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Ist der menschliche Wille frei?

Wenn ich mich nicht sehr täusche, so hat Locke, Locke – John Locke, englischer Philosoph, Vertreter der englischen Aufklärung, gilt als Begründer des Empirismus, Hauptwerk » Über den menschlichen Verstand«. Noch vor Montesquieu trat er für die Trennung von Legislative und Exekutive ein, seine Staatsrechtslehre beeinflußte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und wirkt bis in unsere Zeit nach, † 1704 der Begriffsbestimmer, den Begriff der Freiheit sehr gut bestimmt als Kraft. Wenn ich mich nicht wieder täusche, so ist Collins, Collins – Antony Collins, englischer Philosoph, Vertreter des Deismus. Wikipedia: »Für ihn war Unwissenheit der Boden des Atheismus und freies Denken seine Heilung. Damit trat Collins, der seine Werke zunächst anonym veröffentlichte, in einen heftigen Widerspruch zur öffentlichen Meinung seiner Zeit. Vor allem von klerikaler Seite wurde gegen seine Ansichten polemisiert.«, † 1729 ein angesehener Londoner Beamter, der einzige Philosoph, der diesen Gedanken richtig durchgedacht hat; und Clarke Clarke – Samuel Clarke, englischer Philosoph und Theologe, † 1729 hat ihm nur nach Theologenart geantwortet. Von allem, was man in Frankreich über die Freiheit geschrieben hat, kenne ich nichts Bündigeres als das hier folgende Zwiegespräch:

A: Das ist ja eine Batterie, die vor unseren Ohren abgefeuert wird. Haben Sie die Freiheit, das zu hören oder nicht zu hören?

B: Ich kann sicher nicht machen, daß ich es nicht höre.

A: Wollen Sie, daß diese Kanone Ihren Kopf wegreißt sowie die Köpfe Ihrer Frau und Ihrer Tochter, die mit Ihnen spazierengehen?

B: Was sinnen Sie mir da an? Solange ich bei Sinnen bin, kann ich doch etwas derartiges nicht wollen; das ist unmöglich.

A: Gut. Sie hören also notwendigerweise diese Kanone und notwendigerweise wollen Sie mit Ihrer Familie nicht durch einen Kanonenschuß auf dem Spaziergang sterben. Sie haben nicht die Kraft, nicht zu hören; Sie haben auch nicht die Kraft, hier bleiben zu wollen.

B: Das ist klar. Eine Anmerkung Voltaires: » Ein Armer am Geist« macht in einem anständigen, höflichen und ganz gut durchgedachten Schriftchen den Einwand: Wenn aber sein Fürst dem B. befiehlt, sich dem Geschützfeuer auszusetzen, so wird er bleiben. Ja gewiß, wenn er mehr Mut oder mehr Angst vor der Schande hat als Liebe zum Leben, wie das ja sehr oft der Fall sein mag. Erstens handelt es sich hier um einen ganz verschiedenen Fall; zweitens: wenn der Trieb der Furcht vor Schande stärker ist als der Selbsterhaltungstrieb, so ist der Mensch ganz ebenso genötigt, sich dem Geschützfeuer auszusetzen, wie er zur Flucht genötigt ist, wo Flucht nicht schimpflich ist. Der Arme am Geist mußte notwendigerweise lächerliche Einwände vorbringen und beleidigend werden; und die Philosophen fühlen sich genötigt, ihn ein bißchen aufzuziehen und ihm zu verzeihen.

A: Sie haben infolgedessen ungefähr dreißig Schritte gemacht, um sich vor der Kanone zu decken. Sie haben die Kraft gehabt, diese paar Schritte mit mir zu gehen.

B: Das ist wiederum sehr klar.

A: Und wenn Sie gelähmt gewesen wären, so wären Sie unvermeidlich dieser Batterie ausgesetzt gewesen und hätten notwendigerweise diesen Kanonenschuß gehört und bekommen; Sie wären notwendigerweise daran gestorben.

B: Vollkommen richtig.

A: Worin besteht also Ihre Freiheit als in der von Ihrer Persönlichkeit ausgeübten Kraft das zu tun, was ihr Wille mit unbedingter Notwendigkeit verlangte?

B: Sie machen mich ganz perplex. Die Freiheit besteht also bloß darin, daß ich tun kann, was ich will.

A: Denken Sie einmal nach und sehen Sie, ob man unter Freiheit etwas anderes verstehen kann.

B: In diesem Fall ist mein Jagdhund so frei wie ich; er hat notwendigerweise den Willen zu laufen, wenn er einen Hasen sieht, und die Kraft zu laufen, wenn ihm die Füße nicht weh tun. Ich stehe also ganz auf der Stufe meines Hundes, ich habe nichts vor dem Tier voraus.

A: Da haben wir wieder die ärmlichen Sophismen Sophismus – Rechthaberei der Sophisten, bei denen Sie in die Schule gegangen sind. Ist das etwas so Schlimmes, wenn Sie so frei sind, wie Ihr Hund? Essen Sie nicht wie er, schlafen Sie nicht so, pflanzen Sie sieh nicht so fort, bis auf die Haltung? Möchten Sie anders riechen als durch die Nase? Warum wollen Sie die Freiheit anders haben als Ihr Hund?

B: Aber ich habe eine Seele, die viel denkt. Und mein Hund denkt kaum. Er hat doch fast bloß einfache Gedanken, und ich habe tausend metaphysische Ideen.

A: Dann sind Sie auch tausendmal freier als er; das heißt: Sie haben tausendmal mehr Kraft zu denken als er; aber Sie sind nicht in anderer Art frei als er.

B: Was? Ich bin nicht frei zu wollen, was ich will?

A: Was verstehen Sie darunter?

B: Was jedermann darunter versteht. Sagt man nicht täglich: Der Wille ist frei?

A: Ein Sprichwort beweist nichts; erklären Sie sich näher!

B: Ich meine, daß es mir freisteht zu wollen, wie es mir beliebt.

A: Erlauben Sie, das hat keinen Sinn. Sehen Sie nicht, daß es lächerlich ist zu sagen: Ich will wollen? Sie wollen notwendigerweise kraft der Gedanken, die Ihnen gekommen sind. Wollen Sie heiraten, ja oder nein?

B: Wenn ich nun aber sage: Keins von beiden.

A: Da würden Sie antworten wie der, der sagte: Die einen glauben, der Kardinal Mazarin sei gestorben, die andern meinen, er sei noch am Leben; ich glaube keins von beiden.

B: Nun also! So will ich heiraten.

A: Das heißt endlich einmal Antwort geben. Warum wollen Sie heiraten?

B: Weil ich in ein junges Mädchen verliebt bin, das schön ist und sanft und wohl erzogen und ziemlich reich, das schön singen kann, dessen Eltern sehr wackere Leute sind, das auch, wie ich mir schmeicheln darf, mich liebt, und deren Familie ich nicht unwillkommen bin.

A: Das sind doch Gründe. Nun sehen Sie, daß Sie nicht wollen können ohne Gründe. Und nun sage ich Ihnen, daß Sie frei sind, zu heiraten, das heißt: Sie haben die Kraft, den Ehevertrag zu unterzeichnen, Hochzeit zu machen und bei Ihrer Frau zu schlafen.

B: Wie? Ich kann nicht wollen ohne Gründe? Ja, was wird dann aus dem anderen Sprichwort: Sit pro ratione voluntas? Ich will, weil ich will.

A: Das ist sinnlos, mein lieber Freund; da gäbe es in Ihnen eine Wirkung ohne Ursache.

B: Wie? Wenn ich »Gleich und Ungleich« spiele, habe ich da einen Grund, lieber Gleich zu wählen als Ungleich?

A: Ja, gewiß.

B: Und was wäre dann dieser Grund, bitte?

A: Die Vorstellung Gleich ist Ihnen eben eher eingefallen als die Vorstellung Ungleich. Das wäre doch komisch, wenn es Fälle gäbe, wo Sie wollen, weil Sie einen Grund zum Wollen haben, und einige Fälle, wo Sie ohne Grund wollen. Wenn Sie sich verheiraten wollen, so fühlen Sie doch augenscheinlich den bestimmenden Grund; Sie fühlen ihn nicht, wenn Sie Gleich und Ungleich spielen; und doch muß es wohl einen geben.

B: Nun, noch einmal: ich bin also nicht frei?

A: Ihr Wille ist nicht frei, Ihre Taten sind frei. Es steht Ihnen frei zu handeln, wenn Sie die Kraft zu handeln haben.

B: Aber alle die Bücher, die ich über die Freiheit der Indifferenz Indifferenz – Gleichgültigkeit gegenüber Entscheidungsfragen gelesen habe?

A: Was verstehen Sie unter Freiheit der Indifferenz?

B: Darunter verstehe ich: rechts oder links ausspucken können, auf der rechten oder linken Seite beim Schlafen liegen, vier oder fünfmal auf und ab spazieren.

A: Da hätten Sie, weiß Gott, eine komische Freiheit! Da hätte Ihnen Gott ein nettes Geschenk gemacht. Darauf könnten Sie sich etwas zugute tun! Was würde Ihnen denn eine Kraft helfen, die Sie nur bei so nichtigen Gelegenheiten ausüben könnten! Aber tatsächlich ist es lächerlich, einen Willen anzunehmen, der nach rechts ausspucken will. Nicht bloß ist dieser Wille zu wollen sinnlos, sondern es ist auch sicher, daß viele kleine Umstände Sie zu diesen Handlungen bestimmen, die Sie »indifferent« nennen. Sie sind bei diesen Handlungen so wenig frei wie bei den anderen. Aber noch, einmal, Sie sind frei allezeit und überall, sobald Sie tun, was Sie tun wollen.

B: Ich vermute, Sie haben recht. Ich will darüber noch weiter nachdenken.


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