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VI

Aber zwanzig Minuten später tappte der Charakterspieler Ullrich durch den langen dunklen Gang nach dem Kinderzimmer hin. Dieser lange dunkle Gang verbindet in so vielen Berliner Wohnungen gleichsam das Vorderhaus mit dem Hinterhaus.

Vorn liegen die herrschaftlichen Räume, welche mit ihren breiten und hohen Fenstern auf die Straße schauen und deren Lärm herauf lassen, das Tuten der Autos, welches verhindert, daß sich der Weltstädter jemals, bei Tage oder in der Nacht, wirklich einsam fühlen könnte. Vorn ist die Welt der Kommunikationen, die Welt der Fassaden, welchen auch der Mensch jederzeit seine Fassade bieten muß, wenn er nicht ausgeschaltet werden will.

Rückwärts aber, am andern Ende des langen Ganges, liegen die kleineren Zimmer mit den niedrigeren und schmäleren Fenstern. Diese Fenster führen bekanntlich auf den Hof hinaus, wo die Häuser einander mit Gleichgültigkeit den starren Rücken zudrehen. In diesen Zimmern könnte man unbekümmert in Hemdsärmeln leben. Aber niemand hat das Bedürfnis danach, und so werden die Hinterzimmer, im Falle der richtigen Wohlhabenheit, am besten den Dienstboten und den Kindern zugewiesen. Die Kinder haben es dort ruhiger, und so haben auch die Eltern ihre Ruhe vor den Kindern, das heißt ihre gesicherte Unruhe, die von der Ruhe der Kinder nicht gestört wird. –

Die kleine Elvira war allein und erwartete ihr Abendbrot, das sie immer allein einnahm. »Sie nimmt es ein«, dachte Herr Ullrich, »wie eine Medizin.«

Die kleine Elvira war, als er die Türe, ohne anzuklopfen, öffnete, auf einem Stuhl gesessen, der eine Spanne weit vom Tisch weggerückt war. Sie hatte die Knie hochgezogen und die Arme darum geschlungen. Dabei brannte eine grelle elektrische Birne, welche das Leben freudlos erscheinen ließ.

Als der Vater, ungewohnterweise, in der Türe erschien, war die kleine Elvira aufgesprungen und hatte unwillkürlich eine artige Verbeugung gemacht. Die Kinder berühmter Männer, sagt Knut Hamsun, diese armen vaterlosen Waisen. So oder so ähnlich sagt er es.

Ullrich wußte davon nichts, er dachte nur: »Zehn Jahre ist sie alt und macht solche Verbeugungen! Es ist eigentlich arg, oder kommt es mir nur heute so vor? Was für ein mageres Mädchen sie ist, und so schwarz, so dunkel, so verwildert schwarz, und so kühl bei solcher Schwärze! Und wem ähnelt sie nur! Ist Elvira überhaupt mein Kind! Es wäre kein Wunder, wenn sie nicht mein Kind wäre! Jahrelang habe ich mich um die Frau nicht gekümmert! Da waren alle diese Rollen und alle diese Premieren, die Kämpfe und die Weiber! Ich war doch immer ein anderer Mensch! Ich ging, ich stürzte mich von einer Maske in die andere! Dreißig Jahre lang hat dieser Maskenball gedauert! Dieser unendliche Fasching: zu Hause habe ich immer im Frackhemd geschlafen!«

Er lachte nervös in sich hinein, das Kind beobachtete ihn aufmerksam, wie eine offizielle Persönlichkeit die andere offizielle Persönlichkeit in ihren wichtigen Darbietungen respektvoll abwartet. Die elektrische Birne blinzelte nicht, sie leuchtete schonungslos, als ob auch sie einen Frack anhätte und ein blendend weißes Vorhemd, gestärkt und ohne Bug. »Das ist ja ein diplomatischer Tee,« dachte Herr Ullrich, »und einer, der ein Leben lang dauert. Hm! Man müßte es lauter sagen: Hm, Hm!« – »Bitte?« fragte das Kind. »Bitte, Papa?« – »Da hülfe nur ein Kurzschluß!« dachte Herr Ullrich.

Und er sagte zu dem Kind: »Bekomme ich keinen Kuß, Elvira?« – »Ja, Papa.« Und Elvira streckte ihre langen mageren Arme aus, legte sie um den Kragen ihres Vaters, der sich zu ihr niedergebeugt hatte, und küßte den Charakterspieler auf die blaurasierte Wange, durch die ein plötzliches Zucken lief, wie bei einem Pferd, auf das sich eine Fliege gesetzt hat.

Das Kind beobachtete aufmerksam und mit wachen schwarzen Augen, wie bei diesem Zucken der geküßten Haut sich die tausend Falten des Schauspielergesichts blitzartig zusammenzogen zu der Fratze eines Tausendjährigen. Das Kind betrachtete mit ernster Miene und ruhevoll dieses sonderbare Schauspiel.

Elvira kannte das, sie war ja schon mehrmals im Theater gewesen, wenn Vater Premiere hatte, Mama hatte es erlaubt. –

Herr Ullrich seinerseits schielte, während er in dieser gezwungenen Umarmung stand, von der Seite her nach dem Gesicht des Kindes und sah es im Profil. »Sie sieht aus wie ein Gnu«, dachte er. »Nein, das ist nicht meine Tochter. Von wem ist sie nur?«

Und plötzlich rührte es ihn, daß Elviras Arme so federleicht waren, daß sie dem Halse des Vaters kein Gewicht aufzuladen bestrebt waren. Mit einer plötzlichen Regung von höherer Anständigkeit entzog er sich den Armen einer fremden Jungfrau. Er stand noch einen Augenblick schweigend da und hielt die Hand über seine Augen, weil die elektrische Birne ihn blendete. – »Nun, mach weiter!« sagte er dann und verließ leise das Zimmer. –

Draußen begann wieder der lange dunkle Gang, und plötzlich fiel Ullrich ein, daß hier an der Wand ein Lichtschalter war. Er griff hin, richtig, er drehte, sofort war der Gang grell beleuchtet. Am andern Ende des Ganges, wo die vornehme Zone der Wohnung begann, war dann wieder ein Schalter, um dunkel zu machen. »Wie konnte ich das nur vergessen haben«, dachte der Charakterspieler Ullrich, und er schüttelte mißbilligend seinen berühmten Kopf. –


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