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Was die herabgeminderte Temperatur zwischen ihm und den Langenbruchs, wie Ullrich das jüngere Paar nannte, betraf, so profitierte er bei den Proben davon in gewisser Hinsicht. Langenbruch hatte eine Art, dem alternden Charakterspieler auf die Füße zu blicken, wenn sie sich klein machten und demütig trippelten, daß die Füßchen unwillkürlich aus dem Takt kamen. Ullrich-Kusofkin hielt dieses Stolpern fest. –
Oder wenn die Klee, feierlich erwartet, nach langen Jahren der Kusofkinschen, insgeheim väterlichen Entbehrung ihres Liebreizes, als junge Frau Olga mit ihrem frisch geheirateten Langenbruch-Jeletzki auf dem Gutshof eintraf, wich Ullrich-Kusofkin ganz von selbst in seinen schützenden Winkel zurück.
Das ging glänzend. Der Regisseur war ganz begeistert, so daß Herr Ullrich nicht umhin konnte, ihn von oben herab eines fragenden und vornehm fernen Blicks zu würdigen. –
Sollte dagegen Kusofkin sich zitternd vor Glück seiner Tochter Olga nähern, dann schrie der Regisseur: Herr Ullrich zittere ja vor Widerwillen, und die Klee lächelte infam. –
Der Regisseur war ein kugelrunder, kurzgeschorener Mensch, elastisch wie eine Kautschukkugel und mit einer hohen quiekenden Stimme. »Dieser Kastrat macht mich nervös«, dachte Ullrich.
Es ging die Sage, daß der Regisseur im Bett zu frühstücken pflegte, indem er Kaffee und Sahne, Brötchen, Butter und Konfitüren auf seinem rechtwinklig vorspringenden Bauch verteilend anordnete. Aber wer wollte das mit eigenen Augen gesehen, wer diesem Zeremoniell eines Levers persönlich beigewohnt haben? Die Klee bestimmt, dachte Kusofkin.
Er blinzelte nach Mascha hinüber, welche schon jetzt, obwohl noch in Zivil, ganz bunt herausstaffiert war. Hatte ihm Mascha nicht erst unlängst gebeichtet, daß der Regisseur sie, um ihr von Ullrich behauptetes Talent zu prüfen, in seine Wohnung bestellt hatte und dann dort vor ihr auf seinen runden Knien herumgerutscht war, mit seinen feisten Händchen aufwartend und wedelnd, mit seinem steilen Stimmchen »Bitte, bitte!« quiekend?
Jetzt eben sprang die elastische Kugel mit einem unheimlichen, lautlosen Satz vom Parkett auf die Bühne und rollte zu Ullrich hin, um ihm etwas Demut vorzuspielen. Schade, daß das Publikum ihn niemals so zu sehen bekommt, dachte Kusofkin und wurde ganz hochmütig. –
Besonders gut gelang die große Abrechnung zwischen Kusofkin und Jeletzki. Jeletzki hielt die nur durch äußerste Demütigung erpreßte Behauptung Kusofkins, er wäre der eigentliche Vater Olgas, für das Manöver eines Erpressers, und er fand einen unglaublich schnöden Ton, um Kusofkin mit lumpigem Geld abzufinden.
»Indem Sie diese Summe annehmen«, sagte Jeletzki, »gestehen Sie Ihre Lüge ein – sagen wir: Ihre Erfindung. – Und damit entsagen Sie allen Ihren Rechten!« Kusofkin war vorher bereit gewesen, jedes Opfer zu bringen, um Olgas willen, und gern wollte er gelogen haben, denn Olga sollte nie erfahren, daß sie seine Tochter zu sein das Unglück hatte. Aber nun beginnt er sich aufzubäumen: »Ich werde nicht eine Kopeke von Ihnen nehmen.« –
Ullrich fühlte Todesschweiß auf seiner Stirn. Vor lauter Widerwillen gegen diesen Jeletzki wurde ihm übel, und er verlangte ein Glas Wasser. –
»Er steckt in keiner guten Haut,« sagte später auf dem Heimwege Langenbruch zu Johanna Klee. – Doch im Augenblick äußerte er seine unverhohlene Bewunderung, und Herr Ullrich konnte nicht verhindern, daß ihm das wohl tat. »Ich bin ein Edelmann von altem Adel,« zürnte Kusofkin; »so wie ich bin, bin ich nicht käuflich!« Und er begann zu weinen. Bitterlich weinte er und drückte die Handrücken an seine heißen, überquellenden Augen, wie ein gekränktes Kind, das vor Ehre fiebert. – Pause. Jeletzki räusperte sich.
»Fabelhaft!« schrie der Regisseur von unten her, schrill wie eine Alarmglocke, wie eine Weckuhr, deren Läutewerk abschnurrt, unbarmherzig den Schlaf der Welt zerreißend. – Aus umflorten Augen sah Ullrich, daß Mascha in der Kulisse stand und eine Stulle aß. Wieder wurde ihm übel. Man brachte einen Stuhl auf die Bühne, und er setzte sich. Ihn stieß noch der Bock von seinem konvulsivischen Schluchzen. Plötzlich war die Klee da und – irrte er nicht? Oder sah sie gerührt auf ihn nieder, auf seine noch dunklen Locken, welche bald der silbergraue Scheitel des Kusofkin bedecken würde wie Rauhreif. –
In rascher Folge kam nun der Monolog Kusofkins: »Guter Gott! Was macht man aus mir? Wahrhaftig! Lebendig begraben sein wäre besser! Ach! Und ich selbst habe mich elend gemacht. Mein Feind ist meine Zunge. Und der Herr, wie hart war er gegen mich! Wie einen Hund hat er mich behandelt! Er denkt nicht daran, daß auch ich eine Seele habe.« – »Weniger pathetisch! bitte!« schrie der Regisseur. –
Aber Ullrich hörte ihn nicht. Er war in einem zügellosen Zustande. Er überflog das Buch: »Olga kommt aus ihrem Kabinett, ein Papier in der Hand.« Und da war sie auch schon, sein Herz sprang ihr entgegen und fiel vor ihr auf die Knie. Herr Ullrich kniete. – Der Regisseur erschien auf der Bühne. »Zu früh gekniet!« fistelte er.
Der Charakterspieler Ullrich ließ die Knie der Klee nicht los, die er flehentlich umfangen hatte. »Streichen Sie alles Dazwischenliegende«, brüllte er mit purpurrotem Kopf. »Immer liegt etwas dazwischen! Streichen Sie!« Und er umklammerte die langen Beine der Klee, die unter seinem Ansturm wankten. Unwillkürlich, um sich festzuhalten, griff sie mit der rechten Hand in seine Locken.
»Verzeihung, Olga Petrowna, Verzeihung, Verzeihung!« Sie riß sich los von ihm, trat atemlos zurück und machte einen Sprung nach rückwärts im Texte. »Ich wollte Sie noch einmal sehen, Wassil Semenitsch!« – Ihre Wangen hatten sich gerötet. »Warte nur, mein Töchterchen!« dachte Herr Ullrich, »Du sollst mir noch in Stimmung kommen!« –
Nun klappte alles vorzüglich, der Regisseur rollte zurück, die Szene rollte vorwärts. Olga: »Ja, ich glaube Ihnen. Sie sind ein würdiger Mensch; ich glaube Ihnen und zum Beweise –.« Sie umarmt ihn.
Dieses, daß ihn seine Tochter umarmte, zum ersten und zum letzten Male im Leben, ihn, Kusofkin, ihn: das war der Himmel auf Erden. Welche Harmonie in dieser Umarmung. So hatte er noch keine Frau umarmt! Eine Weichheit ohnegleichen beglückte und erquickte ihn. –
Kusofkin: »Olga Petrowna, lassen Sie mich … mein Kind, Olga …« Er fällt auf einen Stuhl. Er fühlt einen Schmerz in der rechten Hüfte, und dann nimmt er mit fliegenden Händen das Papier, das Geld bedeutet, Geld, Abfindung, Abschied für ewig.
»Ach, jetzt kann ich sterben, Olga. – Olga, Olga!« – Sie trocknet ihm die Augen mit einem Zipfel ihres Taschentuches, das gut riecht. So fein riecht dieses Tuch, so weiblich! Er preßt das Tuch an die Nase, an den Mund, an die Augen. Ja, ein Traum, ein seliger Traum, der Frühling eines alten Herzens.
Und Olga sagt: »Weine doch nicht so.« Herrlicher Satz! Wie ihre Stimme zittert, Olgas Stimme, Johannas Stimme. »Man kommt. – Ihre Hand, zum letzten Male Ihre Hand!!« –
Ullrich erhob sich von seinen Knien. Er wankte, und Langenbruch, welcher eben auftrat, stützte ihn. »Diese Szene spiele ich als ein Sterbender«, erklärte Ullrich. »Ich bin verbraucht, ich habe genug gelebt, ich werde Olga nie mehr wiedersehen.« –
Und ohne Zweifel, die Klee nickt ihm zu, sie befeuchtet mit der spitzen Zunge ihre Lippen und lächelt ihm mit offenem Munde entgegen. Das hat sie schon jahrelang nicht getan.
Und Langenbruch scheint es zu bemerken. »Ja, diese alten Schinken haben es in sich!« sagt er und meint damit das Stück. Aus Eifersucht verschiebt er den Erfolg von Ullrich auf Turgeniew.
Ullrich konstatiert es mit grollender Genugtuung. »Von hier aus müssen wir jetzt auch unsere erste Szene erobern!« sagte er zur Klee. »Sie wissen, wenn ich Ihnen die Geschichte Ihrer Mutter erzähle, wie Ihr Vater sie gedemütigt hat, und wie sie mich aus Rache dann eben erst zu Ihrem Vater machte! Wir waren da unlängst zu kühl, so konventionell. Wir scheuten vor den melodramatischen Wirkungen zurück, welche wir doch ruhig riskieren können, wie wir heute gesehen haben.«
Die Klee nickte, ganz ernst geworden. »Gewiß,« bemerkte Langenbruch, »wenn man schon so einen alten Schinken spielt, dann aber auch ganz!« Und er machte eine breite Brust.