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Winter in Maloja!
Gian Vital konnte es dieses Jahr nicht dem Murmeltier gleichmachen und sich in der Hütte am Cavalocciosee verkriechen, um daselbst einen langen Schlaf zu tun, während die Welt draußen tief und tiefer in weißen Glanz versank. Wie es jetzt um den Mann stand, hätte er's nicht viel besser gehabt als das Wild, das der einstmalige Wilderer und Gemeindejäger nicht mehr jagen durfte und das sich in Felsspalten und unter überragenden Klippen verkroch, das herbe Nadelholz aus dem Schnee kratzend und benagend, um nicht elend Hungers zu sterben. Aber Gian Vital hatte es besser; denn er wohnte am Crap da Chüern bei dem Manne, der seine stolze Höhe und sein mächtiges Werk verlassen hatte und der geliebten Frau in die Tiefe gefolgt war.
Gian Vital stand nicht mehr in Diensten des Malojahotels. Es war damit nicht länger gegangen: der Wildling taugte zum Herrendiener ebensowenig wie zum Gottesknecht. Er besaß außer seiner Leidenschaft für Jagd nur noch eine starke Begabung: die zur Liebe, und mußte um beides ein Martyrium erdulden.
Als Courtien ihn als Hausgenossen bei sich aufnahm, bot er ihm ein brüderliches Willkommen. Danach deutete er auf eine Stelle an der Wand des gemeinsamen Wohnzimmers und sprach mit tiefem Ernst: »Dort hänge deine Büchse auf! Denn du sollst sie immer vor Augen haben. Der Anblick deines Gewehrs soll für dich eine beständige Versuchung, eine beständige Prüfung sein: weiß ich doch, du wirst sie bestehen und wirst deine geliebte Waffe nicht anrühren: nicht eher, als bis du dazu berechtigt bist. Aus deinem täglichen Kampf mit deiner Begierde – deinem täglichen Siege über dich selbst wird dir eine große Kraft erwachsen. Du siehst, wie sehr ich dir vertraue.«
Gian Vital schaute dem Sprecher fest ins Auge und erwiderte ruhig: »Ei, Bürschlein! Wann und wo hast denn du das Predigen gelernt? Etwa diesen Sommer in der Fornohütte? ... Malerlein, hättest Mönch werden sollen! Von dir wären die Gelübde ja wohl gehalten worden, und du hättest nicht vor lauter Sündhaftigkeit auszureißen brauchen. Was für ein elender Schächer bin ich doch gegen dich! ... Übrigens danke ich dir für dein gutes Zutrauen. Schade, daß ich nicht auch dir vertraut habe; dann hättest du die Prüfung gewiß auch bestanden. Da mußte ich solch niederträchtiges Mißtrauen gegen dich haben – Mönchlein, gegen deine Menschennatur.«
Courtien war erbleicht. Er wollte heftig auffahren, bezwang sich aber und ging zu seinem Eckart, dessen Treue ihm nicht hatte helfen können, legte dem Freunde die Hand auf die Schulter, schaute ihn schweigend an – mit einem Blick voll solcher Trauer, solcher Trostlosigkeit, daß Vital sich abwenden mußte. Bald darauf ging dieser aus dem Zimmer ... Als er nach einer langen Weile zurückkam, brachte er seine Büchse mit und hängte sie an dem Platz auf, wo er sie beständig vor Augen hatte: eine Versuchung, eine Prüfung, die er bestehen würde. Courtien versuchte fortan den Blick auf jene Stelle der Wand zu vermeiden ...
Mit der Jagd war dem guten Gian so ziemlich das halbe Leben genommen. Damit war's jedoch nicht genug. Auch um die andere Hälfte seines Daseins sollte er gebracht werden: um sein qualvoll-seliges, wunderliches Liebesleben. Fast war es zu viel selbst für diese machtvolle Natur, zu viel gewaltsamen Schwächens ihrer besten Kraft.
Die Nerina entzog sich ihrem Liebhaber völlig: die Nerina wurde plötzlich fromm.
Das Unheil kam so allmählich über ihn, schlich so lautlos herbei, überfiel ihn so hinterrücks, daß er es nicht begriff, als es schon da war. Aber selbst dann wollte er nicht daran glauben, denn: »Ich halte sie ja doch wie mein eheliches Weib, betrachte sie als solches. Wozu brauchen wir also erst des Pfarrers? Als ob solche christlichen Ehen nicht häufig sehr unheilige Ehen wären!«
»Sagtest du mir nicht diesen Sommer, du seist entschlossen, eine christliche Ehe mit deinem Schatz einzugehen?« fragte Courtien, dem des abgewiesenen Liebhabers starre Ruhe unheimlich war.
»So etwas sagt man wohl; aber – ein Mensch wie ich. Denke doch! Vorerst Kirchenbuße und Schande. Ein Mensch wie ich, Sivo Courtien! Erst dann Absolution. Das Allerheiligste würde in meinem Herzen zum Allerunheiligsten. Zum Sakrileg würde bei mir das Sakrament! Wie darf ich also! ... Und wenn ich sie nehmen und mit ihr fortgehen würde – wohin wir auch kämen, kein Pfarrer gäbe uns zusammen, bevor ich nicht gebeichtet und gebüßt hätte. Auch will sie nicht mit mir fortgehen. Denke doch: sie will nicht! Deine Gräfin selbst hat ihr zugeredet. Und weil sie das getan hat – siehst du, Bürschlein ... Sie hat viel Unheil angerichtet, wird noch mehr anrichten. Mir aber hat sie dadurch Gutes erweisen wollen. Das soll ihr von Gian Vital nicht vergessen werden.«
Courtien war seiner Leidenschaft so völlig verfallen, daß er für die Liebesqual seines Kameraden keine rechte Teilnahme fühlen konnte. Lediglich Josettes Interesse an der Sache beschäftigte ihn: es war so gütig von ihr! Und je mehr Güte er bei ihr entdeckte, um so zärtlicher liebte er sie.
»Sie ist herrlich! Es freut mich, daß du dein Unrecht gegen sie einsiehst und ihr dankbar bist. Es macht dir Ehre. Und wie gütig von ihr, der Nerina sich auch sonst anzunehmen. Das Mädchen ist gar nicht wiederzuerkennen. Und es war doch eigentlich ein halbwildes Geschöpf. Die Gräfin behauptet: sie habe ein erstaunliches Talent zur Zofe, und will sie für sich ausbilden lassen.«
Aber da fuhr Vital auf: »Das danke ich ihr nicht, das nicht! Besser, sie wäre das halbwilde Geschöpf geblieben – tausendmal besser für sie und für mich! Nun will sie auch von deiner Gräfin nicht fort, ist fein geworden, lebt in dem verdammten Fremdenhause wie eine Prinzeß, tafelt mit den Kammerfrauen und Kammerdienern der anderen Herrschaften und läßt sich von dem Lakaiengesindel hofieren ... Wenn das ein gutes Ende nimmt – Malerlein, Malerlein! Ein frommer Christ soll beten: ›Und führe uns nicht in Versuchung‹. Da hängt ja wohl auch meine Büchse, damit ich das Gebet lernen soll. Aber ob ich's je lern'? ... Und ob ich dieser Versuchung nicht erliegen werde? ... Wir armseligen Menschlein wissen gar nicht, was in uns vorgehen und mit uns geschehen kann. Wüßten wir's, so möchte uns grausen. Da wir uns unsere Gedanken nicht selbst geben, sollten wir beten, daß uns gute Gedanken gegeben würden. Denn sonst können wir nicht für uns einstehen. Ich kann's nicht! Nein, nein, nein: ich kann's nicht!«
Der Mann war außer sich.
Vital wollte die Nerina in der verhaßten Fremdenherberge nicht aufsuchen: er verlangte von ihr, sie sollte zu ihm kommen. Das tat sie jedoch nicht. Nun entbrannte auch in dieser heißen Mannesseele der Kampf gegen die dunklen Gewalten in seiner Brust, von denen er nichts wußte. Da Gian Vital nicht mit Bären kämpfen konnte, so lauerte er dem Raubtier in seiner Brust auf und rang mit diesem; denn ihm war zumute, als müßte er einen Totschlag begehen, wenn er nicht in sich selbst etwas totschlug, das er in sich trug, das er aus sich nicht ausbrechen lassen, das er in Fesseln schlagen mußte; und er hatte mitunter die körperliche Empfindung, als würde seine Brust von Ketten umschnürt. Daher quälte ihn die Furcht, es könnte eine Stunde kommen, welche die Bande sprengte. Was dann – wo er die Prüfung doch bestehen sollte?
Eines Tages unternahm er einen schweren Gang: hinauf zur Paßhöhe, zum Mesnerhause. Es dauerte lange, bis der erste Gedanke zum Entschluß, der Entschluß zur Tat ward. Er wälzte in seinem Gemüte den Vorsatz, als sei dieser ein Felsblock, den er einen hohen Berg hinaufschaffen mußte. Beständig entglitt die Gedankenlast seinem Geist, und fast wäre Gian Vital zu einem Sisyphus geworden, wäre ihm schließlich nicht doch gelungen, den Stein zu packen und zu halten. Dann aber stand es bei ihm fest: ›Ich muß mit Maira sprechen; der Mann geht an dem Weibe zugrunde. Nur eine kann ihm helfen: Maira à Mara. Helfen muß sie ihm! Aber ich muß es ihr sagen, muß es für ihn von ihr fordern. Wenn Courtien es wüßte, würde er mich aus dem Hause jagen, als ob ich sein schlimmster Feind wäre. Und bin doch sein bester Freund ... Hinausjagen soll er mich – wenn ihm nur geholfen wird! Ich vermag es nicht.‹
Also trat er den schweren Gang an. Lieber wäre er durch den Malojawinter zu Courtiens verschneitem Atelierhause aufgestiegen ... Unterwegs hatte er eine Begegnung, die ihm das Blut ins Gesicht trieb.
Seine Hochwürden, Pfarrer Briccius Ladien, in Begleitung des jungen Lehrers, des »Welschen«!
Selbst dem geistlichen Herrn hatte es der Dionysische mit seinem Lachen und dem Leuchten seines Wesens angetan. Die beiden waren so eifrig im Gespräch, daß sie Vital nicht gleich bemerkten. Dieser hörte den Geistlichen mit seiner scharfen, harten Stimme sagen: »Dieses Mädchens Todsünde ist sein Stolz. Erst müßte sein sündhafter Stolz gebrochen werden, bevor der Herr es erleuchten könnte. Dann aber –«
Dann aber sah der Sittenprediger den abtrünnigen Klosterzögling, brach mitten im Satz ab, und es geschah das Seltsame, daß der Geistliche den Verhaßten zuerst grüßte: mit eigentümlicher Freundlichkeit, eigentümlicher Miene. Gian Vital grüßte nicht wieder.
Als er an den beiden vorüber war, hörte er den Pfarrer mit lauter Stimme sagen: »Mit dem ist's genau dasselbe: bei dem muß zuerst der sündhafte Trotz gebrochen werden. Dann aber kommt er ... Glauben Sie mir, mein lieber, junger Freund: er wird kommen!«
Der »liebe, junge Freund« bestätigte lachend: er glaube auch, daß »er« kommen werde.
Vital blieb stehen ... Sollte er umkehren und den beiden Antwort geben? Welche Antwort? Eher käme der Fornogletscher zum Pfarrer Briccius Ladien in Beichtstuhl und Kirche als er! ... Durfte er das sagen und beschwören? Konnte der Mensch für sich einstehen? ... Wie sollte er zum Pfarrer kommen? Mit gebrochenem Trotz? Was sollte seinen Trotz brechen? ... Das war's ja eben! Seine leidenschaftliche Liebe sollte seinen sündhaften Trotz brechen; was des Mannes Bestes und Höchstes, zugleich sein Stärkstes war, sollte ihn schwach machen und demütigen. Auf die Knie sollte es ihn niederzwingen. Aber nicht vor der Gottheit, sondern vor dem Priester ... Wenn das je geschehen sollte, wenn er je »kommen« würde: durch die Liebe zum Weibe, um des Weibes willen, so sollte er –
Um der Nerina willen lügen und heucheln, wo er es selbst um Gottes willen nicht getan hätte ... Gott möge ihm die Sünde verzeihen, wenn sie ihn dazu bringen sollten. Es würde eine Todsünde sein. Noch wehrte er sich, blieb standhaft und stark. Bisweilen jedoch war's ihm, als müßte ihm das Begehen der Gotteslästerung, die der Priester im Namen Gottes von ihm forderte, die Fesseln von der Seele reißen; als müßte der Untäter, der in ihm lauerte, dann aus ihm hervorbrechen: wenn sie ihn dahin bringen würden, der Nerina wegen öffentliche Kirchenbuße zu tun.
Es gelang ihm, sich zu beherrschen. Er wandte sich nicht einmal nach den beiden um, ging mit einem tiefen Atemzuge des Wegs weiter, seine Gedanken nicht ohne Mühe von sich selbst abbringend: ›Welches Mädchen meinte der Pfaff? ... Maira! Nur sie konnte er meinen! Er sprach zu dem Laffen von ihrem Stolz, und daß dieser erst gebrochen werden müßte – gebrochen! Durch welches Mittel, zu welchem Zweck? ... Der Zweck wenigstens ist klar: um auch dieses schwarze Schaf der Herde dem guten Hirten wieder zuzuführen. Wodurch? Doch nicht etwa –‹
Trotz des Unsinnigen seines blitzgleich in ihm aufzuckenden Argwohns ballte Gian Vital seine Rechte, hob sie wie zu einem Schlage und ließ sie niederfallen, als hielte er eine Waffe und wollte damit das Haupt des Verruchten zerschmettern. Dabei hatten seine Augen den Blick, der Blut sehen mußte.
Es war auf diesem schweren Gange eine schlimme Begegnung gewesen, und schlimme Gedanken begleiteten den Mann zur Höhe hinauf.
Maira führte mit ihrem Vater ein erregtes Gespräch.
Dem Mesner erschien der fremde Hausgenosse von neuem nicht nur unbequem, sondern auch nicht unbedenklich. Er drang daher auf ein anderes Quartier für den Lehrer. Da stellte Maira den ängstlichen Mann zur Rede, ihrer Art nach ohne alle Umschweife und Milderungen: »Gewiß hat dir der Pfarrer deshalb zugesetzt? Denn ich höre aus deinen Reden den hochwürdigen Herrn.«
Lebhaft verteidigte sich der Beargwohnte: »Du tust mir wieder einmal unrecht. Diesmal sogar auch dem Pfarrer. Wahr und wahrhaftig! Du wirst mir's nicht glauben; ich versteh's selbst nicht recht.«
Der Mann wurde nachdenklich und verstummte. Seine Tochter mußte in ihn drängen, ihr zu sagen, was er von dem geistlichen Herrn nicht verstünde.
»Daß er mir's gar nicht mehr nachträgt.«
»Was sollte der Pfarrer dir weiter nachtragen?«
»In unserem Hause den Fremden! Den jungen Mann, dem du Quartier bei uns gabst.«
Nun erst fiel Maira der Auftritt wieder ein, den sie damals mit ihrem Vater gehabt hatte, als der Pfarrer den Lehrer nicht bei sich wollte wohnen lassen. Sie hatte nie mehr daran gedacht – so wenig blieb an ihr haften, was sie als kleinlich und nichtig empfand. Richtig! Die Leute fanden es unschicklich, daß der junge Lehrer im Mesnerhause mit der jungen Lehrerin unter einem Dache wohnte. Welche Leute? Doch nicht die Bergbauern und Bäuerinnen von Maloja? ... Der geistliche Herr in seiner strengen Sittlichkeit nahm Anstoß daran, und der Mesner hatte unter dem verletzten Sittlichkeitsgefühl des Hochwürdigen den ganzen Sommer über schwer zu leiden gehabt – was der Mann aus Scheu vor dem verächtlichen Lächeln und dem leisen Stirnrunzeln seiner Tochter zu Hause ängstlich verschwiegen hatte. Jetzt erklärte er ihr: »Ich kenne mich mit dem Pfarrer nicht mehr aus. Weil er mit dem Bergeller jetzt so gut Freund ist – der Sakramenter versteht es, jeden herumzubekommen –, so dacht' ich: wir könnten ihn auf gute Manier loswerden, und der Hochwürdige nähm' ihn uns ab. Obenein mit Freuden! Also sprach ich gestern mit ihm.«
Maira hatte teilnahmlos zugehört: was ging das alles sie an? Aber jetzt atmete sie unwillkürlich auf: es wäre eine Erleichterung ihrer Lebensbürde gewesen, wenn der junge, alle Welt bezaubernde Mann, der ihr ein geheimes Grauen einflößte, gegen den sie »ungerecht« war und blieb, wenigstens nicht mehr ihr Hausgenosse sein würde. Schließlich jedoch – als ob sie solche Entlastung überhaupt fühlen würde? Das war bei einem großen Leid das Gute: es gab daneben keine kleinen Leiden mehr. Also zwang sie sich, zu sagen: »Nun, und der Pfarrer?«
»Und dem Pfarrer ist's sehr recht, daß der Lehrer bei uns wohnt. Jetzt auf einmal! Der Pfarrer will ihn uns nicht fortnehmen, den reizenden, jungen Mann, dem man gut sein müßte. Und das alles ganz liebreich. Dann fragte er mich nach dir.«
»Etwa auch liebreich?«
»Väterlich gütig.«
»Zum Erstaunen, nicht wahr? Weil du jetzt keinen Sonntag in der Kirche fehlst.«
»Der Kinder wegen! Denn in der Kirche des Pfarrers Briccius Ladien kann ich nicht beten. Es ist nämlich seine Kirche und nicht Gottes. Aber der Kinder wegen muß ich hinein. Lügen und heucheln muß ich. Zu allem anderen auch das noch!«
Nicht zu ihrem Vater sprach sie, sondern zu sich selbst. Obgleich sie die Stimme kaum erhob, schrie aus ihr solche Seelenqual, daß der Mesner sie fassungslos anstarrte. Ihres Vaters erschrockener Blick brachte ihr erst zum Bewußtsein, daß ein anderer sie hörte. Wenn es auch ihr eigener Vater war, so schämte sie sich dessen, als hätte sie vor fremden Augen ein Stück Seele enthüllt. Und lieber sich selbst verstümmeln, als ihr Inneres entblößen.
Als antwortete sie erst jetzt, erklärte sie ruhig: »Ich erkannte, es sei als Lehrerin meine Pflicht, den Gottesdienst regelmäßig zu besuchen. Pfarrer Ladien hatte recht, mir vorzuwerfen, ich sei in Erfüllung meiner Pflicht lässig. Er hätte mich meines Amtes ebensogut entsetzen können wie Gian Vital.«
Der Mesner, dem seine Tochter ein so fremdes Wesen war, als sei sie das Kind anderer Eltern, bestätigte: »Das meint auch der Pfarrer. Er wollte der Gemeinde nur kein neues Ärgernis geben, sonst hätte er dich nicht Lehrerin bleiben lassen dürfen. Auch hoffte er immer, du würdest dein Unrecht erkennen und deine Christenpflicht tun. So geschah's ja auch. Wir müssen ihm dankbar sein, weil er Geduld hatte und wartete. Es würde noch immer besser mit dir werden.«
»Inwiefern?«
Das Wort klang scharf und hart.
Eingeschüchtert gestand der Befragte zögernd: »Du würdest noch bei ihm zur Beichte gehen.«
»Ich zur Beichte bei Briccius Ladien ...?«
»Er ist der festen Zuversicht, gerade wie bei Gian Vital. Der käme auch eines Tages! Und wie würde er kommen!«
»So, so! Gerade wie bei Gian Vital ...«
»Er sprach wirklich ganz väterlich. Sogar eine Bitte soll ich dir von ihm bestellen.«
»Tu's also.«
»Wenn du mich so ansiehst ... Ob du nicht Sonntags mit dem Lehrer in der Kirche singen wolltest? Zu seinem Tenor müßte deine Altstimme wundervoll passen. Die beiden Stimmen würden in der Kirche zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Gemeinde herrlich zusammenklingen. Es kämen jetzt schon Sonntags die Fremden aus dem Hotel in die Kirche, um den Lehrer singen zu hören. Obgleich der Pfarrer den Fremden gewiß nicht hold ist, freut's ihn, daß sie in seiner Kirche dem Gesang des Bergellers so fromm zuhören. Letzten Sonntag war auch die schöne Gräfin beim Gottesdienst. Du mußt sie übrigens gesehen haben ... Sagtest du etwas?«
»Ich habe die schöne Gräfin letzten Sonntag in der Kirche gesehen. Sie ist wirklich sehr schön.«
»Vielleicht käme auch Sivo Courtien in die Kirche, wenn du mit dem Lehrer zusammen singen würdest – meinte der Pfarrer.«
»Ich werde nicht singen.«
»Auch nicht, wenn der Pfarrer dich bitten läßt?«
»Auch dann nicht.«
»Das wird ihn sehr betrüben; da er's doch so väterlich gut mit dir meint ... Übrigens soll ich dir von ihm sagen –«
»Noch mehr?«
»Es sei gewiß nur böses Gerede. Du solltest dir's nicht zu Herzen nehmen.«
»Ich verstehe dich nicht.«
Sie verstand ihn sofort, verstand sofort die Meinung des Pfarrers. Der Pfarrer meinte: das böse Gerede über die Gräfin und Sivo Courtien – über sie und Sivo Courtien – sei bittere Wahrheit. Der Pfarrer meinte: sie solle es als Strafe für ihren unchristlichen Hochmut hinnehmen, solle in sich gehen und bereuen. Pfarrer Briccius Ladien, der wider Gian Vital und die Nerina eiferte, mußte das Gerede über Sivo Courtien und die Gräfin Von Oberndorff – über Sivo Courtien und Maira à Mara – für Verleumdung erklären, sonst hätte er auch gegen Sivo Courtien sprechen müssen. Aber der Mann war Seiner Hochwürden zu mächtig. Er wartete, bis der Mann durch seine unselige Leidenschaft noch mehr geschwächt war: Briccius Ladien konnte warten.
Während der Mesner über den Trotz seiner Tochter selbst dem hochwürdigen Herrn gegenüber schalt und klagte, trat Gian Vital ins Schulhaus.
Der Alte verstummte. Die plötzliche Erscheinung des von der Kirche Gebannten erschreckte ihn ... Was würde der Pfarrer sagen, wenn er erführe, daß der verstockte Sünder seinen Mesner besucht hatte? Maira dagegen schien sich zu freuen. In ihr blasses Gesicht stieg eine feine Röte. Sie ging auf den allgemein Gemiednen zu, gab »hm die Hand und nannte ihn auch heute nicht anders, als sie ihn seit ihren Kinderjahren genannt hatte: »Lässest du dich auch einmal bei uns sehen? Sei willkommen!«
Sie wußte, daß Vital am Crap da Chüern wohnte, daß der Geliebte dem Verfemten die Treue hielt; und als sie ihm die Hand reichte, behielt sie die seine einen Augenblick in der ihren.
Mit kräftigem Druck faßte der Wildling die Mädchenhand, die sich ihm so traulich überließ. Aber er hatte es von dieser Hand nicht anders erwartet; er dürfte auf sie vertrauen wie auf seine eigene starke Rechte.
»Dir bin ich willkommen. Das seh' ich ... Habe keine Furcht, Mesner, von dir will ich nichts. Wärst du ein Jäger, so könntest du deine Büchse nehmen und mich in deinem Hause niederknallen; denn ich bin in der Gemeinde ein Freiwild, seitdem sie mich auf Befehl ihres Pfaffen davongejagt hat. Zu deiner Tochter komm' ich. Bei der hat ein Verfolgter Freistatt; bei der trifft keine Kugel. Ich wollte, das wüßt' auch ein anderer. Wird's noch einmal wissen. Wenn's dann nur nicht zu spät ist.«
Der Mesner murmelte etwas von unchristlichem Lebenswandel; aber Maira ließ ihren Vater nicht ausreden. Sie sagte, zu Vital gewendet: »Da du mit mir sprechen willst, so komm mit mir.«
Sie ging ihm voraus in das Schulzimmer, bot ihrem Besuch einen Sitz, während sie selbst, ihm zugekehrt, beim Fenster stehenblieb, so daß ihr Gesicht für Vital umdunkelt war. Behutsam begann dieser, unwillkürlich mit leiser Stimme sprechend: »Bevor es zu spät wird, möcht' ich mit dir reden. Deshalb komm' ich.«
»Du bist ein treuer Mann. Aber deshalb hättest du nicht kommen sollen.«
Auch das Mädchen sprach so leise, als befände sich im Zimmer ein Schwerkranker; und seltsam war's, wie beide vermieden, einen Namen zu nennen.
»Zu wem hätt' ich wohl sonst kommen sollen, wenn nicht zu dir? Denn nur bei dir ist Hilfe.«
»Nichts vermag ich, nichts bin ich. Keiner weiß, wie hilflos ich bin. Ich kann nicht einmal den Kindern helfen, daß sie mich gern haben und bei mir lernen. So steht's um mich.«
Vital vermied, zu ihr hinüberzusehen. Er glaubte, selbst sein Blick müßte dieser wunden Seele weh tun. Und es war solch stolze Seele ... Mit einer so weichen und linden Stimme, als spräche er zu einem kranken Kinde, sagte der wilde Mensch: »So steht's mit dir? ... Ich seh's, und – Und bald wird's mit dir ganz anders stehen. Oder ich will nie mehr eine Büchse abschießen; also nie mehr ein rechter Kerl sein ... Du solltest die Kinder nicht lehren können, dich gern zu haben? Als käm's darauf an? Du wirst einen Mann lehren, dich zu lieben, als ob in dir alles Heil sei ... Das ist für dich das rechte Wort! Heil – heilen – eines Menschen Heiland sein ... Wär' ich nicht ein armseliger Klosterschüler geblieben, wäre ich nicht davongelaufen, sondern hätte Gelübde getan und wäre ein frommer Kapuzinerpater geworden, so könnt' ich dir das Heil, das für den Mann von Frauenliebe kommt, besser verkünden. Mir selber ist davon freilich nur Unheil gekommen. Vielleicht weiß ich gerade deshalb Bescheid damit. Ein anderer wird's anders erfahren. Wenn der Tag kommt, will ich auf die Margna steigen oder auch auf den Monte della Disgrazia. Dann will ich dort oben meine Büchse abschießen: auf kein Tier noch auf sonst ein lebendiges Geschöpf. Zur lieben, himmlischen Sonne hinauf will ich schießen und dabei deinen Namen rufen. Es soll mein Dank an dich sein.«
»Dank, wofür? Daß ich deinem Freunde niemals das Heil bringen kann? ... Du sollst mich nicht so hochstellen! Ich verdien's nicht. Ich will nicht für etwas anderes gehalten werben, als ich bin. Es beleidigt mich, demütigt mich!«
»Erniedrige dich jetzt nur selbst. Mein Gipfeltag wird doch kommen.«
»Gian Vital, was willst du von mir?«
»Eine Liebestat von dir fordern. Nur du kannst sie tun.«
»Ich sagte dir, ich sei zu schwach.«
»Du und zu schwach? Du kannst noch ganz anderes vollbringen.«
»Fordere also!«
»Du mußt mit ihr reden. Denn mit ihm zu reden nützt nichts.«
»Deshalb kamst du zu mir?«
»Deshalb! Er muß los von ihr. Und das bald. Sonst ist's zu spät. Sie muß ihn loslassen – da er nicht von ihr los kann. Damit sie ihn losläßt, mußt du mit ihr reden. Du mußt! Es ist das einzige, das letzte!«
»Das kann ich nicht, will ich nicht!«
»Das wirst du!«
»Nein, nein!«
»Ja, ja! Du wirst deine stolze Seele bezwingen, wirst zu ihr gehen und ihr's sagen. Wirst es von ihr verlangen.«
»Mit welchem Recht?«
»Mit dem Recht deiner besseren, deiner stärkeren Liebe.«
»Er würde mir dieses Recht absprechen.«
»Sprich dir's nur selbst zu.«
»Er würde empört über mich sein.«
»Kümmert dich das, wenn es ihn von ihr losbringt? Bist du eine Seele, die das kümmert?«
»Er würde denken, es sei von mir –«
Aber sie brachte das Wort nicht über die Lippen ... Vital konnte jetzt sehen, wie bleich sie war, wie sie litt. Es war Qual. Das bleiche Mädchen still betrachtend, mußte der Mann, der seiner Liebe wegen auch eine Marter erduldete, denken: ›Da wird dieser Mensch von solchem Herzen geliebt und muß in die andere toll vernarrt sein. Gerade in diese andere! Er könnte der Glücklichsten einer sein und ist einer der Unglücklichsten. Und dann sagen die Leute, es sei keine wunderliche Welt. Schlimmer als das ist's: eine verrückte Welt, in die man hineingeschleudert wird, man mag wollen oder nicht. Im Kloster hätt' ich davon weniger gespürt. Das eben ist's ja! Weil man im Kloster nur lieben darf, was vom Himmel ist, führt man darin solch kommodes Leben ... Immerhin lieber alles Erdenleid tragen, als ohne Leid gemächlich einem anderen Leben zugehen ... Helfen wird sie ihm doch. Diese verrückte Welt wäre sonst eine zu gemeine Welt für einen ehrlichen Christenmenschen, der schließlich auch ein gottloser Heide sein kann.‹
Laut richtete er an das bleiche Mädchen die Frage: »Bin ich vergebens zu dir gekommen?«
Ohne eine Antwort zu geben, bat sie ihn zu gehen. Sie sah dabei so leidensvoll aus, daß er ohne weiteres gehorchte.
Als Vital aus dem Hause trat, erschrak er fast über die Herrlichkeit der Winterwelt seiner Heimat ... Das weiße Alpengebiet lag von Purpurröte bedeckt unter einem veilchenblauen, von gewaltigen Strahlen durchschossenen Himmel. Sie gingen von dem Gipfel aus, dahinter die Sonne versunken war, und schienen die Welt zu erfüllen.
Die Menschenqual auf Erden war unermeßlich wie das Meer; aber die Schönheit der Welt war göttlich, von keinem Jammer zu entstellen. Selig, wer sie schauen konnte.
Es war in diesem Augenblick, daß Vital eine Greisin gewahrte, die sich an einem hohen Stecken den Pfad hinauftastete: eine Blinde, die zu Maira wollte.
Blind zu sein! Auf dieser göttlich schönen Erde zu leben, all ihr Leid erdulden zu müssen und ihre Herrlichkeit nicht schauen zu können ... Wie ein Schmerz durchzuckte Vitals Seele das Mitleid mit dem blinden Weibe, das in seinem armseligen dunklen Gewande einer symbolischen Erscheinung glich: »Ich bin das Elend der Welt!«
Es gab so viele Blinde in dem wunderschönen Alpenlande, und keiner hatte Mitleid mit ihnen: alle mußten die bekannten Pfade am Stecken hintasten. Nicht einmal der geistliche Herr kümmerte sich um sie. Er pries sie sogar! Denn mit blinden Augen konnte der Mensch klarer in sich blicken, seine Sündhaftigkeit erkennen und sich vorbereiten, dermaleinst die Herrlichkeit Gottes zu schauen.
Vital eilte auf die Blinde zu, um sie zu führen, über sein plötzliches Mitgefühl selbst betroffen. Aber die Alte sagte: sie habe ihren Stab und wisse den Weg. Sie sagte es unfreundlich, fast feindselig.
»Willst du hinauf zur Maira?«
Sie wollte zur Maira hinauf.
»So spät noch?«
Was tat ihr das?
»Es wird bald Nacht!«
Für sie war's Nacht auch am hellsten Tage.
»Was willst du im Mesnerhaus?«
»Zuhören. Still dasitzen und zuhören.«
Maira erzählte ihr Geschichten: hübsche, helle. In Mairas Geschichten sah die Blinde die Sonne scheinen, sah sie die schöne, wunderschöne Welt! Maira rollte sie auf vor ihren armen, lichtlosen Augen in ihrer dunklen, nach Schönheit und Sonne verlangenden Seele. Sie tastete sich oft in ihrer tiefen Finsternis den Pfad zum Mesnerhause hinauf.
»Du hast sie wohl gern, die Lehrerin da oben?«
»Was kümmert's dich?«
Die Alte murmelte böse vor sich hin. Aber über dem seiner Sehkraft beraubten welken Gesicht lag die Liebe zu dem jungen, guten Weibe, welches ihr hübsche, helle Geschichten erzählte, wie ein Abglanz von dem Abendschein am Firmament.
Und dieselbe Maira konnte nicht die Kinder lehren, sie gern zu haben ...