die Scham darüber trieb ihn danach zu ihr hinauf ...
Glücklich erreichte Maira an dem wilden Föhntage das Ziel ihres Ganges, auf dem der Sturmgesang der Alpen sie begleitete: das Malojafrühlingslied! Ihr Ziel war das Haus des Gemeindevorstehers, kaum eine bessere Wohnstätte als die Hütten der Leute von Cresta oder Ordeno. Nur mit Mühe vermochte das junge Mädchen die Haustür zu öffnen; es war gerade, als wehrte der Sturm ihr den Eintritt.
In dem dunklen, dumpfen Zimmer saß die Frau des Gesuchten am Webstuhl. Sämtliche Kinder der Eheleute drängten sich in dem engen und niedrigen Raum. Die kleine Justa, der Liebling der Lehrerin, stand bei der Mutter und schaute eifrig dem Wurf des Weberschiffleins zu. Es schien so leicht und sah sich so lustig an!
Mairas Erscheinen erregte Befremden, keine Freude. Auch nicht bei der Schülerin, die Courtiens Freundin lieb war.
Nachdem Maira alle begrüßt hatte, sagte sie ihr Anliegen: »Ich habe mit dem Vorsteher zu reden.«
»Mein Mann ist nicht zu Hause.«
»Bei dem Unwetter!«
»Geht doch auch Ihr aus.«
»Um Euren Mann sicher zu treffen.«
»Er ist beim Pfarrer. Habt Ihr's so notwendig?«
»Einmal muß es gesagt werden.«
Die Frau wurde neugierig: »Heiratet Ihr den Lehrer und kommt wegen der Papiere? Denn Sivo Courtien –«
Sie sah Maira an, verstummte und meinte dann entschuldigend: »Es war nicht bös gemeint. Die Leute reden eben so. Sie reden vieles.«
»Über die Lehrerin ihrer Kinder, die sie von Kind an kennen, reden die Leute Schlimmes?«
Die Frau des Vorstehers glaubte, die lästernden Leute entschuldigen zu müssen: »Freilich sind Liebessachen bei uns nicht Brauch. Aber zwei so junge und so saubere Leute immer beisammen! Da heroben bei uns! Selbst der Pfarrer meint, das nähme einmal kein gutes End'.«
»Selbst der Pfarrer Briccius Ladien? ... Nein, Frau! Ich will den Lehrer nicht heiraten. Obgleich der Lehrer ja wohl mein Schatz ist, heirate ich ihn doch nicht; und es nimmt auch kein gutes Ende. Der Pfarrer hat also recht. Denn es ist schlecht und schändlich, wenn die Eltern der Lehrerin ihrer Kinder, die diese wenigstens achten sollen, in Gegenwart ihrer Kinder dergleichen ins Gesicht sagen. Aber wenigstens ist es das Ende.«
Die schwer Gekränkte sprach sehr ruhig, damit die Frau jedes Wort gut verstehen sollte. Als sie ausgesprochen hatte, wollte sie sich ohne Gruß entfernen. Sie besann sich, blieb stehen, ging zu den Kindern und gab jedem die Hand. Die kleine Justa zog sie an sich, küßte sie, sagte freundlich: »Bald bekommst du eine andere Lehrerin, eine bessere. Es wird eine junge und lustige sein. Ich will dafür sorgen, daß die neue Lehrerin jung und lustig ist. Nicht wahr, das freut dich?«
Eifrig nickte die Kleine: »Wird die neue Lehrerin so lustig und hübsch sein wie der Herr Lehrer?«
»Hoffentlich wird sie das sein.« Mairas Stimme klang womöglich noch herzlicher, ihr Blick war womöglich noch milder. Dann ging sie. Selbst das Kind, das ihr lieb war, freute sich, weil es mit der ersten – der »alten« – Lehrerin von Maloja bald ein Ende nahm.
Jetzt war sie dem Freunde gleich geworden! Ihm gleich an Demütigung, die sie wie er als Erniedrigung empfand, und ihm gleich an Scham. Nur daß sie keinen Menschen besaß, zu dem sie sich in dieser Stunde hätte flüchten können. Sie mußte auch jetzt einsam bleiben und ihre Erhebung von diesem Sturz in sich selbst suchen.
Ihre Seele war beschmutzt! Sie, die nur in Reinheit zu atmen vermochte, hatte geglaubt, das könnte nicht geschehen; und sollte es dennoch geschehen können, so würde sie imstande sein, des Lebens gemeinen Staub mit einer leichten Bewegung abzuschütteln. Jetzt traf es sie, und es blieb an ihr haften.
Die Leute, denen sie Gutes erwiesen, hoben den Stein auf, warfen den Stein – ihrer Heimat Volk!
Die Kinder dieses Volkes unterrichtend und sie nach besten Kräften in allem Guten unterweisend, sollte sie die Geliebte des Lehrers der Kinder sein; die Geliebte des anderen, den sie zum Manne nehmen wollte, weil Sivo Courtien der vornehmen Dame gehörte ...
Auf das junge Weib, das sich geschändet fühlte, leuchteten die Berge ihrer Heimat herab, diese starren und stolzen, diese reinen Gipfel, die selten eines Menschen Fuß betrat, die von der Berührung des Menschen sich rein badeten in den ersten Sonnenstrahlen, in dem letzten Tagesschein, dem Schimmer des keuschen Mondes und der ewigen Sterne.
Ihre Lippen mußten stumm bleiben; aber ihre Seele rief es – schrie es: ›Sivo! Sivo! Wie recht hattest du doch, die Menschen zu meiden und von ihnen fort emporzusteigen zu Gletscher und Fels. Wie schön, du Geliebter, bautest du dir dort oben dein Haus. Als du dann herabstiegst und mit den Menschen lebtest, empfingst du in deiner Seele das Gift, das von ihnen ausgeht. Die Menschenkrankheit befiel dich, das Todübel des Menschlichen! Und selbst dort oben konntest du nicht genesen, solange davon noch ein Keim in dir zurückblieb. Dir mußte erst Erkenntnis zuteil werden. Jetzt ward sie dir, und jetzt –
Wenn du jetzt wieder hinaufsteigst, wirst du unter dir lassen, was deine Seele in Abgründe zog; wird dir zu eigen werden, was sie wieder erhebt: deine Seele und deine Kunst! Sie ward mit dir verzerrt und wird mit dir wieder zum Ebenbilde Gottes sich wandeln. Dann kommt auch die Stunde, wo du mich rufst. Jetzt weiß ich, daß sie kommt! Du wirst rufen, und ich – werde kommen!
Bis dahin will ich hier unten bleiben. Warten will ich und wachen, wenn du dort oben bist über den Wolken – über den Menschen.
Das Übel der Tiefe lasse ich nicht hinauf zu dir. Das soll meine Tat sein, die meine Schwesterliebe für dich begeht und die mich dir gleichmacht in deiner Erhebung, wie ich es heute in meiner Erniedrigung bin.‹
Nein – der Sturm der Alpen beugte sie nicht, die eine Tochter war dieser grausamen, dieser großen Natur. Hochaufgerichtet schritt sie unter dem Wüten und Brausen dahin ... Welchen Weg? Zu welchem Ziel? ... Wieder nach Hause? ... Nicht doch! Sie wollte vollführen, wozu sie ausgegangen war.
Beim Pfarrer befand sich der Vorsteher? Weshalb sollte sie diesem im Pfarrhause nicht sagen, was sie ihm zu sagen hatte? Auch der Hochwürdige mußte es erfahren ... Also zum Pfarrer Briccius Ladien!
Durch die ältliche Magd ließ sie beim geistlichen Herrn sich melden, der mit dem Vorsteher Gemeindesachen besprach. Sie wartete im Flur und hörte drinnen die harte Stimme, die Milde verkünden sollte, der Dienerin erwidern: »Die Jungfer Lehrerin? So, so! Sie möge warten.«
Also wartete Maira. Sie hätte lächeln können. Wie klein das war! Und der fromme Mann wähnte, ihr etwas Großes anzutun, eine Kränkung ... Als nach einiger Zeit der Vorsteher heraustrat, sagte sie zu dem Manne: »Ich kam, um Euch in des Pfarrers Gegenwart zu sprechen. Fragt den geistlichen Herrn, ob ich darf? Es betrifft die Schule.«
Obgleich den Seelenhirten von Maloja die Schule von Maloja nichts anging, wollte er anhören, was die Lehrerin darüber zu sagen hatte. Eigentlich erwartete Briccius Ladien etwas ganz anderes: Maira à Mara sollte zu ihm kommen in der Kirche, zum Beichtstuhl, eine reuige Sünderin, die er, Briccius Ladien, wieder dem Himmel zuführte, der den Menschen in Schuld verfallen läßt, um ihn von den Armen der Kirche zu sich emportragen zu lassen. In Schuld ließ der Himmel sogar diese starre Frauenseele verfallen, und das gerade ihrer Starrheit willen. Aber nicht deshalb kam Maira à Mara zu dem geistlichen Herrn! Heute nicht! Sie würde ein nächstes Mal deshalb kommen. Auch Briccius Ladien hatte warten gelernt.
Die Lehrerin trat ein, grüßte den Geistlichen, der ihr, ohne aufzustehen, mit einer würdevollen Handbewegung einen Sitz bot. Sie tat, als bemerkte sie's nicht. Vor beiden Männern stehend, gab sie den Grund ihres Kommens an: »Ich gebe der Gemeinde heute meine Kündigung als Lehrerin.«
Der Vorsteher, der ein gescheiter und redlicher Mann war, erwiderte bedächtig: »Das überlegt sich die Jungfer Lehrerin wohl noch?«
»Das ist überlegt worden. Lange und reiflich. Ihr kennt mich, Vorsteher. Wenigstens solltet Ihr mich kennen. Ihr besser als die anderen.«
»Demnach wäre darüber nichts mehr zu reden?«
»Nichts mehr.«
»Mir tat's leid, wenn's bei dem Wort der Jungfer bleiben sollte.«
»Seht, Vorsteher, das freut mich. Und ich sag's Euch gerade heraus.«
»Und der Jungfer sag' ich gerad' heraus: ich find's von ihr nicht recht, wo sie uns doch die Schule gegeben hat. Und das wahrlich unter harter Mühsal. Keiner weiß es besser als ich. Und wenn die Jungfer meint, in Maloja würd' ihr's nicht gedankt –«
Maira unterbrach den ernstlich bekümmerten Mann: »Das mein' ich nicht, Vorsteher. Ich tat's nicht Dankes wegen. Ich will keinen Dank. Auch das wißt Ihr, der Ihr mich kennt.«
»Das weiß ich. Und gerade deswegen betrübt mich der Jungfer Entschluß um so mehr.«
Der Hochwürdige hörte scharf zu. Im Mesnerhause war etwas vorgefallen. Was? Etwas mit dem jungen Lehrer! Jetzt mischte sich Briccius Ladien ins Gespräch: »Da werden doch wohl Gründe sein, weshalb die Jungfer gehen will? Gar so plötzlich!«
»Gewiß, Herr Pfarrer.«
»Darf man sie wissen?«
»O ja.«
»Die Gründe sind sehr einfach. Ich bin eine schlechte Lehrerin.«
»Oh!«
Der Ausruf des Erstaunens war aufrichtig. Dieses junge Mädchen verließ, was sie mühselig geschaffen hatte, weil sie ihr Amt schlecht verwaltete. Sie klagte sich selbst an. Und das vor Pfarrer und Vorsteher! Wenn alle Vorsteher und Pfarrer, die schlechte Diener der Herren, schlechte Vertrauensmänner ihrer Gemeinden waren, sich selbst anklagen und ihres Amtes für unwürdig erklären würden, so wäre das – Dahinter mußte etwas anderes, ganz anderes stecken.
Der Vorsteher schwieg. Sein Gesicht war ernst, sein Blick nachdenklich. Der Hochwürdige warf salbungsvoll ein: »Wenn die Gemeinde mit der Lehrerin aber doch zufrieden sein sollte? Und ich glaube, sie ist es?«
Der Befragte nickte bedächtig: »Sie ist es.«
Maira erklärte: »Sie kann's nicht sein; denn ich selbst bin unzufrieden mit mir. Längst hätte ich gehen sollen. So lange zu bleiben war unrecht.«
Da rief Briccius Ladien: »Ist's etwa, seitdem die Gemeinde auf eifriges Betreiben der Jungfer einen jungen Lehrer angestellt hat, daß die Kollegin mit sich unzufrieden ist?«
Dem Blick des Geistlichen ruhig begegnend, bestätigte die Tochter des Mesners: »Ganz recht, Herr Pfarrer. Es ist erst seitdem, hätte jedoch viel früher sein können und müssen. Herr Fidora ist ein vorzüglicher Lehrer. Gerade das hat mir meine eigene Unzulänglichkeit zum Bewußtsein gebracht. Der Herr Pfarrer hat also wirklich ganz recht!«
Dem Mädchen war nicht beizukommen! In ihrem Gesicht zuckte nicht eine Miene; und ihre Stimme blieb so gelassen, wie ihre ganze Haltung war. Mit aufrichtigem Bedauern erkundigte sich der Vorsteher: »Die Jungfer hat doch gewiß bedacht, wie's ohne sie mit der Schule werden soll?«
»Die Gemeinde nimmt eine andere Lehrerin, eine bessere; und die Schule bleibt im Mesnerhause. Einstweilen wenigstens.«
»Und der Lehrer?«
Der Pfarrer tat die Frage.
»Auch der Lehrer kann bleiben – wenn er zu bleiben wünscht. Wir schicken ihn nicht fort. Auch jetzt nicht. Der wir's waren, die ihn ins Haus nahmen.«
Auch jetzt vollkommen gelassen! Ohne ein Beben der Stimme, ohne ein Zucken der Lippen. Der Pfarrer konnte sich nicht enthalten, heftig zu rufen: »Mein Mesner war dagegen. Es war seine Tochter, die den Fremden durchaus im Hause haben wollte. Trotz der großen Unschicklichkeit.«
»Die Unschicklichkeit, Pfarrer Ladien, ging mich nichts an.«
»Auch heute nicht?«
»Heute genau so wenig wie damals; weil ich heute genau wie damals das tue, was ich für recht halte ... Bei der neuen Lehrerin bleibt's also, Vorsteher. Im Mai muß sie hier sein.«
Sie grüßte beide Männer, wandte sich zum Gehen, kehrte bei der Tür um, ging zum Vorsteher zurück, dem sie die Hand reichte: »Nochmals Dank für Euer gutes Wort. Es kam zur rechten Zeit. Wenigstens einer, der mein Fortgehen bedauert. Mehr als eines Guten und Gerechten bedarf der Mensch nicht, um seinen Weg bis zum Ende zu gehen. Grüßt Eure Hausfrau von mir.«
Ihren Weg bis zum Ende ... Er sollte hinaufführen!