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Vom Wert des Lebens und vom Tod

Aus Briefen an Frau du Deffand Frau du Deffand – führte seit 1764 in Paris einen Salon, in dem hauptsächlich die Enzyklopädisten verkehrten

Lassen Sie sich das Leben nicht verekeln, denn wirklich, wenn man darüber nachsinnt, findet man, daß es nichts Besseres gibt. Freilich ist es nicht viel wert, das Leben; wir ertragen es nur kraft eines fast unüberwindlichen Triebs, den die Natur uns mitgegeben hat. Sie hat diesem Triebe aus dem Untergrund der Pandorabüchse Pandorabüchse – Pandora war die erste Frau der griech. Sage. Sie öffnete diese Büchse, woraufhin alle darin enthaltenen Übel auf die Menschheit kamen. Nur die Hoffnung blieb zurück. noch die Hoffnung hinzugefügt.

Nur von Judas hat man meines Wissens gesagt, es wäre besser, wenn er nicht geboren wäre, und auch von ihm hat es nur das Evangelium gesagt. Das Leben ist sehr kurz und sehr elend; aber ich muß Ihnen sagen, daß ich einen dreiundzwanzigjährigen Verwandten bei mir habe. Er war schön, wohlgebaut, kräftig. Auf der Jagd stürzt er eines Tags vom Pferd; wegen einer Schenkelquetschung macht man ihm einen kleinen Einschnitt; und nun ist er gelähmt für den Rest seines Lebens, nicht bloß teilweise gelähmt, sondern so, daß er kein einziges Glied mehr rühren kann, nicht den Kopf kann er heben. Er weiß, daß es für ihn nicht einmal mehr ein Linderungsmittel gibt. Nun – er hat sich an seinen Zustand gewöhnt und liebt das Leben wie ein Narr.

Nicht als ob das Nichts nicht auch sein Gutes hätte. Seien wir übrigens unbesorgt! Gescheite Leute sagen, wir werden es zu kosten bekommen; sie sagen mit Seneka Seneka (2) – Seneca d. J., röm. Schriftsteller und Politiker, seine Ethik («alle Menschen sind gleich«) wirkt bis in unsere Zeit nach, † 65 und Lukrez, Lukrez – Titus Lucretius Carus, röm. Dichter, schrieb »De rerum natura«, in dem naturwissenschaftliche Erkenntnis gefordert wird, die die Menschheit von Götterfurcht und Aberglauben befreien kann, † v.C. 55 wir werden nach unserem Tode sein, was wir waren, ehe wir geboren wurden. Aber das halte ich für unmöglich, daß wir das Nichts lieben bei allen seinen guten Eigenschaften.

Philosophieren wir einmal etwas über den Tod! Ganz sicher ist, daß man ihn nicht fühlt. Er und der Schlaf gleichen sich wie ein Ei dem andern. Nur der Gedanke, daß man nicht mehr aufwachen wird, ist das Bittere. Und der Todesapparat ist scheußlich, die Barbarei der letzten Ölung, die Grausamkeit, uns darauf aufmerksam zu machen, daß es aus ist mit uns. Was hat denn das für einen Sinn, daß man uns unser Urteil verkündigt. Es wird schon ohne Notar und Priester vollstreckt werden. Darum soll man seine Verfügungen zur rechten Zeit treffen und dann nicht mehr daran denken. Man sagt manchmal von einem Menschen, er sei gestorben wie ein Hund. Wahrlich, ein Hund ist recht glücklich, daß er ohne diesen Apparat sterben darf, mit dem man uns im letzten Augenblick des Lebens quält. Hätte man ein bißchen Liebe für uns, so ließe man uns sterben, ohne uns etwas zu sagen. Das Schlimmste dabei ist, daß man auch noch von Heuchlern umgeben ist, die einem zusetzen, man solle denken wie sie selbst – nicht denken, oder von Dummköpfen, die wollen, man solle so dumm sein wie sie. Da hat man beim Leben in Genf doch ein Vergnügen, daß man sterben kann wie man will.


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