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Dieser Text enthält Briefe und Kommentare aus: »Für Wahrheit und Menschlichkeit«, Kröner-Verlag 1939 und »Der König« von Gustav Mendelssohn Bartholdy Langewiesche-Brandt Leipzig 1913
Berlin, 8. August 1736.
Mein Herr! Obwohl es mir nicht vergönnt ist, Sie persönlich zu kennen, so sind Sie mir dafür durch Ihre Werke bekannt. Das sind geistige Schätze, deren Schönheiten bei jeder neuen Lektüre einem den Eindruck der Neuheit machen. Ich glaube darin den Charakter ihres geistreichen Verfassers zu erkennen, der unserem Jahrhundert und dem menschlichen Geist zur Zierde gereicht ...
Die Freundlichkeit, die Sie gegen alle bezeigen, die sich den Künsten und Wissenschaften widmen, gibt mir die Hoffnung, daß Sie mich nicht aus der Reihe derer ausschließen werden, die Sie Ihrer bildenden Einwirkung wert halten. Ich meine den brieflichen Verkehr mit Ihnen, der jedem Denkenden äußerst wertvoll sein muß. Ohne Ihnen Weihrauch zu spenden – was Sie nicht nötig haben – darf ich sagen, daß ich Schönheiten ohne Zahl in Ihren Werken finde. Und das erweckt in mir den glühenden Wunsch, sie alle zu besitzen. Ich bitte Sie daher, mein Herr, sie mir zuzusenden und rückhaltslos mitzuteilen; wenn sich unter den Manuskripten einige finden, die Sie in wohlbegreiflicher Vorsicht den Augen des Publikums zu entziehen für gut halten, so verspreche ich Ihnen, diese im Schoß des Geheimnisses aufzubewahren und nur ganz in der Stille meinen Beifall zu spenden. Im Besitz Ihrer Werke halte ich mich für reicher, als wenn ich alle vergänglichen und verächtlichen Glücksgüter hätte, die der Zufall gibt und nimmt.
Wenn mein Schicksal es mir nicht vergönnt, Sie persönlich bei mir zu haben, so darf ich wenigstens hoffen, eines Tags den zu sehen, den ich schon so lange aus der Ferne bewundere und Sie mündlich zu versichern, daß ich mit all der Hochschätzung, die denen gebührt, die, erleuchtet von der Fackel der Wahrheit ihr Werk dem Dienst der Allgemeinheit weihen, bin
Ihr wohlgeneigter Freund
Friedrich, Kronprinz von Preußen.
Cirey, 26. August 1736.
Gnädigster Herr! Ich müßte kein Gefühl haben, wenn ich nicht tief beglückt wäre von dem Brief, mit dem Eure Königliche Hoheit mich zu beehren geruhten. Meine Eigenliebe durfte sich höchlich geschmeichelt fühlen; aber die Liebe zur Menschheit, die ich immer im Herzen hege und die meinen Charakter ausmacht, hat mir eine tausendmal reinere Freude bereitet, da ich sah, daß ein Fürst auf der Welt ist, der als Mensch denkt, ein philosophischer Fürst, der die Menschen glücklich machen wird. Glauben Sie mir, es gibt keine wahrhaft guten Könige als diejenigen, die gleich Ihnen damit begonnen haben, sich zu bilden, die Menschen kennen zu lernen, die Wahrheit zu lieben, die Verfolgung und den Aberglauben zu verabscheuen. Ein Fürst, der so denkt, muß das goldene Zeitalter in seinen Staaten heraufführen können. Warum trachten so wenige Könige nach solchen Vorzügen? Sie fühlen es, hoher Herr, fast alle denken sie mehr ans Königtum als ans Menschentum; Sie haben die gerade entgegengesetzte Gesinnung. Wenn nicht dereinst der Wirbel der Geschäfte und die Bosheit der Menschen einen so göttlichen Charakter wandelt, so werden Sie, dessen dürfen Sie sicher sein, von Ihren Völkern verehrt und von der ganzen Welt geliebt werden. Die ihres Namens würdigen Philosophen werden sich in Ihre Staaten drängen, und wie die berühmten Künstler in die Lande wandern, wo ihre Kunst im Flor ist, so werden die denkenden Männer sich um Ihren Thron scharen.
Dreimal, zuletzt 1743, hatte der französische Dichterphilosoph Voltaire den König [Friedrich den Großen] besucht, der ihn gerne ganz an sich gezogen hätte. Aber erst 1749 nach dem Tode seiner Geliebten, der Marquise du Châtelet, trat Voltaire den dringenden Einladungen des Königs näher. Zunächst aber rechnete er dem sparsamen König vor, daß er diese Reise mit weniger als 4.000 Talern nicht unternehmen könnte; da er über soviel im Augenblick nicht verfügte, erbäte er sich den Betrag als Vorschuß. Der König verstand ihn und schickte seiner »Danae«, Danae – die Danaiden müssen als Strafe in der Unterwelt Wasser mit einem Sieb in ein Faß füllen wie er Voltaire in einem Gedicht nannte – »einer sehr alten Danae« spottete dieser selbst – die goldene Bedingung. Die Eitelkeit des Dichters beschleunigte seine Entscheidung: in Versen, die bald zu Voltaires Kenntnis kamen, hatte der König einen von ihm unterstützten, jungen französischen Dichterling, d'Arnaud, Voltaires Schützling, zum Wetteifer mit Voltaire aufgefordert und ihn als aufgehende Sonne begrüßt. »Ich will ihn lehren, sich auf die Leute zu verstehen«, sagte Voltaire. Am 10. Juli 1750 traf der sechsundfünfzigjährige Dichterphilosoph in Potsdam ein, nachdem Ludwig XV. keinen Versuch gemacht hatte, ihn für Frankreich zu erhalten. Der König gewährte ihm 5.000 Taler jährlichen Ehrensold, freie Tafel, Wohnung, Equipage, den Verdienstorden und den Titel eines Kammerherrn. Quelle: Gustav Mendelsohn Bartholdy »Der König – Friedrich der Große in seinen Briefen ...« Wilhelm Langewiesche-Brandt, München und Leipzig 1913
Sommer 1750
... Ich komme in Potsdam an, die großen blauen Augen des Königs, sein holdseliges Lächeln, seine Sirenenstimme, Sirenen – Mischwesen mit wohlklingenden Stimmen in der griech. Sage seine fünf Schlachten, fünf Schlachten – gemeint sind die Schlachten bei Mollwitz und Chotnitz im Ersten und bei Hohenfriedberg, Soor und Kesselsdorf im zweiten Schlesischen Krieg sein ausgesprochenes Gefallen an der Zurückgezogenheit und an der Arbeit, an Versen und an Prosa, endlich Freundlichkeiten um den Kopf schwindeln zu lassen, eine entzückende Unterhaltungsgabe, Freiheit, im Verkehr volles Vergessen der Majestät, die Aufmerksamkeit, die schon von seiten eines Privatmannes bestricken würde, das alles hat mir den Verstand verrückt: ich ergebe mich ihm aus Leidenschaft, aus Verblendung und ohne zu vernünfteln ...
Potsdam, 24. Juli 1750.
Argental – Marquise d'Argens, franz. Aufklärer, ging 1744 nach Berlin, † 1771
Nun bin ich also an der ehemals so wilden Stätte, die heute von den Künsten verschönt, vom Ruhm geadelt ist. Hundertfünfzigtausend sieggekrönte Soldaten, keine Prokuratoren, Oper, Theater, Philosophie, Poesie, ein philosophierender und dichtender Held, Größe und Anmut, Grenadiere und Musen, Trompeten und Geigen, platonische Gastmähler, Geselligkeit und Freiheit. Wer sollte das glauben? Und doch ist das alles ganz wahr; und alles das schätze ich nicht höher als unsere kleinen Soupers. Man sollte Salomon in seiner Herrlichkeit gesehen haben; aber bei Euch sollte man leben, zusammen mit Herrn von Choiseul und dem Herrn Abbé von Chauvelin. Dieser Brief gilt auch ihnen; sie sollen wissen, wie ich Heimweh nach ihnen habe, selbst wenn ich Friedrich den Großen höre. Es beschämt mich ganz, daß ich in den Gemächern des Herrn Marschalls von Sachsen Marschall von Sachsen – Hermann Moritz, Graf von Sachsen, Marschall in Frankreich, wurde 1749 von Friedrich in Potsdam fürstlich empfangen, † 1750 wohne. Man hat den Geschichtsschreiber im Zimmer des Helden unterbringen wollen.
Potsdam, 13. Oktober 1750.
Nun sind wir in der Potsdamer Abgeschiedenheit; der Wirbel der Feste ist vorüber, nun ist es mir wieder behaglicher. Es ist mir nicht unangenehm, daß ich bei einem König bin, der keinen Hof und keinen Staatsrat hat. Allerdings ist Potsdam von Schnurrbärten und Grenadiermützen bewohnt; aber ich sehe sie, Gott sei Dank, nicht. Ich arbeite friedlich in meinen Gemächern beim Wirbel der Trommeln. Die Diners des Königs schenke ich mir; da sind mir zu viel Generäle und zu viel Prinzen. Ich konnte mich nicht daran gewöhnen, immer einem König in Gala gegenüber zu sitzen und in großer Gesellschaft zu sprechen. So soupiere ich mit ihm in kleinerem Kreise. Das Souper ist kürzer, heiterer, gesünder. Nach drei Monaten würde ich sterben an Verdruß und Magenbeschwerden, wenn ich alltäglich mit einem König in der Öffentlichkeit dinieren müßte.
Man hat mich also, mein liebes Kind, Kind – seine Nichte in aller Form dem König von Preußen abgetreten. So ist meine Ehe geschlossen; wird sie glücklich sein? Das weiß ich nicht. Ich habe mich nicht enthalten können, das Jawort zu geben. Ja, diese Ehe! Es mußte wohl dazu kommen nach so langjähriger Umschmeichelung. Aber das Herz hat mir gepocht am Altar. Ich gedenke noch diesen Winter zu Ihnen zu kommen, Ihnen von allem zu berichten und vielleicht Sie zu entführen. Jetzt ist nicht mehr die Rede von meiner italienischen Reise. Ich habe Ihnen, ohne es zu bereuen, den Heiligen Vater und die unterirdische Stadt geopfert; vielleicht hätte ich Ihnen auch Potsdam opfern sollen. Ich hätte mir noch vor sieben oder acht Monaten, als ich mein Haus in Paris mit Ihnen einrichtete, nicht träumen lassen, daß ich mich dreihundert Meilen weit weg im Hause eines andern einrichten würde. Und dieser andere ist – ein Herr. Er hat mir zwar geschworen, ich werde es nie zu bereuen haben; er hat Sie, liebes Kind, in eine Art Vertrag einbegriffen, den er mit mir geschlossen hat und den ich Ihnen zusenden will. Aber werden Sie auch kommen und sich Ihr Leibgedinge holen?
Ich fürchte freilich, Sie werden es machen wie Frau von Rottembourg, die auch immer die Pariser Opern denen von Berlin vorgezogen hat. O Schicksal, wie leitest du doch das Geschehen und wie führst du die armen Sterblichen!
Das ist sehr komisch, daß dieselben Pariser Literaten die noch vor einem Jahr mich »vernichten« jetzt über mein Fortgehen schreien und es Fahnenflucht heißen. Es tut ihnen, scheint es, leid, daß sie ihr Opfer verloren haben. Daß ich Sie verlassen habe, das war nicht recht; mein Herz sagt es mir täglich öfter als Sie denken. Aber daß ich mich von diesen Herren entfernte, daran habe ich sehr recht getan. Ich küsse Sie zärtlich und mit Schmerzen.
Oktober 1750.
... Mein Geschäft ist, nichts zu tun. Ich genieße meiner Muße. Eine Stunde des Tages widme ich dem König, um seine Werke in Prosa und Versen ein wenig abzurunden; ich bin sein Grammatiker, nicht sein Kammerherr. Den Rest des Tages habe ich für mich, und der Abend schließt mit einem angenehmen Souper...
Potsdam, 6. November 1750.
Man weiß also in Paris, liebes Kind, daß wir in Potsdam meinen » Caesar« aufgeführt haben, daß Prinz Heinrich ausgezeichnet spielt, französisch spricht wie ein Franzose und sehr liebenswürdig ist, und daß man sich hier amüsieren kann. Alles das ist richtig. Aber –
Die Soupers des Königs sind köstlich. Vernunft, Geist, Wissenschaft, alles kommt zum Wort; es herrscht vollkommene Freiheit; er ist die Seele des Ganzen. Keine schlechte Laune, kein Wölklein oder wenigstens kein Sturm. Mein Leben ist frei und ausgefüllt. Aber – aber –
Oper, Theater, Reiterquadrillen, Soupers in Sanssouci, Paraden, Konzerte, Studien, Bücher. Aber – aber –
Berlin ist groß, hat ganz andere Straßenzüge als Paris, hat Paläste, Schauspielhäuser, liebenswürdige Königinnen, reizende Prinzessinnen, schöne, wohlgewachsene Hofdamen. Aber – aber –. Mein liebes Kind, es setzt so nachgerade eine heitere Kälte ein. Kälte – die verbotenen Finanzgaunereien Voltaires wurden entdeckt
Wir haben hier einen sehr lustigen Herrn, den Arzt la Mettrie. la Mettrie – Julien Offray de la Mettrie, franz. Arzt und Philosoph, bedeutender Materialist, »Der Mensch als Maschine«, † 1751 Seine Gedanken sind ein Feuerwerk von Schwärmern und Raketen, ein Geprassel, das ein Viertelstündchen Spaß macht, auf die Dauer aber doch ermüdet. Eben hat er in Potsdam ein schlechtes Buch gegen die Tugend Buch gegen die Tugend – »Système d'Épicure« drucken lassen, eine Lobrede auf die Laster, mit einer freundlichen Einladung zu allen Ausschweifungen an den Leser. Er dachte an nichts Böses dabei. Er war wie aus allen Himmeln gefallen, als gesetzte Leute ihm einen Vorhalt über die Scheußlichkeit seiner Moral machten. Gott bewahre mich, daß ich den zum Arzt nehme. Er würde mir in aller Unschuld ätzendes Quecksilbersublimat geben statt Rhabarber und sich dann noch köstlich amüsieren. Dieser eigenartige Mediziner ist der Vorleser des Königs. Das Heitere ist, daß er ihm derzeit aus der Kirchengeschichte vorliest. Er überschlägt Hunderte von Seiten, aber dann kommen Stellen, wo der Monarch und sein Vorleser fast platzen vor Lachen.
Leben Sie wohl, liebes Kind; nun soll ja auch mein »Gerettetes Rom« zur Aufführung kommen. Aber aber – Leben Sie wohl.
Berlin, im Schloß, 26. Dezember 1750.
Ich schreibe neben einem Ofen, mit schwerem Kopf und traurigem Herzen, die Blicke gerichtet auf die Spree, weil die Spree in die Elbe fließt und die Elbe ins Meer und weil in dieses Meer die Seine mündet, und weil unser Pariser Haus ganz nahe an dieser Seine liegt. Und ich sage, mir: Mein liebes Kind, warum bin ich in diesem Palast und nicht an unserem häuslichen Herd? Welche Vorwürfe mache ich mir! Wie ist mein Glück vergiftet! Wie kurz ist das Leben! Wie traurig, daß ich das Glück fern von Ihnen suchte!
Ich bin kaum wiederhergestellt; wie soll ich reisen? Der Wagen Apollos würde im Morast der Schneeschmelze der Brandenburger Straßen stecken bleiben. Warten Sie auf mich, lieben Sie mich, nehmen Sie mich auf, trösten Sie mich und zanken Sie mich nicht aus.
Während Sie die römische Republik aufs Pariser Theater versetzen, will ich ganz friedlich an meinem »Jahrhundert Ludwigs XIV.« arbeiten und in aller Behaglichkeit die Schlachten von Neerwinden Neerwinden – Ort in Brabant, 1693 Sieg der Franzosen über die Holländer und Engländer und Hochstätt Hochstätt – Hochstädt, Stadt bei Dillingen an der Donau, Schlachtort im Spanischen Erbfolgekrieg: 1703 Sieg der Franzosen, 1704 vernichtende Niederlage derselben. Damit hatten die Feldherren Marlborough und Prinz Eugen den Nimbus der französischen Unbesiegbarkeit zerschlagen schlagen. Abwechselung ist mein Wahlspruch. Ich brauche mehrere Sorten von Trost. Nicht die Könige geben diesen Trost, aber die schönen Wissenschaften.
In Berlin, in Potsdam, in Sanssouci, stets wohnte Voltaire ganz nahe den königlichen Gemächern. Abends nahm er an der königlichen Tafel teil, die durch den Geist der Unterhaltung schon damals berühmt war: »an keinem Orte der Welt sprach man so frei über alle Arten des menschlichen Aberglaubens, nirgends wurden sie mit so viel Spott und Verurteilung behandelt als bei den Soupers des Königs von Preußen, Gott wurde respektiert, alle diejenigen, die in seinem Namen die Menschen betrogen hatten, nicht geschont.«
Ein Besuch der Markgräfin von Bayreuth entfaltete grade in Voltaires erster Zeit das höfische Leben zu voller Pracht. Ein Fest folgte dem andern: »Man sollte glauben, daß man hier nur im Vergnügen lebte.« Viel bewundert, trug Voltaire selber zur Verfeinerung der Festlichkeiten bei. Mit Prinzen und Prinzessinnen, die das Französische ohne den geringsten Akzent sprachen, veranstaltete er Theateraufführungen, auch eigener Stücke, in denen er selber als Schauspieler zu glänzen liebte.
Aber bevor das Jahr zu Ende gegangen war, befand Voltaire sich in einer peinlichen und unwürdigen Lage. Nicht nur, daß ihn, wie er schreibt, in dem kätzchenartigen Witzspiele der königlichen Gesellschaftsabende immer wieder die Wolfstatze schreckte. Nicht nur Eindrücke und Stimmungen, aus denen heraus er im November seiner Nichte nach Paris schrieb: »Man weiß also in Paris ... » (Brief vom 6. November 1750, s. o.)
Der Dichter war in schmutzige Wuchergeschäfte geraten, aus denen sich ein peinlicher Prozeß entwickelte. Nach dem zehnten Artikel des Dresdner Friedens mußten sächsische Steuerkassenscheine, deren Wert beträchtlich gesunken war, in Sachsen aus den Händen preußischer Untertanen zum vollen Wert angenommen werden; die Spekulation mit diesen Scheinen aber hatte der König ausdrücklich verboten. Gleichwohl beauftragte Voltaire den Berliner Schutzjuden Hirschel für ihn in Dresden sächsische Steuerscheine aufzukaufen. Er händigte ihm zu diesem Zweck einen Wechsel über 40.000 Franken ein. Der König erfuhr davon und veranlaßte Voltaire, der den Sachverhalt ganz anders darzustellen versuchte, den Auftrag zurückzunehmen. Der Jude gab den Wechsel nicht zurück, da entwickelte sich ein Rechtsstreit, der den Berlinern den ergiebigsten Gesprächsstoff bot und den König aufs äußerste verdroß. Lessing, der als zweiundzwanzigjähriger Student für Voltaire dessen Eingaben an den Gerichtshof ins Deutsche übersetzte, urteilte über den schmutzigen Handel:
Und kurz und gut den Grund zu fassen,
warum die List
dem Juden nicht gelungen ist,
so fällt die Antwort ungefähr:
Herr V. war ein größrer Schelm als er.
Quelle: s. o.
Potsdam, 24. Februar 1751.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, Sie bei mir aufnehmen zu können. Ich schätze Ihren Geist, Ihre Gaben und Ihre Kenntnisse und mußte annehmen, daß ein Mann von Ihrem Alter genug literarische Streitigkeiten gehabt haben würde und zu mir komme, um sich in einen ruhigen Hafen zu flüchten.
Aber zuerst verlangten Sie in recht sonderbarer Weise von mir, ich solle Fréron Fréron – Elie Catherine Fréron, franz. Publizist, † 1776 nicht damit beauftragen, mir Neuigkeiten zu schreiben. Ich war schwach oder gefällig genug, Ihre Bitte zu gewähren, obschon es Ihnen nicht zukam, Bestimmungen darüber zu treffen, wen ich in meinen Dienst nehmen sollte ...
Sie haben den russischen Gesandten besucht und sich mit ihm über Fragen unterhalten, die Sie nichts angehen, und zwar in einer Weise, die den Glauben erweckte, als hätte ich Ihnen Aufträge erteilt ...
außerdem haben Sie die niederträchtigste Geschichte von der Welt mit dem Juden gehabt. In der ganzen Stadt haben Sie den größten Lärm darüber verursacht.
Die Sache mit den Steuerscheinen ist so bekannt in Sachsen, daß ich die bittersten Beschwerden darüber entgegennehmen mußte.
Bis zu Ihrer Ankunft habe ich in meinem Hause Frieden gehabt und muß Ihnen mitteilen, daß Sie sehr an den Unrechten gekommen sind, wenn Sie die Leidenschaft haben, Ränke und Intrigen zu spinnen. Friedliebende und ruhige Menschen sind mir angenehm, das heißt Leute, die in ihrem Benehmen ohne die heftigen Leidenschaften der Tragödien auskommen. Können Sie sich dazu entschließen, als Philosoph zu leben, so werde ich mich lebhaft freuen, Sie zu sehen, überlassen Sie sich aber wiederum allen Ihren ungezügelten Leidenschaften, und wollen Sie von Neuem mit der ganzen Welt Streit anfangen, so wird es mir nicht angenehm sein, Sie hierher kommen zu sehen: Sie können dann ebensogut in Berlin bleiben.
Potsdam, 28. Februar 1751.
Wenn Sie herkommen wollen, so können Sie es tun. Ich höre hier von keinem Prozeß sprechen, auch nicht von dem Ihrigen. Da Sie ihn gewonnen haben, so wünsche ich Ihnen Glück dazu und freue mich, daß diese häßliche Sache zu Ende ist.
Ich hoffe, Sie werden keine weiteren Streitigkeiten mit dem Alten oder dem Neuen Testament haben. Derartige Dinge hinterlassen ihre Flecken; selbst mit den Gaben des geistreichsten Mannes von Frankreich würden Sie einen Makel nicht zudecken können, den ein derartiges Benehmen auf die Dauer Ihrem Rufe aufdrücken müßte ... Brief Friedrichs des Großen an Voltaire, Quelle: s. o.
Potsdam, 29. Oktober 1751.
Was soll ich Ihnen sagen? Man muß sich trösten, wenn es wahr ist, daß die Großen die Kleinen lieben, die sie zum Besten haben. Aber wenn sie sie zum Besten haben und sie nicht lieben, was dann? Nun, dann muß man sie, seinerseits zum Besten haben, ganz sachte und ihnen durchgehen, auch ganz sachte. Wir leben hier miteinander wie Brüder. Die Brüder kommen in mein Zimmer, das ich nicht verlasse; und dann gehen wir zum König und soupieren bei ihm, manchmal recht vergnügt. Der Mann, der vom Kirchturm herunterfiel und der sich in der Luft ganz mollig fühlte und sagte: »Schön, vorausgesetzt, daß es so weitergeht«, mit dem Mann habe ich einige Ähnlichkeit.
Potsdam, 23. September 1752.
Es scheint Ihnen seltsam, daß ich mich rühme, in der Zurückgezogenheit zu leben, da ich doch am Hof eines großen Königs bin. Aber, gnädige Frau, Sie dürfen sich nicht vorstellen, ich habe morgens mit weiß gepuderter Perücke bei einem Lever Lever – morgendlicher Empfang eines Fürsten zu erscheinen, ich habe in eine feierliche Messe zu gehen, ich habe der Hoftafel beizuwohnen, um nach Tisch höfische Gedichte abzufassen. So glänzend ist mein Leben nicht. Ich habe niemand den Hof zu machen, nicht einmal dem Hausherrn. Ich habe eine behagliche Wohnung in einem schönen Palast. Bei mir sind zwei oder drei Gottlose, mit denen ich gewöhnlich diniere, und zwar frugaler als ein frommer Mann. Wenn ich wohlauf bin, so soupiere ich mit dem König. Dabei unterhält man sich nicht über Stänkereien im besonderen und über Nichtigkeiten im allgemeinen, sondern über den guten Geschmack, über die Kunst, über die rechte Philosophie, über den Weg zum Glück, über die Methoden zur Unterscheidung von Wahr und Falsch, über das freie Denken, über die Erkenntnisse, die man bei Locke lernt und von denen die Pariser Sorbonne nichts weiß, und darüber, wie man es zustande bringt, einem Staat den Frieden durch Beichtbillette zu rauben. Kurz, ich bin nun zwei Jahre an einem angeblichen Hof; in Wahrheit ist es eine stille Philosophengemeinde. Kein Tag ist vorübergegangen, an dem es nicht etwas für mich zu lernen gab.
Der königliche Akademiedirektor Maupertuis, Maupertuis – Pierre Louis Moreau de Maupertuis, französischer Mathematiker, Astronom und Philosoph, entdeckte das Prinzip der kleinsten Wirkung, Präsident der Berliner Akademie, verließ infolge des hier angedeuteten Streits 1753 Berlin, † 1759 einst Voltaires Freund und zeitweiliger Hausgenosse und von ihm an den König empfohlen, glaubt ein physikalisches Gesetz entdeckt zu haben, wonach die Natur sich für jede Bewegung mit einem möglichst geringen Kraftaufwand begnüge. Dagegen behauptet Samuel König im Haag, daß schon Leibniz (1646 – 1716) dieses Gesetz gefunden habe, ohne indessen wie Maupertuis übereilte Folgerungen daraus zu ziehen. Er stützt sich auf einen ihm vorliegenden Brief Leibnizens. Die Akademie unter Maupertuis erklärt diesen Brief, nachdem sie zweimal dessen Vorlage verlangt hatte, für gefälscht. König, auswärtiges Mitglied der Akademie, tritt aus dieser aus und veröffentlicht einen »Appell an das Publikum«. Voltaire läßt anonym einen »Brief eines Berliner Akademikers an einen Pariser« erscheinen, worin er Maupertuis des geistigen Diebstahls bezichtigt und die Akademie lächerlich macht. Er schließt damit, daß mehrere Mitglieder aus der von Herrn Maupertuis tyrannisierten Akademie austreten würden, wenn sie nicht die Ungnade des Königs fürchteten. Der König greift durch ein anonymes Flugblatt in den Streit ein und setzt sich damit nach seinem eigenen Urteil denselben Unannehmlichkeiten aus, wie der Vorübergehende, der zwei Raufbolde zu trennen versucht. Nun läßt Voltaire unter dem Titel »Diatribe du Docteur Akakia, medecin du papec Diatribe ... « – »Diatribe [Streitschrift] des Dr. Akakia, Leibarzt des Papstes« in Berlin anonym eine Schmähschrift gegen Maupertuis erscheinen, um diesen der völligen Lächerlichkeit preiszugeben. Zunächst leugnete er die Verfasserschaft, wird aber vom König überführt, muß Besserung geloben, die ganze Auflage der Schmähschrift wird vernichtet. Heimtückisch aber und in krankhaft gesteigertem Haß gegen Maupertuis läßt Voltaire das Pamphlet in Dresden neu erscheinen. Auf Befehl des Königs wird diese neue Ausgabe in Berlin vom Henker öffentlich verbrannt. Am Neujahrstage schickt Voltaire den Kammerherrnschlüssel und den Orden zurück mit den Versen:
Beglückt, als Du sie mir gespendet,
geb ich sie nun mit Schmerz zurück,
so wie ein Liebender im düstren Augenblick
der Liebsten Bild ihr wiedersendet.
Sein Entschluß, nach Frankreich zurückzukehren, steht fest, seine Gelder hatte er schon dorthin in Sicherheit gebracht. Nach einer scheinbaren Aussöhnung, die ihm die zurückgegebenen königlichen Gnadenzeichen wiederbrachte, nimmt er Urlaub zu einer Badekur in Plombières. Aber kaum auf der Reise, schon in Leipzig verlangt Voltaire in einem von Bosheit strotzenden Brief, aus der Liste der Akademiemitglieder gestrichen zu werden. Da beansprucht der König, überzeugt, daß Voltaire sein Versprechen, im Herbst zurückzukehren, nicht halten würde, die endgültige Abgabe des Kammerherrnschlüssels, des Ordens und eines unter dem Titel »Oeuvres du philosophe de Sanssouci« in Sanssouci in ganz wenigen Exemplaren für die vertrautesten Freunde gedruckten Buches, Gedichte des Königs enthaltend. Voltaire soll das Verlangte auf der Durchreise durch Frankfurt am Main dem dortigen Residenten des Königs, von Freytag, aushändigen. Die »Oeuvres« sind nicht zur Stelle, und bis zu ihrer Herbeischaffung unterzieht sich Voltaire einem mehrwöchigen Hausarrest in seinem Quartier. Das ungeschickte Benehmen Freytags bringt ihn schließlich dahin, einen Fluchtversuch zu machen, worauf er in strenge Haft genommen wird. Der König, unzufrieden mit der »brutalen Exaktheit« seines Residenten, befielt sofortige Freilassung, die sich aber sehr verzögert, da der König sich gerade auf einer Reise in Königsberg befindet. Aus Rache läßt Voltaire im Mai des folgenden Jahres in Paris eine boshafte und gemeine Schilderung des preußischen Hofes und des Privatlebens des Königs erscheinen. Quelle: s. o.
Potsdam, 18. Oktober 1752.
Ach, mein lieber Maupertuis, wohin ist es mit den Männern der Wissenschaft gekommen, wenn sie nicht ruhig in die Grube fahren können, ohne, so krank sie auch sind, die Stimmen des Hasses und Neides über sich ergehen lassen zu müssen? Ich war sehr erzürnt über die Menge von Schriften, die gegen Sie erschienen sind; ich weiß nicht, wer ihre Verfasser sind, aber ich klage sie deswegen nicht weniger der Feigheit und der infamsten Bosheit an. Es ist schimpflich für die Wissenschaften, daß die Menschen, die sich ihnen widmen und den hochtrabenden Titel von Philosophen in Anspruch nehmen, alle Leidenschaften in ihrer Seele herrschen lassen und, närrisch vor Eigenliebe und empörender Eitelkeit, mehr damit beschäftigt sind, den guten Namen großer Männer zu vernichten, als damit, ihren eignen dauernd zu begründen. Ich hatte immer geglaubt, daß das Studium der Weisheit weise machen müsse; ich gebe zu, daß ich mich getäuscht habe: In Wirklichkeit bemerkt man in keinem Beruf oder Stand so viele jämmerliche Zänkereien, so viele verleumderische Beschuldigungen und so viel verschwenderisch beredte Beleidigungen wie unter den Männern der Wissenschaft. Die meisten Gelehrten gleichen den Schauspielern, die mit schönen Empfindungen prunken, wenn sie auf dem Theater Heroen und Heroinen darstellen, zu Hause aber niedrige Aufhetzereien machen und sich untereinander beschimpfen. Wenn ich Kinder hätte, würde ich mehr darauf bedacht sein, ihnen gute Sitten beizubringen als ihren Geist auszubilden. Es scheint, daß die Fähigkeit zu kombinieren, zu denken und zu forschen den Menschen nur dazu verliehen ist, um einander zu schaden ...
Potsdam, 29. November 1752.
Nach vielen Nachforschungen und einem sehr langweiligen Eingehen ins Einzelne habe ich mich des Akakia bemächtigt und ihn verbrennen lassen; den Verfasser habe ich aufgefordert, entweder sofort meine Haus zu verlassen oder auf das infame Metier eines Pasquillenfabrikanten zu verzichten, so daß Sie also in jeder Hinsicht beruhigt sein können. Es ist schade, daß dieser Mann bei so großen Talenten ein so schwarzes und nichtswürdiges Herz hat. Das rächt die Menschheit, die sich sonst gegen die Überlegenheit eines Einzelnen über so viele andre auflehnen würde, und das beweist sehr gut, daß man keinen Augenblick schwanken darf bei der Wahl zwischen Geist und Charakter. Ich wollte Sie besuchen, als ich in Berlin war, aber ich mußte auf einige Persönlichkeiten so viel Rücksicht nehmen, daß ich gezwungen war, unermüdet bei der Arbeit zu bleiben. Adieu. Ich wünsche von ganzem Herzen gute Nachrichten über Ihr Ergehen zu erhalten.
Berlin, 18. Dezember 1752.
Ich schicke Ihnen, liebes Kind, die zwei Verträge mit dem Herzog von Württemberg; Herzog von Würtemberg – ..., ein Schuldner Voltaires das bedeutet für Sie ein kleines Vermögen, das Ihr Auskommen sichert. Mein Testament lege ich bei. Nicht als ob ich an Ihre alte Prophezeiung glaubte, der Ärger mit dem König von Preußen werde mich noch das Leben kosten. Eines so dummen Todes zu sterben, dazu fühle ich nicht die geringste Lust. Aber die Natur hat mir viel übler mitgespielt als er; und man muß immer seine Koffer gepackt und seinen Fuß im Steigbügel haben zur Reise in jene andere Welt, in der – die Dinge mögen sein wie sie wollen – die Könige keinen großen Einfluß haben werden.
Da ich in dieser Welt keine hundertfünfzigtausend Schnurrbärte zu meiner Verfügung habe, so bin ich gar nicht gewillt, Krieg zu führen. Ich will nur anständig desertieren, meiner Gesundheit leben, Sie wiedersehen und diesen Traum der drei Jahre vergessen.
Ich sehe jetzt, daß man »die Orange ausgepreßt« hat. Nun gilt's, die Schalen zu retten. Nun will ich, mir zu Nutz und Frommen, ein kleines Wörterbuch für Könige anlegen. »Mein Freund« bedeutet »mein Sklave«. »Mein lieber Freund« heißt »Sie sind mir mehr als gleichgültig«. Unter der Phrase: »Ich werde Sie glücklich machen« muß man verstehen: »Ich werde Sie bei mir dulden, so lange ich Sie brauche«. »Soupieren Sie heute abend mit mir!« will besagen: »Ich will Sie heute abend verhöhnen«.
So könnte man noch lange fortfahren; es reicht zu einem ganzen Artikel in der Enzyklopädie. Im Ernst, das preßt einem das Herz zusammen. Was ich alles erlebt habe, ist das möglich? Eine Freude daran haben, diejenigen gegeneinander aufzustiften, mit denen man zusammen lebt! Einem Mann alles Liebenswürdige sagen und dann Broschüren gegen ihn schreiben, und was für Broschüren! Einen Mann aus seinem Heimatland herausreißen durch die heiligsten Versprechungen und ihn dann mit der schwärzesten Bosheit mißhandeln! Ist das der Mann, der mir so viele philosophische Gedanken schrieb und den ich für einen Philosophen hielt? Und ich habe ihn den Salomo des Nordens genannt!
Sie erinnern sich an seinen schönen Brief, bei dem es Ihnen freilich nie ganz wohl war. »Sie sind Philosoph,« sagte er, »ich auch.« Meiner Treu, Majestät, Sie sind's nicht, und ich auch nicht.
Liebes Kind, ich werde mich erst wieder für einen solchen halten dürfen, wenn ich bei meinen Penaten Penaten – die römischen Hausgötter, die das Heim beschützen und bei Ihnen bin. Das Heikle an der Sache ist, wie man hier loskommt. Ich kann nur aus Gesundheitsrücksichten um Urlaub einkommen. Ich kann nicht sagen: Ich will im Dezember ins Bad Plombières gehen. Hier ist ein »Diener am Wort«, namens, gebürtiger Franzose wie ich; er kam um Urlaub nach Paris ein – »in Geschäftsangelegenheiten«. Der König ließ ihm antworten, er kenne seine Geschäftsangelegenheiten besser als er, und er habe es gar nicht nötig, nach Paris zu gehen.
Liebes Kind, wenn ich so im einzelnen durchdenke, was hier vorgeht, so komme ich immer zu dem Schluß, daß das nicht wahr, daß das nicht möglich ist, daß das eine Täuschung sein muß; daß das in Syrakus passiert sein muß vor so ungefähr dreitausend Jahren. Aber wahr ist, daß ich Sie von ganzem Herzen liebe und daß Sie mein Trost sind.
Januar 1753.
Der König hat sein Konsistorium gehalten. Darin ist debattiert worden, ob Ihre Sünde todeswürdig oder verzeihlich sei.
Offenherzig gestanden haben sämtliche Doktoren dafür gestimmt, daß diese außerordentlich todeswürdig und als solche schon durch wiederholten Rückfall wiederholter Rückfall – Voltaire hatte das Pamphlet erneut in Dresden drucken lassen gekennzeichnet sei.
Trotzdem glaubt seine Majestät im Vollbesitz der ihm verliehenen Gnade Beelzebubs Sie, wenn auch nicht vollständig, so doch wenigstens zum Teil absolvieren zu können. Allerdings sollte dies eigentlich nur auf irgendeinen Ihnen auferlegten Akt der Reue und Buße hin geschehen, da jedoch in Satans Reich viel auf das Genie gegeben wird, so glaube ich, daß man Ihnen zugunsten Ihrer Geistesgaben die Fehler verzeihen kann, die Ihrem Herzen in irgendeiner Weise zur Unehre gereichen.
Das sind die Worte des Oberpriesters, die ich sorgfältig aufgezeichnet habe, und die eigentlich eine Prophezeiung enthalten.
16. März 1753
Es war nicht nötig, daß Sie eine Badereise nach Plombieres, von der Sie behaupten, Sie hätten sie nötig, zum Vorwand nahmen, um Ihren Abschied zu verlangen. Sie können aus meinem Dienst ausscheiden, wann es Ihnen gut dünkt; ehe Sie jedoch abreisen, wollen Sie mir Ihre Anstellungsurkunde, den Kammerherrenschlüssel, den Orden und den Ihnen anvertrauten Band Gedichte zurücksenden lassen.
Ich wünschte, meine Werke allein wären Ihren und Königs Pfeilen ausgesetzt gewesen. Ich opfere sie mit Vergnügen allen, die ihren eignen Ruf dadurch zu erhöhen glauben, daß sie den andrer Leute erniedrigen. Ich bin weder so töricht noch so eitel wie gewisse Schriftsteller, und literarische Ränke scheinen mir eine Schmach für die Literatur zu sein. Darum achte ich Ehrenmänner, die sich damit beschäftigen, nicht weniger hoch. Nur die Cliquenhäupter sind in meinen Augen verächtlich.
Damit bitte ich Gott, daß er Sie in seinen heiligen und würdigen Schutz nehme.
Potsdam, 11. April 1753.
Mylord, Mylord – George Keith, schottischer Militär, seit 1751 preußischer Gesandter in Paris, † 1778 seit einiger Zeit kamen allerhand Szenen zwischen Voltaire und Maupertuis vor. Da ich wünsche, daß man bei Ihnen die Wahrheit darüber erfährt, so will ich Ihnen einige Einzelheiten mitteilen, damit Sie sie gelegentlich in Paris verbreiten können.
Voltaire hatte Lust bekommen, Präsident unserer Akademie zu werden. Das beste Mittel, um dies zu erreichen, schien ihm, Maupertuis lächerlich zu machen. Zu diesem Zweck nahm er in einem literarischen Streit, den König König – Johann Samuel König, Mathematiker, † 1757. Der genannte Streit ging um das von Maupertuis entdeckte Prinzip der kleinsten Wirkung mit Maupertuis hatte, Königs Partei und griff Maupertuis heftig an. Um die Möglichkeit zu haben, seine Streitschriften hier drucken zu lassen, erbat er sich von mir die Erlaubnis, seine Verteidigung Lord Bolingbrokes Bolingbroke – englischer Politiker, † 1751 zu veröffentlichen. Diese Erlaubnis benutzte er dazu, den Verleger zu betrügen und durch ihn seinen »Akakia« zu drucken, die schändlichste Satire gegen Maupertuis.
Ich erfuhr die Sache und ließ ihn kommen. Er mußte seine Gaunerei eingestehen. Ich drohte ihn hinauswerfen zu lassen, wenn er nicht erstens die gesamte Auflage des Akakia herausgäbe und zweitens ein Schriftstück unterzeichne, in dem er versprach, künftighin weder Fürsten noch Privatleute anzugreifen, sondern in Ruhe und Frieden zu leben. Das mußte er sich denn gefallen lassen.
Kaum komme ich in diesem Winter in Berlin an, so erfahre ich, daß Akakia verkauft wird. Akakia verkauft wird – Voltaire hatte die Schrift nochmals in Dresden drucken lassen Darauf ließ ich das Buch durch Henkerhand verbrennen und Voltaire seinen Kammerherrnschlüssel und seinen Orden abfordern. Durch seine dringenden Bitten ließ ich mich erweichen und verlangte nur von ihm, daß er in der Zeitung alle seine nichtswürdigen Schmähschriften widerrufen sollte, was er denn auch tun mußte.
Darauf kam Voltaire wieder hierher und erbat sich die Erlaubnis, nach Plombieres zu gehen. Ich gewährte sie ihm. Aber schon im Begriffe abzureisen, ließ er wieder Schmähschriften gegen mich los.
Jetzt ist er in Leipzig, wo er ebenfalls Satiren drucken läßt. Ich habe vollständig mit ihm gebrochen. Er wird nicht wieder herkommen.
Da er ein boshafter Narr und imstande ist, nach Frankreich zurückgekehrt, allerhand Verleumdungen und Schändlichkeiten über Maupertuis und über mein Land zu verbreiten, so bitte ich Sie, ihm so viel als möglich entgegenzuarbeiten.
Besonders wollen Sie seiner Nichte Frau Denis die von mir unterzeichnete Berufungsurkunde ihres Oheims abfordern. Sie muß sie herausgeben. Sie können überall sagen, daß ich mich gezwungen gesehen habe, den Menschen wegzuschicken, da er sich durch seine Gaunereien, Schurkenstreiche und seine Bosheit bei aller Welt verhaßt machte.
Kommt er nach Frankreich, so müssen Sie ihm ein Buch abfordern, das ich ihm gegeben habe, sowie alle Briefe. Ferner wollen Sie sich an die Minister wenden, um zu verhindern, daß er weitere Unverschämtheiten drucken läßt.
Es tut mir leid, Mylord, daß ich Ihnen so lächerliche Aufträge geben muß, aber ich bin schwer genug dafür bestraft, daß ich gütig gegen einen Narren gewesen bin, von dem nun herauskommt, daß er der boshafteste und undankbarste Mensch auf Erden ist. Die Mühe, die Sie sich in dieser Angelegenheit geben, wird die Freundschaft und Achtung, die ich für Sie hege, noch vermehren. Leben Sie wohl.
Potsdam, 11. April 1753.
Seine Königliche Majestät, unser allergnädigster Herr, machen dero Residenten und Kriegsrat von Freytag hierdurch in Gnaden bekannt, wie daß der von Voltaire mit ehestem Frankfurt am Main passieren wird, als ist Seiner Königlichen Majestät Befehl, daß er sich mit Zuziehung des dortigen Hofrat Schmidt zu ihm verfügen, dem Voltaire im Namen Seiner Königlichen Majestät den Kammerherrnschlüssel wie auch das Kreuz und Band pour le mérite abfordern, und da auch der von Voltaire alle seine von hier abgehende Pakete und Emballagen dorthin adressiert, worunter von Seiner Königlichen Majestät höchst eigenen Händen viele Briefe und Skripturen sich befinden werden, als sollen gedachte Pakete und Emballagen, auch seine bei sich habenden Schatullen in Ihrer Gegenwart geöffnet werden, und alles Beschriebene abgenommen werden, ingleichen ein Buch, welches Einlagen besaget ...
Allenfalls er sich mit Gutem Obiges nicht wollen abnehmen lassen, soll er mit Arrest bedroht werden, und so dieses nichts helfen möchte, muß er wirklich arretiert werden, und ohne Komplimente alles genommen, Ihn aber alsdann reisen lassen.
Potsdam, 13. Juli 1753.
Endlich, lieber Lord, ist, wie ich glaube, die Geschichte mit dem Dichter und seiner Nichte, die, wie Sie sagen, wahrscheinlich ein ebenso liebenswürdiges A... ist als ihr boshafter Oheim, glücklich zu Ende. Die beiden haben meinem Residenten Freytag in Frankfurt am Main die schändlichsten Streiche die schändlichsten Streiche – Voltaire wollte fliehen und wurde daraufhin hinter Gitter gesetzt gespielt, sodaß er dem Himmel dankt, sie los zu sein.
Der Dichter verlangte von der Königin von Ungarn, Königin von Ungarn – die sogenannte »Kaiserin« Maria Theresia (sie war die Frau des Kaisers) ihn in ihren Dienst zu nehmen. Sie ließ ihm aber in geistvoller Weise antworten, Voltaire habe seine Stelle nur auf dem Parnaß, Parnaß – das Symbol der Dichtkunst in Wien sei aber kein Parnaß: man könne ihn also dort nicht in würdiger Weise aufnehmen.
Darauf wandte er sich an meinen Oheim, den König von England, König von England – Georg II., König von Großbritannien und Irland, Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, war mit Friedrich im Siebenjährigen Krieg verbündet, † 1760 und bat um eine jährliche Pension von 800 Pfund Sterling, was ungefähr ebenso ist, als wenn jemand einem Romanhelden seine Geliebte abverlangt. Der König von England schnitt bei dieser Bitte ein fürchterliches Gesicht und schwur, niemals mehr eine Zeile von einem Dichter zu lesen, der England ruinieren wolle.
Endlich soll Voltaire nach Frankreich geschrieben haben, um die Erlaubnis zur Rückkehr zu erhalten, aber der Kriegsminister von Argenson erwiderte ihm, er würde besser tun, den Fuß nicht über die Grenze zu setzen. Was diesen letzten Umstand anbelangt, so werden Sie darüber besser unterrichtet sein als wir hier, und ich teile ihn Ihnen nur als Gerücht mit ...
Potsdam, 3. August 1753.
Mein lieber Lord, die Geschichte Voltaires und der Denis muß Ihnen beweisen, daß man niemand ungehört verurteilen darf. Beide haben in Frankreich solche Streiche gespielt, daß sie sich die schlechte Behandlung, die ihnen Freytag hat angedeihen lassen, lediglich selbst zuzuschreiben haben. Voltaire wollte den Sekretär des Residenten mit einer Pistole totschießen, und die Denis ließ es sich einfallen, die Kaiserliche Autorität gegen den Arrest anzurufen, den ich über Voltaire verhängt hatte. Alle diese Einzelheiten habe ich erst nach meinem letzten an Sie gerichteten Brief erfahren. Freilich würde Freytag nicht so streng und hart aufgetreten sein, wenn er sich etwas weniger an die Rechtsnormen gehalten und bedacht hätte, daß er mit einem Narren und einer Närrin zu tun hatte ...
Ich bin herzlich froh, daß ich die ganze Sache los bin: das müßte ein merkwürdig geschickter Mensch sein, der mich dazu brächte, mich noch einmal darauf einzulassen ...
Wie die Zeitgenossen den Vorfall in Frankfurt sahen, schildert Goethe in »Dichtung und Wahrheit« (1. Teil 3. Buch):
» ... Mein Vater zweifelte auch an dem Behagen des Präsidenten [gemeint ist Johann Michael von Loen], und versicherte, der gute Oheim hätte besser getan, sich mit dem König nicht einzulassen, weil es überhaupt gefährlich sei, sich demselben zu nähern, so ein außerordentlicher Herr er auch übrigens sein möge. Denn man habe ja gesehen, wie schmählich der berühmte Voltaire, auf Requisition des preußischen Residenten Freitag, in Frankfurt sei verhaftet worden, da er doch vorher so hoch in Gunsten gestanden und als des Königs Lehrmeister in der französischen Poesie anzusehen gewesen. Es mangelte bei solchen Gelegenheiten nicht an Betrachtungen und Beispielen, um vor Höfen und Herrendienst zu warnen, wovon sich überhaupt ein geborener Frankfurter kaum einen Begriff machen konnte.« (Goethe, Dichtung und Wahrheit.)
Voltaire selbst stellte die ganze Affäre folgendermaßen dar:
... Als ich aus meinem Alcina-Schloß Alcina – eine auf Ariost zurückgehende Zauberin: »Die Zauberin Alcina lockt Ritter auf ihre Insel, um sie in wilde Tiere, Steine und Wellen zu verwandeln... auszog, verbrachte ich zunächst einen Monat bei der Herzogin von Sachsen-Gotha, der besten, mildesten, klügsten und ausgeglichensten Fürstin der Welt, die Gott sei Dank gar keine Verse verfaßte. Von da begab ich mich für einige Tage auf den Landsitz des Landgrafen von Hessen, der der Dichtkunst noch weit ferner stand als die Fürstin von Gotha. Ich atmete auf und setzte langsam meinen Weg über Frankfurt fort. Dort war es, wo mich mein sehr seltsames Geschick erwartete.
In Frankfurt wurde ich krank. Eine meiner Nichten, die Witwe eines Hauptmanns im Regiment Champagne, eine höchst talentvolle, sehr liebenswürdige Frau, die im übrigen in Paris als salonfähig galt, brachte es über sich, Paris zu verlassen, um mich am Main aufzusuchen; aber sie fand mich als Kriegsgefangenen wieder. Dieses schöne Abenteuer trug sich folgendermaßen zu:
In Frankfurt lebte ein gewisser Freytag, der aus Dresden ausgewiesen war, nachdem man ihn dort an den Pranger gestellt und zum Karrenschieben verurteilt hatte, und der inzwischen Bevollmächtigter des Königs von Preußen in Frankfurt geworden war, der sich gern solcher Gesandten zu bedienen pflegte, weil sie kein anderes Gehalt empfingen als das, was sie den Durchreisenden abzugaunern vermochten.
Dieser Geschäftsträger und ein Kaufmann namens Schmid, der vorher wegen Falschmünzerei zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, gaben mir im Namen Seiner Majestät des Königs von Preußen ausdrücklich zu verstehen, daß ich Frankfurt keinesfalls verlassen dürfe, ehe ich nicht die kostbaren Gepäckstücke zurückgegeben hätte, die ich Seiner Majestät entführt haben sollte.
»Aber, meine Herren, ich habe nichts aus jenem Lande mitgenommen, das schwöre ich Ihnen, nicht einmal die geringste Sehnsucht. Um was für Juwelen der brandenburgischen Krone handelt es sich denn, die Sie zurückfordern?«
»Es handelt sich, mein Herr«, antwortete Freytag in greulichem Französisch, »um die Dichtungen meines gnädigen Herrn, des Königs.«
»Oh, ich werde ihm seine Prosa und seine Verse von Herzen gern zurückgeben«, erwiderte ich ihm, »obwohl ich nach allem mehr als ein Recht auf dieses Werk hätte. Er hat mir ein schönes, auf seine Kosten gedrucktes Exemplar zum Geschenk gemacht. Unglücklicherweise ist dieses Exemplar nebst meinen anderen Gepäckstücken noch in Leipzig.«
Darauf schlug mir Freytag vor, ich sollte so lange in Frankfurt bleiben, bis dieser noch in Leipzig befindliche Schatz einträfe; und er fertigte mir folgendes schöne Schreiben aus:
»Sehr geehrter Herr! Sobald Ihr großes Gepäck, in dem sich die Dichtungen meines Herrn, des Königs, befinden, die Seine Majestät zurückfordert, aus Leipzig hier eingetroffen ist und mir diese Gedichte ausgehändigt worden sind, können Sie reisen, wohin es Ihnen beliebt.
Frankfurt, am 1. Juni 1753, Freytag
Entnommen aus: »Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Herrn de Voltaire« in »Voltaire – sämtliche Romane und Erzählungen« Insel Taschenbuch 1976
Ich setzte unter dieses Schreiben: »Als Anweisung für den Gedichtband Ihres Herrn, des Königs«, worüber der Resident sehr befriedigt war.
Am 17. Juni traf der große Packen Gedichte ein. Ich gab getreulich dieses mir anvertraute geheiligte Gut wieder heraus und glaubte mich nun von hinnen begeben zu können, ohne mich gegen ein gekröntes Haupt zu vergehen; aber im Augenblick der Abreise arretierte man mich, meinen Sekretär und meine Leute. Auch meine Nichte wurde arretiert. Vier Soldaten schleppten sie mitten durch den Straßenschmutz zu dem Kaufmann Schmid, der ich weiß nicht welchen Titel eines königlich preußischen Geheimen Rates innehatte. Dieser Frankfurter Kaufmann fühlte sich nun als preußischer General und befehligte in der bedeutenden Affäre mit aller gebührenden Wichtigkeit und Würde zwölf Stadtsoldaten. Meine Nichte besaß einen Paß des Königs von Frankreich und hatte außerdem niemals die Gedichte des Königs von Preußen durchgesehen. Im allgemeinen pflegt man in den Schrecken des Krieges auf Damen Rücksicht zu nehmen; aber als der Geheime Rat Schmid und der Resident Freytag im Auftrage Friedrichs handelten, glaubten sie bei ihm Hofdienst zu tun, indem sie das arme schöne Geschlecht durch den Schmutz schleiften.
Man steckte uns beide in eine Art Gasthaus, vor dessen Tür zwölf Soldaten postiert wurden; vier weitere steckte man mir ins Zimmer, vier auf den Boden, wohin man meine Nichte gebracht hatte, vier in eine Dachkammer, in der es von allen Seiten zog und wo man meinen Sekretär auf Stroh schlafen ließ. Meiner Nichte stand tatsächlich ein kleines Bett zur Verfügung. Vorhang und Kammerfrauen jedoch ersetzten ihr ihre vier Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett.
Wir mochten noch so sehr betonen, daß wir an den Kaiser appellieren würden, daß der Kaiser in Frankfurt gewählt worden sei, daß mein Sekretär Florentiner und somit Untertan Seiner Kaiserlichen Majestät sei, daß meine Nichte und ich Untertanen des Allerchristlichsten Königs Allerchristlichster König – Ludwig XV. seien und daß wir nichts mit dem Markgrafen von Brandenburg Markgraf von Brandenburg – Friedrich war nur in Preußen, das außerhalb des Reichs lag, König, in Brandenburg war er in der Tat »nur« der Markgraf (und damit bei der Kaiserwahl dabei) zu schaffen hätten – man entgegnete uns, der Markgraf habe in Frankfurt mehr Einfluß als der Kaiser. Zwölf Tage waren wir Kriegsgefangene und mußten hundertvierzig Taler pro Tag dafür bezahlen.
Der Kaufmann Schmid hatte sich meines gesamten Gepäcks bemächtigt, das mir um die Hälfte leichter zurückgegeben wurde. Teurer konnte man die Dichtungen des Königs von Preußen nun wirklich nicht bezahlen. Ich büßte bei alledem ungefähr die gleiche Summe ein, die er ausgegeben hatte, um mich zu sich kommen zu lassen und bei mir Stunden zu nehmen. Mithin waren wir quitt.
Um das Abenteuer vollständig zu machen, hatte sich damals ein gewisser van Duren, Verlagsbuchhändler in Den Haag, berufsmäßiger Gauner und Gewohnheitsbankrotteur, nach Frankfurt zurückgezogen. Es war derselbe Mann, dem ich dreizehn Jahre vorher Friedrichs Manuskript des »Antimachiavell« geschenkt hatte. Seine Freunde trifft man im richtigen Augenblick wieder. Er behauptete nun, Seine Majestät schulde ihm noch einige zwanzig Dukaten, für die ich haftbar sei, und berechnete Zinsen und Zinseszinsen. Der edle Herr Fischard, Bürgermeister von Frankfurt, der sogar regierender Bürgermeister war, wie sich das nannte, fand in seiner Eigenschaft als Bürgermeister diese Berechnung durchaus gerechtfertigt, und in seiner Eigenschaft als regierender Bürgermeister ließ er mich dreißig Dukaten aus meiner Börse ziehen, von denen er sechsundzwanzig für sich behielt und nur vier diesem Gauner von einem Verlagsbuchhändler aushändigte.
Nachdem diese ganze Ostgoten- und Vandalenaffäre beendet war, umarmte ich meine Gastgeber und dankte ihnen für die liebevolle Aufnahme ...
Lausanne, 5. Januar 1758.
Empfänger des Briefes ist unbekannt, er dürfte eher eine Anekdote sein
Der König von Preußen sprach mit dem englischen Gesandten Mitchell über die schöne Unternehmung der englischen Flotte gegen unsere Küste und sagte zu ihm: »Nun, und was gedenken Sie jetzt zu tun?« »Wir lassen eben den lieben Gott walten«, antwortete Mitchell. »Das wußte ich gar nicht, daß ihr auch den zum Verbündeten habt«, sagte der König. »Es ist der einzige, dem wir keine Hilfsgelder zu bezahlen haben«, war Mitchells Antwort. Der König: »Darum ist er auch der einzige, der euch nicht hilft.«
Lausanne, 8. Januar 1758.
Empfänger unbekannt
Sie fragen mich, mein lieber alter Potsdamer Kamerad, wie Cineas Cineas – Pyrrhus war König der Molosser im 3. Jahrh., C. Sein Diplomat sich mit Pyrrhus wieder versöhnt hat. Erstens, weil Pyrrhus aus meinem Trauerspiel Mérope eine Oper machte und sie mir zusandte. Sodann hatte er die Güte, mir seinen Kammerherrnschlüssel anzubieten, der freilich nicht der Schlüssel zum Paradies ist. Eine seiner Schwestern Schwester – Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, † 1758 nämlich, die mir immer wohlgesinnt geblieben ist, war das Bindeglied bei diesem brieflichen Verkehr, der manchmal wieder auflebt zwischen dem Helden- Dichter- Philosophen- Krieger, dem boshaften – sonderbaren – stolz – bescheidenen usw. und dem Schweizer Cineas, der sich von der Welt zurückgezogen hat.
Délices, September 1757.
Majestät, erschrecken Sie nicht über einen langen Brief, das einzige, was Ihnen Schrecken einjagen kann. Ich bin von Eurer Majestät mit unendlich viel Güte aufgenommen worden; ich habe Ihnen angehört und mein Herz wird Ihnen stets gehören. In meinem stillen Heim weiß ich noch nicht, ob Eure Majestät der Armee des Herrn von Soubise Soubise – Charles de Rohan, prince de Soubise, französischer General und Staatsmann, Pair und Marschall von Frankreich, erlitt 1757 eine schwere Niederlage gegen Friedrich im Siebenjährigen Krieg, † 1787 schon entgegengetreten ist und sich durch neue Erfolge ausgezeichnet hat. Soviel sehe ich, daß Sie mit ebensoviel Tapferkeit wie Karl XII., aber mit weit überlegenem Geist, mehr Feinde zu bekämpfen haben als dieser König, da er in Stralsund eintraf. Das ist jedenfalls sicher, daß Ihr Ruhm größer sein wird bei der Nachwelt, weil Sie ebensoviele Siege erfochten haben, nur über Feinde, die weit kriegsgeübter waren als die seinigen, und weil Sie im Gegensatz zu ihm das Wohl Ihrer Untertanen gefördert haben durch Pflege der Künste, durch Gründung von Kolonien, durch Verschönerung der Städte. Dieses Verdienst können Ihnen Ihre größten Feinde nicht nehmen. Vielleicht ist Ihr Ruhm schon jetzt durch einen neuen Sieg vermehrt. Kein Unglück wird ihn Ihnen rauben.
Nun handelt es sich um Ihr Glück. Ich will mich in keiner Weise in Politik einmischen; das kommt mir nicht zu. Aber das darf ich doch denken, daß Sie, wenn das Glück Ihnen ganz zuwider wäre, in Frankreich, das eine Schutzmacht so vieler Verträge ist, eine Stütze fänden; es würden Ihnen noch Staaten genug bleiben, um eine bedeutende Stellung in Europa einzunehmen; der Große Kurfürst, Ihr Urgroßvater, hat an Achtung nicht eingebüßt, weil er einige seiner Eroberungen herausgeben mußte. Männer wie Cato und Othon, deren Tod Euer Majestät schön findet, hatten nur die Wahl zwischen Knechtschaft und Sterben. Unsere Sitten und unsere Kultur fordern entfernt keinen solchen Entschluß. Ihr Leben ist unentbehrlich. Sie wissen, wie teuer es einer zahlreichen Familie ist, sowie allen denen, die die Ehre haben, Ihnen näher zu stehen. Ja, ich darf noch mehr sagen: Wenn Ihr Mut Sie zu diesem heldenhaften Gewaltakt triebe, – er würde nicht gebilligt werden; Ihre Anhänger würden ihn verurteilen und Ihre Feinde würden jubeln. Denken Sie auch an den Schimpf, den die fanatische Sippschaft der Frömmler Ihrem Andenken antäte. Man sollte diesen feigen Feinden des Menschengeschlechts nicht das Vergnügen lassen, einen so ehrwürdigen Namen zu beschmutzen.
Aber glücklicherweise sind Sie noch lange nicht zu solchen äußersten Schritten genötigt; ich erwarte alles von Ihrem Mut und Ihrem Geist, nur nicht jenen unglücklichen Entschluß, den eben dieser Ihr Mut mich allerdings befürchten ließe. Es wird ein Trost für mich sein, wenn ich aus dem Leben scheide, einen Philosophen-König auf Erden zu wissen.
Schloß Tournay bei Genf, 22. April 1760.
Majestät! Ein kleiner Mönch von Saint Just Mönch zu St. Just – Karl V. war Kaiser des heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Reichstag zu Worms mit Luther 1521!), ein berühmter Biertrinker, er dankte 1556 ab und zog sich in genanntes Kloster zurück, wo er 1558 starb sagte zu Karl V.: Heilige Majestät, Sie haben es doch satt bekommen, in der Welt Unruhe zu stiften; und nun müssen Sie auch noch einen armen Mönch in seiner Zelle unglücklich machen! Ich bin der Mönch, Sie aber haben nicht wie Karl V. auf die Größe und die Ärmlichkeit der Welt verzichtet. Wie grausam ist es von Ihnen, mir zu sagen, ich verleumde Maupertuis. Ich denke doch nur noch ans Sterben und mein Stündlein naht heran; also stören Sie diese Stunde nicht durch ungerechte Vorwürfe und durch harte Worte, die mir um so schmerzlicher sind, als sie von Ihrem Munde kommen.
Sie haben mir weh genug getan. Sie haben mich mit dem König von Frankreich auf immer entzweit; Sie haben mich um meine Ämter und Gnadengehälter gebracht, Sie haben mich in Frankfurt mißhandeln lassen, mich und eine unschuldige, eine hochachtbare Frau, die im Schmutz herumgezogen und ins Gefängnis gesteckt wurde. Und dann beehren Sie mich wieder mit Ihren Briefen, aber sie entleiden mir diesen süßen Trost mit bitteren Vorwürfen.
Der schlimmste Schaden, den Sie mit Ihren Werken angestiftet haben, ist der, daß die in ganz Europa verbreiteten Feinde der Philosophie haben sagen können: »Die Philosophen können nicht im Frieden und können nicht beieinander leben; da ist ein König, der nicht an Jesus Christus glaubt; er beruft einen Mann an seinen Hof, der auch nicht an ihn glaubt, und er mißhandelt ihn. Es ist kein menschliches Fühlen in diesen angeblichen Philosophen. Gott straft sie den einen mit dem andern.«
Das sagt man, das druckt man allerorten, und während die Fanatiker einig sind, sind die Philosophen uneinig und unglücklich; und während man mich am Versailler Hof und auch sonst anklagt, ich habe Sie aufgereizt, gegen das Christentum zu schreiben, machen Sie mir Vorwürfe und verschaffen den schimpfenden Fanatikern diesen Triumph! Das verekelt mir die Welt mit vollem Recht; glücklicherweise lebe ich ferne von ihr auf meinen stillen Gütern. Ich will den Tag segnen, an dem ich, im Sterben, aufhören darf zu leiden, zu leiden besonders durch Sie, und dann will ich Ihnen ein Glück wünschen, das allerdings mit Ihrem Rang vielleicht nicht vereinbar ist und das allein die Philosophie Ihnen verschaffen könnte in den Stürmen Ihres Lebens. Wenn Ihnen Ihr Schicksal erlaubt, ausschließlich den Schatz der Weisheit zu pflegen, der in Ihnen liegt, jenen wunderbaren Schatz, der nur jetzt zu leiden hat unter den vom Genie nicht ablösbaren Leidenschaften, ein wenig auch unter launischem Temperament und unter den Fährlichkeiten Ihrer Lage, die Ihre Seele verbittern, unter dem leidigen Kitzel, der Sie immer treibt, andere Menschen zu demütigen und ihnen in Wort und Schrift Nadelstiche zu versetzen, eine Schadenfreude, die Ihrer um so unwürdiger ist, je höher Sie über anderen stehen an Rang und Genie – dann werden Sie alle diese Wahrheiten fühlen.
Verzeihen Sie diese Wahrheiten einem alten Mann, der nur noch kurze Zeit zu leben hat. Er sagt sie Ihnen um so freimütiger, als er, überzeugt von seinen eigenen Schwächen, die um vieles größer sind als die Ihrigen, nicht bei Ihnen in Verdacht stehen kann, daß er sich Ihnen gegenüber schuldlos fühlt. Er seufzt über die Fehler, die Sie begangen haben mögen, ebenso wie über die seinigen, und er wünscht aufrichtig, daß ein so großer Mann wie Sie in allem so glücklich und so groß sei, wie es sich für ihn gebührt.
Berlin, 8. Januar 1766.
Nein, es gibt keinen komischeren alten Herrn als Sie. Sie haben sich die ganze Heiterkeit und Grazie Ihrer Jugend bewahrt. Bei Ihrem Brief über die Wunder mußte ich fast bersten vor Lachen. Ich dachte nicht, daß ich auch darin vorkomme und sah mich zu meiner großen Überraschung zwischen die Österreicher und die Schweine gestellt. Ihr Geist ist immer noch jung, und solange er so bleibt, dürfen wir unbesorgt sein für den Leib. Daß Sie noch eine solche Fülle von Nervensaft haben, der das Gehirn belebt, beweist mir, daß Sie noch über sehr beträchtliche Lebenskräfte verfügen.
Hätten Sie mir vor zehn Jahren gesagt, was Sie am Schluß Ihres Briefs sagen, so wären Sie noch hier. Gewiß haben die Menschen ihre Schwächen, gewiß ist Vollkommenheit nicht das ihnen beschiedene Teil; ich fühle das selbst, wie ungerecht es ist, von anderen zu verlangen, was man selbst nicht leisten kann. Das hätten Sie gleich sagen sollen; dann wäre alles abgemacht, und ich hätte Sie geliebt mit allen Ihren Fehlern, weil Ihre vielen und großen Talente ein paar Schwächen weit aufwiegen. Nur die Talente unterscheiden den Pöbel vom großen Mann. Man kann sich so zügeln, daß man keine Verbrechen begeht; aber man kann nichts für ein Temperament, das gewisse Fehler hervorbringt; so wie gerade recht fruchtbarer Boden neben dem Weizen auch Unkraut aufkeimen läßt. Die »lnfame« bringt nur Giftkräuter hervor. Ihnen war es vorbehalten, sie zu zermalmen mit Ihrer furchtbaren Keule der Ironie, die stärkere Hiebe austeilt als alle Beweisführungen. Wenige können philosophieren, vor der Lächerlichkeit haben alle Angst.
Die sogenannten Gebildeten fangen in allen Ländern an zu denken. Im abergläubischen Böhmen, am alten Sitz des Fanatismus in Österreich öffnen die Leute von Stand allmählich die Augen. Die Heiligenbilder werden nicht mehr so verehrt wie ehedem. Der Hof mag den guten Schriften noch so viele Riegel vorschieben, die Wahrheit dringt doch durch. Die Fortschritte mögen langsam sein, es ist doch etwas Großes, daß eine gewisse Gesellschaftsschicht die Binde des Aberglaubens zerreißt. In unseren protestantischen Ländern geht es rascher; vielleicht braucht es nur noch ein Jahrhundert, und die Leidenschaften, die sich an der Frage sub utraque und sub una, Sub utraque, sub una – in beiderlei Gestalt, in einer Gestalt – gemeint ist die Form des Abendmahls entflammten, sind erloschen. Von dem weiten Herrschaftsbereich des Fanatismus sind höchstens noch Polen, Portugal, Spanien, Bayern die Länder, in denen die krasse Unwissenheit und der Stumpfsinn den Aberglauben noch aufrecht erhalten.
Und Ihre Genfer sind, seit Sie dort sind, nicht bloß Ungläubige, sie sind sogar alle Schöngeister geworden. Das ist ein Wunder, das Sie gewirkt haben. Denn was will das sagen, einen Toten auferwecken im Vergleich mit der Gabe, dem Phantasie zu verleihen, dem die Natur sie versagt hatte. Sie schaffen Wesen, wo Sie Hof halten. Sie sind der Prometheus von Genf. Wären Sie hier geblieben, dann wären wir heute etwas. Aber die Schicksalsmacht über uns hat uns nicht so viel Gutes gönnen wollen.
Kaum haben Sie Ihr Vaterland verlassen, so ist die Literatur dort in Verfall geraten. Der gute Geschmack in Rom wurde mit Virgil, Ovid und Horaz begraben. Ich fürchte, für Frankreich, das Sie verloren hat, das Los der Römer.
Doch komme was da will; ich bin doch Ihr Zeitgenosse gewesen. Mich halten Sie schon noch aus, und um die Geschmacklosigkeit und die Unfruchtbarkeit der Nachwelt sorge ich mich nicht ab.
Leben Sie wohl, bauen Sie Ihren Garten an; Garten anbauen – Zitat aus Voltaires »Candide«: »Alle Ereignisse sind in der besten aller möglichen Welten miteinander verknüpft; denn wäret Ihr schließlich nicht um der Liebe zu Fräulein Kunigunde willen mit ordentlichen Tritten in den Hintern aus einem schönen Schloß gejagt worden, hätte man Euch nicht vor die Inquisition gebracht, hättet Ihr nicht Amerika zu Fuß durchwandert, dem Baron einen tüchtigen Degenstoß versetzt und alle Eure Hammel aus dem Land Eldorado eingebüßt, dann würdet Ihr hier jetzt nicht eingemachte Zedratfrüchte und Pistazien essen.« – »Wohl gesprochen«, versetzte Candide, »aber wir müssen unseren Garten bestellen.« das ist doch das Gescheiteste.
Federic.
Potsdam, 30. Oktober 1770.
... Sie nehmen Anteil an dem Verlust, der mich durch den Tod meines Neffen von Braunschweig betroffen hat. Seine Lebenszeit war nicht lange genug, als daß er hätte ins Klare darüber kommen können, was er erkennen könnte und was er nicht zu wissen brauchte. Um doch eine Spur seines Daseins zu hinterlassen, hat er ein episches Gedicht begonnen. Er hat nicht lange genug gelebt, um es vollkommener zu gestalten. Wenn es je etwas nach diesem Leben geben sollte, dann verstünde er sicher mehr als wir alle miteinander. Aber es ist äußerst wahrscheinlich, daß er nichts weiß. Ein mir bekannter Philosoph, der recht entschiedene Überzeugungen hat, meint, unsere Wahrscheinlichkeitsgründe für die Meinung post mortem nihil est post mortum ... – nach dem Tode ist nichts seien so stark, daß sie der Gewißheit gleich kommen.
Er behauptet, der Mensch sei kein doppeltes Wesen, wir seien nur Materie, die durch Bewegung beseelt sei; sobald die abgenützten Federn ihren Dienst versagen, gehe die Maschine zugrunde und ihre Teile lösen sich auf. Dieser Philosoph sagt ferner, es sei viel schwerer von Gott als vom Menschen zu sprechen, weil wir nur auf dem Weg von Hypothesen zu einer Ahnung von seiner Existenz kommen können und weil man es höchstens als die am wenigsten unvernünftige Annahme bezeichnen könne, wenn man an ihn als an das geistige Prinzip der Bewegung und des Beseelten in der Natur glaube. Mein Philosoph glaubt steif und fest, daß dieses geistige Prinzip sich um Mustapha Mustapha – Mustafa III., Sultan des Osmanischen Reiches, † 1774 so wenig kümmert wie um den »Allerchristlichsten«, und daß die Schicksale der Menschen ihn so wenig beunruhigen als das, was einem Ameisenhaufen zustößt, den der Fuß eines Wanderers unwissentlich zertritt. Mein Philosoph sieht das Tierreich als ein zufälliges Naturerzeugnis an, wie den Sand, den Räder in Bewegung setzen, obwohl diese Räder zur Fortbewegung von Wagen bestimmt sind. Dieser merkwürdige Mensch sagt, die Tiere und das höchste geistige Wesen stehen in gar keinem Verhältnis zueinander, weil schwache Geschöpfe ihm weder schaden noch Dienste erweisen können; weil unsere Laster und Tugenden nur einen Sinn haben mit Bezug auf die Gesellschaft, und weil die Belohnungen und Strafen, die wir von ihr erhalten, für uns genügen.
Würde, es hier ein heiliges Inquisitionstribunal geben, so hätte ich mich versucht gefühlt, meinen Philosophen zur Erbauung unseres Nächsten rösten zu lassen. Aber wir Hugenotten müssen diesen süßen Trost entbehren; und dann hätte das Feuer auch auf meinen Rock überspringen können. Ich habe also, tief geknickt durch seine Reden, mich aufgerafft, ihm die Leviten zu lesen. »Sie sind nicht rechtgläubig, mein Freund,« habe ich zu ihm gesagt, »die allgemeinen Konzilien verdammen Sie einstimmig; und Gott der Vater, der immer alle Konzilien in seinen Hosentaschen herumträgt, um sie, wenn nötig, nachzuschlagen, wie der Doktor Tamponnet die »Summa« des heiligen Thomas Summa des Hl. Thomas – Thomas von Aquin, scholastischer Theologe, schrieb »Summa theologica«, † 1274 mit sich herumträgt, Gott wird sich ihrer bedienen, um Sie in aller Strenge zu richten.« Mein Vernunftkünstler, statt sich so kräftigen Vermahnungen zu fügen, wünschte mir Glück dazu, daß ich die Wege zu Paradies und Hölle so genau kenne, ermahnte mich, ich solle doch eine Karte dieser Gegenden entwerfen und ein Reisehandbuch mit Nachtlagerausweisen zu Nutz und Frommen der Wanderer herausgeben und sie besonders auf die guten Herbergen aufmerksam machen.
Das kommt dabei heraus, wenn man die Ungläubigen bekehren will. Ich überlasse sie ihrem Wandel; da gilt das Wort: Rette sich, wer kann! Uns aber verheißt unser Glaube, daß wir geradeswegs zum Paradies fahren werden. Immerhin, beeilen Sie sich ja nicht mit dem Aufbruch: Ein Sperling in dieser Welt ist mehr wert als zehn Tauben in jener. Geben Sie Ihrer Genfer Kolonie Gesetze, arbeiten Sie zu Ehren des Parnasses, erleuchten Sie die Welt, schicken Sie mir Ihre Widerlegung des »Systems der Natur«, und nehmen Sie mit meinen besten Wünschen die Wünsche aller Bewohner des Nordens und dieser Länder.
Federic.
Ferney, 21. November 1770.
... Der Herzog von Braunschweig stand Ihnen also auch nahe; er dichtete also auch wie Sie und der König von China. Eure Majestät mag ermessen, wie sehr sein Verlust mir nahegeht.
Ich fürchte gleich Ihnen, daß er nichts weiß von dem großen Geheimnis der Natur, so tot er auch sein mag. Ihr haarsträubender Mensch, der so sicher ist, daß alles mit uns stirbt, könnte sehr wohl recht haben, wie auch der Verfasser des »Predigers«, den man dem Salomo Salomo – jüdischer König, gemeint ist das Buch »Der Prediger Salomo (Kohelet)« zuschreibt, der diese Meinung an zwanzig Stellen predigt, wie auch Cäsar und Cicero, die sie im offenen Senat verkündigten, wie auch der Verfasser der »Troade«, Troade – ein Werk Senecas der das auf dem Theater vor vierzig- bis fünfzigtausend Römern sagte, wie das auch so viele böse Leute heute denken, wie das auch jeder zu beweisen scheint, der in einen tiefen Schlummer versinkt oder der in Betäubung sinkt.
Ich weiß nicht, was Mustapha von dieser Sache hält, ich denke, daß er gar nicht denkt und daß er es treibt, wie es viele Mustaphas seines Schlags treiben. In Bezug auf die russische Kaiserin, Russische Kaiserin – Katharina II., russische Zarin seit 1762, † 1792 die schwedische Königin, Ihre Schwester, Schwester – Luise Ulrike von Schweden, † 1782 glaube ich zu wissen, was sie denken. Sie haben mir mit der Hoffnung geschmeichelt, daß auch der Kaiser Kaiser – Joseph II. sich auf dem Weg zur Verdammnis befinde; das nenne ich mir einen guten Rekruten für die Philosophie. Schade, daß es bald keine Hölle und kein Paradies mehr gibt; das war so eine interessante Geschichte; bald wird einem nur noch übrig bleiben, Gott um seiner selbst willen zu lieben, ohne Furcht und ohne Hoffnung, wie man die mathematischen Wahrheiten liebt; aber diese Liebe ist nicht so gar heftig; die Liebe zur Wahrheit hat etwas Kühles.
Übrigens verfügt Ihr haarsträubender Mensch über keine Beweise; er hat nur die allerstärksten Wahrscheinlichkeitsgrade für sich; da müßte man sich bei Ganganelli Ganganelli – der Papst Clemens XIV. erkundigen; man sagt, er sei ein guter Theologe. Wenn das der Fall ist, so ist anzunehmen, daß er kein perfekter Christ ist. Aber der schlaue Fuchs wird sich nicht in die Karten sehen lassen. Er kocht sich sein Süppchen für sich, wie, das der Marquis d'Argenson von einem der Könige Europas sagte.
Wenn auch nur die mathematischen Wahrheiten bewiesen sind, so dürfen Sie doch überzeugt sein, Majestät, daß von allen wahrscheinlichen Wahrheiten die sicherste ist, daß Ihr Ruhm der Unsterblichkeit gewiß ist, und daß meine ehrfurchtsvolle Anhänglichkeit an Sie erst endigen wird, wenn mein armes und jämmerliches Wesen dem Gesetz seinen Zoll entrichtet, das auf die größten Könige wartet wie auf die geringsten Welschen. Welschen – Italiener, Anspielung auf Ganganelli