Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII

Gegen Mitternacht landete Ullrich im Rosen-Casino; in einem Lokale, das er von Zeit zu Zeit aufsuchte, um sich außerhalb aller Grenzen versetzt zu fühlen.

Da öffnete sich eine Welt, die man wirklich und wahrhaftig als eine Unwelt bezeichnen mußte, und die doch lachte und lebte. – Ihre Luft war ein Brodem aus Rauch und Bier und dem Schweiß der Tanzenden. Ihr Glück war ein Klavier im Hintergrund, das niemals schwieg. Ihr Glanz kam von offenen Kerzen auf allen Tischen, die gierig herunterbrannten und -tropften.

An die Natur gemahnte nur das dichte Tannenreisig an den schwarzen Balken der Decke. Viele fahle flackernde Flecken, so schwankten und klebten Menschengesichter im Raum, über den Tischen gepaart, und über ihnen wieder die Tanzpaare, zwei und zwei, dicht aneinander. Das Lachen ringsum war laut und das Geplauder froh und allgemein.

Man tauchte hinein, das kostete nur einen kurzen Entschluß, und dann war man umschlungen und aufgenommen und verbrüdert. Bald hatte man es weg, das Gemeinsame, das sich hier brutal umschloß. Bald wurde man gewahr, wie überall Arme um Nacken hingen und Brust an Brust geklammert war.

Stämmige Männer hielten blasse Burschen, die vor ihnen hinschwanden. Die Baß-Stimmen quollen breiig, und die Tenöre kippten in den Diskant über und in Sopran.

Das Element der Knaben war beweglich, es verführte durch seine schmerzhafte Lockerung. Das Männliche aber tappte mit seiner ganzen Schwere plump zu, vom Bier selbst süffig gemacht, mit dicken angeschwollenen Adern.

Bestürzend welke Kindergesichter flackerten auf und verloschen an bedrohlich stumpfen Stirnen. Tätowierungen zeigten auf nackter Matrosenbrust ihr rohes Wappen, und lange Burschen spreizten sich in Frauenkleidern, Riesenfüße im Lackschuh, sehnige Waden in durchbrochenen Strümpfen, die Welt der »Dame« in hexenhafter Karikatur. –

Aber das war nur eine interessante Zuspitzung, ein grelles Capriccio. Die überwiegende Regel, der eigentliche breite Sinn dieser Welt war das Väterliche und das Brüderliche, als eine Überschwemmung der Triebe, die hemmungslos über ihre Ufer traten und ein umfassendes Zerstörungswerk verrichteten.

Wohl triumphierte in jener Ecke der grölende Kaliban, der behaarte Unhold mit Hauern statt Zähnen; und drüben wieder die ausgepichte Hexe mit den verkümmerten Organen des Bocks. Aber eine proletarisch männliche Breite verschlang die tierische Abart und zerkaute sie zwischen harten Kiefern.

Die tägliche Walpurgisnacht dieses Orts grenzte deutlich genug an den Arbeitstag der Fabriken und Maschinen; den Werften und Zinskasernen war diese Ausschweifung entsprungen und mischte sich mit der bürgerlichen Dekadenz, mit der haltlosen Erschlaffung der Besitzenden, als ein Kommunismus der Gier.

Der Fron entsprungen war dieses heisere Evoe; es wiederholte sich hier die Sorglosigkeit des Schützengrabens, der ja auch, zur Pflicht der Zerstörung losgekauft, kein Gestern und kein Morgen mehr gekannt hatte. Die große Stadt lag dahinter; und hier wurde nicht mehr gefront sondern gefrönt.

Gemeinsam mit dem Schützengraben war auch die sinnlose Vergeudung von Blut und Kraft, die betrunkene Draufgabe der Menschenleben, der Menschenschicksale, als einer Quantität, die überzählig geworden ist. Undenkbar war hier nichts; doch, eines: die Mutter. »Wenn Du keine Mutter mehr hast!« Dieser Text konnte mit den gleichen Lettern über beiden Höllen stehen; über den Männerformationen des Weltkrieges und über dieser konsequentesten Vergnügungsstätte der Weltstadt.

Was aber Herrn Ullrich immer wieder hierherzog, war die bohrende und aushöhlende innere Not seines Luxusberufes.

Hier war in der Vertauschung der Geschlechter die Maskenhaftigkeit des Daseins bis zu einer Tollwut gediehen, welche die Elemente des Blutes erfaßte.

Nach den unzähligen Masken, in die er sich hatte steigern müssen, und die allmählich das Fleisch unter der Haut seines Gesichtes zu bedrohen begannen, genoß der alte Schauspieler hier eine letzte Auflösung und eine erste Beruhigung. Das war das eine.

Die tausend Fratzen der allzu beweglichen Haut, die Panik der Verstellung: das erledigte sich hier zum endgültigen Mischmasch; die Grenzen mußten nicht länger mit qualvoller Genauigkeit eingehalten werden, und der Urtrieb vereinfachte sich tierisch.

Das zweite aber war: daß die verzehrende Solisten-Eifersucht; der Rollenneid und Klassenkampf des Schauspielers; der Exhibitionismus der Persönlichkeit; das Leben und Sterben zwischen Spiegeln – kurz, alles, was das heutige Theater als die Erhebung unserer mühsamen und vergifteten Gesellschaftlichkeit zum Selbstzweck erscheinen ließ: – daß dieses ewige und unerträgliche Wechselfieber des individuellen Reizes hier, wenn auch nur zum Schein, in eine Art Brüderlichkeit einmündete.

Wenn auch nur in einer scheußlichen Spiegelung hinter dem greulichen Dunst dieser Höhle, zeigte sich, jenseits von allem Gesetz, die Illusion einer Verbrüderung der Verlorenen und Aufgegebenen, der Weggeworfenen und Überflüssigen, des Abhubs der Menschlichkeit. Hier war das dunkle Gegen-Theater aufgeschlagen. Und über alle Stile triumphierte ein tierischer Naturalismus als die gewaltsame Verschmelzung der quälenden Unterschiede. Und die sinistre Brüderschaft, die hier ihre Orgien feierte, empfing einen Mann wie Ullrich mit Verständnis und Respekt.

Er war nicht der einzige Berühmte, der hier auftauchte; man wußte ja die Liste der großen Brüder und Schwestern, die viel inniger dazu gehörten als er, genau auswendig. Man wußte, daß er nicht hierher kam, um ein Bedürfnis seines Leibes zu erfüllen; man wußte, daß er kam, um zu »studieren«, um »Studien zu machen«, wie man es nannte.

Und trotzdem räumte man ihm eiligst einen Platz ein, auch wenn das Gedränge der wahrhaft Bedürftigen beängstigend war; und auch in stierer Betrunkenheit vergaß keiner, die Schranken zu respektieren, die um einen Mann wie Ullrich unsichtbar gezogen blieben.

Wohl umarmte man auch ihn und schnob ihm heißen Bierdunst in die Nase, aber nur, um ihm zu beichten, um ihm interessante Details zu verschaffen: wie etwa einer in diesen Bacchantenzug geraten war; oder wie ein anderer kämpfte, um sich das Koksen abzugewöhnen, denn das Kokain war die größte Gefahr dieser Welt. Manchmal erschien der Wirt persönlich, ein blonder Hämmling mit der Stimme eines Kanarienvogels, an Ullrichs Tisch, verneigte sich zeremoniös und erkundigte sich vertraulich, ob der Herr zufrieden war mit dem Benehmen der Gäste, ob keine Unzukömmlichkeit sich gezeigt habe. Und immer wieder mußte Ullrich seiner Zufriedenheit Ausdruck geben.

Oder der Kellner, ein weichlicher Italiener, koketter Mensch mit dunkelglühenden Augen, lächelte ihm zärtlich zu, mit platonischer Liebenswürdigkeit. »Diese Leute sind Kinder,« dachte Herr Ullrich, »Bestien und Kinder. Mörder und Vampire und Kinder.« Und er zahlte Freibier in Strömen.

Bis hierher war sein Mißerfolg nicht gedrungen. Hier war er auch heute noch der berühmte Mann.

Herr Ullrich saß an einem großen runden Tisch, der keineswegs ihm allein gehörte. Viele ineinander verklammerte Menschen, die sich um ihn nicht kümmerten, waren seine Gesellschaft. Rechts von ihm drei blutjunge Menschen, schöne Geschöpfe sogar, zwei Knaben und ein Mädchen.

Herr Ullrich kannte diese drei Unzertrennlichen, diesen platonischen Freundschaftsbund. Zwei davon waren Künstlerkinder; das Mädchen Waise eines berühmten Kollegen, der Jüngling Sohn eines großen Genremalers.

Das Mädchen schwungvoll, kühnen Gesichts und hellen Auges; der Jüngling überzart, schmerzlich verfeinert, mit halb erloschenem Bück. Zwischen beiden ein kleiner Matrose, ein brauner Kerl in blauer Bluse, schwarzhaarig und blauäugig, ein zärtliches kleines Raubtier, das, von den beiden rechts und links schwerlos umarmt, wohlig schnurrte.

Der Miniatur-Matrose hatte den rechten Arm leicht um die Hüfte des jungen Mädchen gelegt, das frei und hoheitsvoll dasaß; während der Jüngling ihn um den Hals hielt, seine blasse Wange sanft an der braunen des plebejischen Freundes.

Herr Ullrich kannte diese Gruppe aus dem Tartarus der Zeit sehr wohl. Oft hatte er sie beobachtet – »studiert« –; oft hatte er sie tanzen und die tote Welt vergessen sehen. Sie waren das Schönste hier, die edle Ausnahme. Künstlerkinder, von der Berühmtheit des Vaters gezeichnet, schon vor der Geburt aus der Reihe gestoßen.

Die Drei sprachen leise und wenig, wie sie da saßen. Dann erhob sich das Mädchen, leuchtenden Auges, und ruhig sagte sie: komm. – Der kleine Matrose erhob sich, er schwankte, als er den Arm auf den Rücken des Mädchens legte. Und sie begannen zwischen den Tischen zu tanzen.

Viele Augen folgten ihnen, man konnte manches Gesicht sehen, das, so tierisch es auch war, stolz wurde, indem es sich dem Paare nachdrehte. Man lachte zärtlich auf, wenn sie vorüber kamen. Kaliban fühlte sich geehrt, weil ein königliches Mädchen mit ihm fraternisierte, das Brot des Lebens mit ihm teilend. – Der Jüngling, der am Tisch zurückgeblieben war, hatte keinen Blick für Ullrich, obwohl dieser ihn unverwandt anschaute. Er legte sofort das Gesicht in die Hände, wie um die Augen, die ihn schmerzen mochten, durch Dunkelheit zu kühlen und zu heilen.

Dann aber kam das Paar wieder heim, das ausgeschwärmt war. Und als sie an den Tisch traten, sprang der Jüngling auf, ergriff die Hand des Matrosen und preßte seine Lippen darauf. Es geschah dicht vor Ullrichs Augen.

Ullrich sah die Verzerrung des Gesichtes, das sich zu der Hand niederbeugte, die inbrünstige Demütigkeit des Mundes, der sich im Kuß vergab; und er sah die Hand, die so geküßte Hand, die Hand selbst: eine braune, harte Proletarierhand, Hand des Volkes. Und er sah, wie der Matrosenknabe unter diesem Kuß innerlich wankte, ein Verlorener, von all dieser Zärtlichkeit, die seine Kräfte überstieg, zerstückelt und verbraucht.

Und dieser Akt einer verzweifelten Demut, dieser vergebliche Fußfall vor dem vergeblichen brüderlichen Leben, verursachte Herrn Ullrich plötzlich einen solchen Schmerz, tat ihm so dringend weh, daß er die Flucht ergriff. Er zahlte nicht einmal, und der schwarze Kellner rannte ihm bis an die Türe nach, wo er ihn atemlos einholte.


 << zurück weiter >>