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Alle Menschenrassen haben immer in Gesellschaft gelebt. Alle Menschen, die man je entdeckt hat, auch in den ödesten Ländern, leben in Gesellschaft wie die Biber, die Ameisen, die Bienen und andere Tierarten.
Nie hat man ein Land gesehen, in dem sie einzeln gelebt hätten, in dem nur der Zufall Mann und Weib einander zugeführt hätte, und in dem der Überdruß den Mann vom Weib sofort wieder getrennt hätte, in dem die Mutter die von ihr aufgezogenen Kinder vergessen hätte, in dem man ohne Familie, ohne Gesellschaft lebte. Einige sonderbare Käuze haben ihren Geist soweit mißbraucht, daß sie sich die widersinnige Behauptung leisteten, der Mensch sei von Hause aus dazu bestimmt, allein zu leben wie ein Luchs; durch die Gesellschaft sei die Natur verdorben worden. Genau so gut könnte man sagen, die Heringe im Meer schwimmen von Hause aus vereinzelt umher, und nur infolge außerordentlicher Sittenverderbnis kommen sie jetzt schwarmweise vom Eismeer an unsere Küsten; ehemals seien die Kraniche jeder für sich in der Luft geflogen und nur infolge einer Versündigung gegen das Naturrecht seien sie dazu gekommen, in Gesellschaft zu reisen.
Jedes Tier hat seinen Instinkt; der Instinkt des Menschen, den die Vernunft noch unterstützt, drängt ihn zur Gesellschaft, wie er ihn zum Essen und Trinken drängt. Nicht das gesellige Bedürfnis bringt den Menschen herunter; er kommt herunter, wenn er sich von der Gesellschaft zurückzieht. Wer nur für sich allein leben wollte, würde bald die Fähigkeit verlieren zu denken und seine Gedanken auszusprechen; er wäre sich selbst zur Last; er würde sich wieder in ein Tier verwandeln; das wäre sein Aufstieg! Ein maßloser, ohnmächtiger Hochmut, der dem Hochmut der anderen trotzt, kann eine schwermütig angelegte Seele dazu bringen, die Menschen zu fliehen. Dann ist sie heruntergekommen; sie hat ihre eigene Strafe an sich vollzogen; ihr Hochmut ist ihre Qual; in ihrer Einsamkeit frißt sie ihren geheimen Ärger in sich hinein, weil sie verachtet und vergessen ist; sie hat sich in die fürchterlichste Sklaverei begeben, um frei zu sein.
In Überschreitung der gewöhnlichen Grenzen der Verrücktheit hat man sich zu dem Satz verstiegen: »Es ist nicht natürlich, daß der Mann sich mit einem Weib befaßt während ihrer neun Schwangerschaftsmonate. Ist die Begierde gestillt,« sagt der geistreich sein wollende Verfasser, »so braucht der Mann nicht mehr das und das Weib, und das Weib nicht mehr den und den Mann; der Mann kümmert sich nicht um die Folgen seines Tuns und hat keine Ahnung davon. Eins geht dahin, das andere dorthin; es ist höchst unwahrscheinlich, daß sie nach neun Monaten sich an ihre Bekanntschaft noch erinnern. Warum soll er sie also nach der Niederkunft unterstützen? Warum soll er ihr helfen, ein Kind aufzuziehen, von dem er nicht einmal weiß, daß es ihm gehört?«
Das ist scheußlich; aber glücklicherweise ist es auch das Gegenteil der Wahrheit. Wenn diese barbarische Gleichgültigkeit der wahre Naturinstinkt wäre, so müßte die menschliche Gattung es doch wohl immer so getrieben haben. Der Instinkt ist nicht wandelbar, sehr selten wird er sich selbst untreu. Der Vater hätte die Mutter immer sitzen lassen; die Mutter hätte ihr Kind sitzen lassen; es gäbe sehr viel weniger Menschen auf Erden als Raubtiere; denn die wilden Tiere, die besser ausgestattet und bewaffnet sind, haben einen sichereren Instinkt und besser gesicherte Nahrung als die menschliche Gattung.
Unsere Natur ist ganz anders, als der abscheuliche Roman dieses Tollkopfs sie hinstellt. Mit Ausnahme einiger ganz verwilderter barbarischer Seelen, mit Ausnahme vielleicht eines noch mehr verwilderten Philosophen lieben die hartherzigsten Menschen infolge eines mächtigen Triebs das Kind, das noch nicht geboren ist, den Mutterleib, der es trägt, und die Mutter, deren Liebe zum Manne sich verdoppelt, wenn sie von ihm den Keim zu einem ihr ähnlichen Wesen in ihrem Schoß empfangen hat.
Der Instinkt der Köhler des Schwarzwalds spricht ebenso laut zu ihnen und treibt sie ebenso stark zugunsten ihrer Kinder an, wie der Instinkt die Tauben und Nachtigallen antreibt, ihre Jungen zu füttern. Der große Fehler dieser ganzen geistreich sein wollenden Schriftstellerei besteht in der Entstellung des wahren Bildes der Natur. Wären Boileaus Boileau – Nicolas Boileau alias Despréaux, einflußreicher französischer Schriftsteller und Satiriker, † 1711 Satiren auf Mann und Weib nicht bloße Scherze, man müßte ihnen als ihren Grundfehler vorwerfen, daß sie alle Männer als Narren und alle Weiber als frech-kokett hinstellen.
Derselbe antisoziale Schriftsteller, der dem Lafontaineschen La Fontaine – Jean de La Fontaine, klassischer französischer Schriftsteller und Fabeldichter, † 1695 Fuchs ohne Schwanz gleicht, der möchte, daß sich alle seine Genossen auch den Schwanz abschneiden, drückt sich in seinem hochmütigen Schulmeisterstil folgendermaßen aus:
»Der erste, der ein Stück Landes einzäunte, der sich einfallen ließ zu sagen, ›das gehört mir‹, und der Leute fand, die einfältig genug waren, es ihm zu glauben, war der eigentliche Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel Verbrechen, Kriege und Mordtaten, wie viel Elend und Greuel hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen, den Graben wieder eingeebnet und seinen Nebenmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch wohl, diesem Betrüger zu glauben! Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde Niemandes Eigentum ist.‹«
Also wäre nach diesem schönen Philosophen ein Dieb und ein Zerstörer der Wohltäter des Menschengeschlechts; und den braven Mann hätte man strafen müssen, der zu seinen Kindern gesagt hätte: »Ahmen wir unseren Nachbar nach; er hat sein Feld eingezäunt; die Tiere verwüsten es nun nicht mehr; sein Landstück wird fruchtbarer; bearbeiten wir das unsere, wie er das seinige bearbeitet hat; er wird uns helfen, wir werden ihm helfen; wenn jede Familie ihr Landstück bebaut, so werden wir alle besser ernährt sein, gesünder, friedlicher, weniger elend. Wir werden versuchen, eine gerechte Rechtsprechung einzurichten, die unserem armen Geschlecht eine Hilfe und ein Trost sein wird. Dann werden wir etwas Besseres als die Füchse und Marder, zu deren Ebenbild dieser Tollkopf uns machen möchte.« Wäre eine solche Rede nicht vernünftiger und anständiger als die Rede des wilden Narren, der den Garten des braven Mannes verwüsten wollte?
Was ist das also für eine Philosophie, die der gesunde Menschenverstand ablehnt, vom innersten China an bis nach Kanada? Ist es nicht die eines Bettlers, der alle Reichen von den Armen ausrauben lassen möchte, um so die brüderliche Einigkeit unter den Menschen aufzurichten? Ja freilich, wenn alle Hecken, alle Wälder und Felder mit nahrhaften, köstlichen Früchten bedeckt wären, dann wäre es unmöglich, ungerecht und lächerlich, sie einzuhegen.
Wenn es irgendwo Inseln gibt, die die Natur mit allem zur Nahrung und Notdurft Gehörigen verschwenderisch ausgestattet hätte, dann laßt uns dort leben frei vom Wust unserer Gesetze. Aber sobald sie einmal von uns bevölkert sind, wird man auch aufs Mein und Dein zurückgreifen müssen und auf jene Gesetze, die sehr oft recht schlecht sind, ohne die man aber nun einmal nicht auskommen kann.