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Gian Vital brachte den erschütterten Freunden ein Gastgeschenk mit: seine Büchse, die Unglückswaffe.
»Eigentlich müßte ich sie unten in der Kirche aufhängen lassen, damit sie an einem heiligen Ort als Sühnopfer geweiht werde. Denn viel unschuldiges Blut ist durch sie vergossen worden! Was zuletzt floß, war gewiß nicht das edelste; das Blut eines schuldlosen Tieres ist köstlicher als das Blut eines Menschen meines Schlags ... Also von Rechts wegen gehört mein alter Kamerad in die Kirche. Ich bringe ihn jedoch zu euch herauf: in die allerhöchste, allerheiligste Kirche, darin kein Pfarrer Briccius Ladien das Wort Gottes verkündigt. Bei euch soll die Büchse bleiben. Dort an der Wand, deinem Bilde gegenüber, soll sie hängen zu meinem Gedächtnis. Wenn ihr sie anseht, sollt ihr meiner gedenken als eines Mannes, der nicht betete: ›Herr, führe uns nicht in Versuchung‹, und der daher der Versuchung erlag. Ihr zwei werdet sie bestehen – sollte sie über euch kommen. Und nicht einmal, daß ihr darum zu beten braucht.«
Als das Gewehr des Weidmanns, der seinen letzten Schuß getan hatte, an dem von ihm gewählten Platz hing, gingen die beiden Frauen, suchten Edelweiß, wanden daraus einen Kranz und schlangen das edle, blühende Weiß der Alpen um die Waffe, die ihrem Herrn seine toten Augen und sein inneres Gesicht gegeben hatte. Die alte Büchse sah in dem festlichen Schmuck gar feierlich aus: als hätte eine Braut der Alpen ihre Hochzeitskrone darum geschlungen.
Gian Vital sprach: »Im Rohr steckt noch immer eine Kugel. Ich ließ sie darin stecken für einen, dessen Namen ich nicht kenne. Ich werde ihn kennenlernen. Der Name eines Verführers und Verderbers ist's. Der Schuft ist jedoch nicht wert, von einer ehrlichen Jägerkugel ins Schurkenherz getroffen zu werden. Mit meinen Händen will ich –«
Die Nerina war nicht anwesend, als ihr Mann diese Worte sprach. Für die beiden, die sie hörten, war's entsetzlich, Zeuge zu sein, welchen Ausdruck die augenlosen Züge dabei annahmen: als sähe der Blinde mit seinem neuen, inneren Gesicht, was seine Hände, diese zuckenden, packenden, würgenden Hände, an jenem Schurken vollführen würden, wenn er dessen Namen erfahren und ihn gefunden hatte ... Ihn gefunden! Er, Gian Vital, der hilflose Mann, der er geworden war.
Nachdem der heftige Anfall vorüber, kam etwas wie Frieden über Courtiens Gast. Siam Vital teilte mit dem Wirt dessen Kammer, während die beiden Frauen und der Knabe Servaz, der sich als ein fröhlicher, hilfreicher Jüngling erwies, in zwei seitlich angebauten, für Vorräte und Malsachen bestimmten Verschlagen hausten.
In dem wilden Alpengarten voll seltener Blumen von seltsam glühender Farbe und seltsam starkem Duft, wo vor einem Jahre Sivo Courtien mit der wunderschönen Frau seinen kurzen Liebestraum träumte, verweilte diesen Sommer halbe Tage lang der blinde Jäger. Jeden frühen Morgen geleitete seine Führerin ihn durch das Felsgeröll auf einen Platz, den der leuchtendste Moosteppich deckte, um den die flammendsten Feuerlilien prangten, purpurblumige Brünellen betäubend dufteten. Die liebliche Stätte bot zugleich die erhabenste Umschau; denn zu einer solchen geführt zu werden, verlangte Gian Vital. Halbe Tage lang saß er inmitten der Blumenpracht und Erdenherrlichkeit und starrte regungslos hinüber zu dem Bilde Engadiner Alpenmajestät: Grat an Grat, Gipfel an Gipfel, Gletscher an Gletscher. Regungslos vor sich hinschauend, sang Gian Vital leise das Lied, das er als kleiner Knabe gesungen; das Lied, bei dessen Melodie jedes Engadiners Herz höher pocht, jedes Engadiners Auge heller aufleuchtet: das Hohelied der Liebe des Engadiners zu seinem herrlichen, seinem heiligen Heimatland:
»Ma bella val, mi Engiadina ...«
Gian Vitals tote Augen konnten bei dem Klang der Volkshymne nicht mehr aufstrahlen; und oft, oft mußte er seine Hand auf sein pochendes, zuckendes Herz drücken: drohte sein starkes Herz doch zu springen vor mächtigem Leid und gewaltiger Liebe.
Und die Tiere der Alpenwildnis, die zu jagen Gian Vitals ungebändigte Lust gewesen, gewöhnten sich in dem Schutzgebiet der Gemsfreiheit an die regungslose Gestalt in dem Garten voll leuchtender Blumen. Die scheuen Murmeltiere trieben um den Einsamen ihre lustigen Possen, die sie in der gewaltigen Arena von Gletschern und Gipfeln zu den Clowns der Tierwelt machen; die Alpendrossel flötete dicht neben dem Blinden ihre schmelzendsten Weisen, und die Gemsen konnten für fromme Geißen gehalten werden, die der blinde Hirte auf diese blumige Weide trieb, davon im Sonnenbrände ein heißer Wohlgeruch aufstieg, wie in der Kirche beim Hochamt aus dem Weihrauchbecken.
Der Einsame lauschte auf das Pfeifen der Murmeltiere und den Drosselgesang, und er spürte die Nähe des Gemswildes; und wenn er bei den Freunden war, berichtete er: »Da war heute wieder der alle Bock, dem ich längst auflauere. Prächtig stand der Greis da! Der ehrwürdige Herr kann von Glück sagen, daß ich meine Büchse nicht bei mir hatte; denn für diesen Burschen gelten keine Schonzeit und kein Schutzgebiet. Solch feister Kerl! ... Heut abend gab's wieder ein Glühen! Nicht anders, als sei die Hölle ausgebrochen, um für die Engel ein Feuerwerklein anzustecken, während sie zum Abendbrot ihren himmlischen Kindsbrei verzehren. Mir ward beim Zuschauen angst, all das Eis und all der Schnee könnten schmelzen und auf uns arme Sünder niederströmen. Das gäb' eine Sintflut, bei der unser festes Haus eine schlechte Arche Noah wär‹.«
Auch zu anderen Zeiten bestrebte sich Gian Vital, seine toten Augen zu verleugnen, deren Höhlungen ihm in seinem entstellten Gesicht brannten, als wären sie mit glühenden Kohlen ausgefüllt. Verweilte er nicht draußen auf dem wundersamen Blumeneiland im Eismeer, so saß er im Atelier, dem Riesengemälde gegenüber, und tat, als sähe er jeden frischen Pinselstrich: »Jetzt wird's, Malerlein! Hätt's nicht geglaubt; aber bei meiner armen Seel': jetzt wird's! Und es wird prachtvoll! Bist doch ein Riesenkerl – obgleich du im Vergleich mit mir stets nur ein Knirps warst. Hast du etwa jemals einer Bärin die Jungen davongetragen und dabei mit der Frau Mutter ein Schwätzchen gehalten? ... Schlecht und schändlich war's eigentlich. Denn, wenn ich bedenk' ... Hat die Nerina erst ihr Kindlein, und es käm' einer, der ihr's nehmen wollt' – würgen tät' ich den Kerl, wie ich die Bärin gewürgt ... Was ich sagen wollt': Maloja wird stolz sein auf seinen Sivo Courtien, wenn er sein Bild fertig hat. Und er bekommt sein Riesenbild fertig, das Bürschlein! Wahr und wahrhaftig! Erst jetzt wird Maloja stolz auf ihn sein. Das ganze Engadin oben und unten. An die Margna wollen wir deinen Namen schreiben:
Sivo Courtien!
Und wenn der Bub den Namen lesen wird – denn ein Bub muß es sein und ein ehrlicher Jägersmann muß er werden – spricht sein Vater zu ihm: ›Ja, der! Sivo Courtien! Hut ab vor dem Namen, Büblein! Vor dem bloßen Namen macht der Engadiner seine Reverenz – anders als damals zu Küßnacht vor dem Hut des Tyrannen. Dein Vater, Büblein, kennt den Mann, der so heißt. Er ist des Mannes Freund, hat zugesehen, wie er sein Bild malte. Also auch Hut ab vor deinem Herrn Vater, du Jüngelchen!‹«
Dann zogen die seltsamen Hochzeitsfahrer wiederum talwärts. Es wehte starker Föhn. Courtien warnte die Führerin des Blinden heimlich vor einer gewissen Wegstelle, die wegen ihrer häufigen Lawinenstürze berüchtigt war: »Du bist des Wegs doch nicht sehr kundig. Wenn ihr zu den Adlerwänden gelangt – und ihr müßt dicht darunter hinweg –, so tut ihr gut, das laute Sprechen zu unterlassen. Der Schnee hängt dort über, daß ein Jauchzer die Lawine auf euch herabbringen kann. Dein Mann kennt die Stelle genau; aber da er jetzt ... Übrigens wirst du gleich sehen, wo die Gefahr ist. Hüte dich also. Am besten wär's, ich ginge mit euch.«
Maira bat: »Laß mich sie bis zu der bösen Stelle begleiten.«
Da Courtien gerade prachtvolles Licht und einen guten Arbeitstag hatte, willigte er ein, zurückzubleiben.
Beim Abschiede sagte Vital: »Diesen Winter wirst du wohl oben bleiben und dich mit deinem Bilde einschneien lassen, du wunderlicher Heiliger?«
»Diesen Winter sicher.«
Er sah Maira an, die ihm zulächelte. Das hatte sie noch nie getan. Wie jung sie aussah mit diesem Lächeln auf ihrem ernsten Gesicht; wie ihr Lächeln sie schmückte! Es war ein so anderes Lächeln als auf jenem anderen Frauengesicht, das dem Maler noch immer in allen Träumen leuchtete und ihn lockte. Mairas Lächeln war heilig.
Sie sprach dem Freunde nach: »Diesen Winter bleiben wir oben ...«
»Und laßt euch einschneien, in Schnee begraben.«
»Und vollenden mein Werk ... Ich sage: »wir vollenden! Denn ohne Maira vermag ich's nicht.«
Wie er das sagte! Mit größter Innigkeit, tiefster Ergriffenheit, Maira dabei ansehend: ihr in die Augen – in die Seele schauend, daß sie erglühte, erblaßte: sie half ihm sein Werk vollenden! Ohne sie vermochte er es nicht. Sein Werk würde auch das ihre sein ...
Vital rief triumphierend: »Freilich werdet ihr zwei damit fertig: du und sie – Maira! ... Die Nebel steigen schon jetzt auf. Der einsame Herr dort oben wird seinen Weg sicher verlieren und in den ersten besten Abgrund stürzen. Schon jetzt seh' ich aus der Gewitterwolke den Blitz zucken.«
»Du siehst es?!«
Über Courtiens Gesicht flog ein Freudenschimmer, der auch dieses blasse, vergrämte Antlitz plötzlich wieder jung erscheinen ließ. Er vergaß in diesem Augenblick vollkommen, daß seine aufsteigenden Nebel, seine drohende Wetterwolke von zwei – blinden Augen »gesehen« wurden.
Maira mußte sich abwenden; aber der Scheidende plauderte fröhlich weiter: »Ich würde mich mit euch einschneien lassen. Der Winterschnee würde mich jedoch zu sehr blenden, ihr versteht mich, und dann muß ich bei der Nerina bleiben. Vielleicht kann ich euch noch vor dem ersten tiefen Schneefall Botschaft hinaufschicken, daß am Crap da Chüern ein Junge eintraf. (Natürlich ein Junge!) Hätt' ich für das Büblein nur schon den Namen. Denn Gian Vital ... Er soll's besser haben als Gian Vital; obgleich der es eigentlich ganz gut gehabt ... Mönch wird der Junge auch nicht. Jäger wird er; und was für einer! ... Was ich sagen wollt': euer Bub, der Servaz, ist ein Prachtbub. Ich hab' ihn die Zeit über beobachtet. Auf den könnt ihr euch verlassen. Der gräbt euch aus einem viele Klafter tiefen Schneegrabe aus. Laßt ihn nur für genügend Holz sorgen; an alles andere, was ihr sonst braucht, denk' ich. Schickt daher den Buben gleich das nächste Mal zu mir, damit ich alles mit ihm bereden und selber nach allem sehen kann ... Schade, schade.«
Er verstummte, wurde nachdenklich, wurde traurig. Courtien, um ihn seinem Brüten zu entreißen, erkundigte sich, was ihm leid täte?
»Schade, daß ich euch durch den Buben keinen fetten Bärenschinken heraufschicken kann. Mit solchen Leckerbissen ist's nun bei Gian Vital nichts mehr. Vielleicht senden euch die guten Heiligen, die über euch wachen mögen, einen lebendigen Bären ins Haus. Eine Büchse habt ihr. Denkt daran, daß noch eine Kugel im Lauf steckt: Gian Vitals allerletzte.«
Sie schieden. Maira begleitete sie bis zu der bewußten gefährlichen Stelle, welche die drei unter tiefem Schweigen glücklich passierten. Über ihren Häupten hing der weiße Tod in der Luft. Hätte ihn ein lautes Wort auf die Wanderer herabgerissen, so hätten sie hier ein ewiges Grab gefunden ...
Als Maira im Gletscherhause wieder anlangte, fand sie Courtien noch immer bei emsiger Arbeit. Er rief ihr zu: »Willkommen! Willkommen! Ich glaube, unser armer Freund sah richtig! Meine Nebel beginnen wirklich zu steigen, Sturm und Gewitter wirklich heraufzuziehen. Endlich bin ich auf dem richtigen Weg, das unlösliche Problem zu lösen – Dank dir, du Liebe, Getreue, Starke; Dank deiner heilenden, deiner helfenden Gegenwart.«
Ja! Auf Sivo Courtiens Kolossalgemälde begannen die Dünste zu steigen: empor zu den Gipfeln. Empor zu dem einsamen Alpenwanderer, dessen Schicksal keine Menschenseele jemals erfahren sollte: ob ihn die dichten Dünste dem Abgrund zutrieben oder ein Wunder ihn rettete.
Mairas Augen, die keine Tränen hatten, wurden feucht, als auch sie erkannte, daß Gian Vital richtig gesehen: des Freundes Werk nahte seiner Vollendung! Das Riesenwerk, das seinesgleichen nicht hatte, konnte vollendet werden; aber –
Aber sie mußte immer noch wachen; denn noch immer wartete der Freund in seiner geheimsten, dunkelsten Seele auf die Wiederkehr des Gletscherweibes vom Monte della Disgrazia. Des Berges weiße Herrlichkeit glänzte zu ihm nieder: Ganz von oben herab. Geheilt war er erst dann, geholfen war ihm erst dann, wenn dieser Himmelsschein auch seine Seele erfüllte.